Thema

Die verborgene vierte Dimension

Normative Reflexion als Erweiterung der Theorie der Technikfolgenabschätzung

Helge Torgersen, ITA – Institut für Technikfolgen-Abschätzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Apostelgasse 23, 1030 Wien (torg@oeaw.ac.at)

Vor einem Jahrzehnt identifizierte Armin Grunwald Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug als Elemente einer zukünftigen Theorie der Technikfolgenabschätzung (TA). Angesichts der vielfältigen Herausforderungen, der starken Ausdifferenzierung und der unterschiedlichen Aufgaben stellt sich die Frage nach deren Relevanz für heutige TA. Eine Analyse von fünf exemplarischen Projekten zeigt sehr unterschiedliche Interpretationen dieser Dimensionen. Damit ergeben sich Zweifel, ob TA auf diese Weise hinreichend beschrieben werden kann. Um eine Theorie der TA zu konstituieren, so wird argumentiert, sollte als viertes Element die Auseinandersetzung mit normativen Aspekten treten.

The hidden fourth dimension

Normative reflexion as an extension for the theory of technology assessment

A decade ago, Armin Grunwald identified three elements as essential for a future theory of technology assessment (TA): assessing impacts, complying with scientific standards, and providing policy advice. However, the institutional contexts and tasks of today’s TA have diversified. Five on-going projects were assessed with regard to the three elements proposed. They appeared in some form in every project but followed diverging interpretations, which raises the question whether they suffice to constitute a theory of TA. Here I argue for a fourth dimension to be added, namely discussing the normative aspects of TA.

Keywords: technology impacts, scientific policy advice, theory of technology assessment, TA practice

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TATuP Bd. 27 Nr. 1 (2018), S. 21–27, https://doi.org/10.14512/tatup.27.1.21

Submitted: 12. 10. 2017. Peer reviewed. Accepted: 26. 01. 2018

Wozu Theorie?

Braucht Technikfolgenabschätzung (TA) Theorie? Das hängt vom Begriffsverständnis ab – für manche ist TA eine Sammlung praktischer Erhebungs- und Beratungstätigkeiten, Dienstleistung der Wissenschaft für die Politik (Weyer 1994). Andere halten TA mit ihren Methoden, Institutionen etc. für eine wissenschaftliche Unternehmung oder Interdisziplin (Kastenhofer et al. 2011), die eigenständig fundiert sein müsse.

Vor zehn Jahren stieß Armin Grunwald (2007) eine Neuauflage der Theoriediskussion an, um auf Basis der Praxis begründete Unterscheidungen einzuführen, Verbindungen zu knüpfen und ein konsistentes Begriffsgebäude aufzubauen. Mit Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug als konstitutiven Elementen wurden Untersuchungsgegenstand, Methodik und Aufgabenstellung angesprochen, Bereiche, die ohne Theorie schwer vorstellbar sind. Grunwald sah intendierte wie nicht-intendierte Folgen technischer Entwicklungen als Gegenstand der TA. Diese müssten wissenschaftlich erforscht werden, weil praktisches Erfahrungswissen fehlt. TA berät dann in technikrelevanten Entscheidungsprozessen, wobei klar zwischen Entscheidern und Betroffenen unterschieden werden kann.

Diese Konzeption, an parlamentarische TA angelehnt, wurde zuweilen als Standardmodell angesehen (Decker 2007), was angesichts der Vielfalt von TA schon damals kaum der Realität entsprach. Bereits mit der Diskussion um die TA-Einführung hatten sich unterschiedliche Spielarten etabliert, um „Beiträge zur Lösung gesellschaftlicher Problemlagen zu leisten, die Bezüge zum wissenschaftlich- technischen Wandel aufweisen“ (Dusseldorp 2014, S. 1) – ein deutlich breiteres Verständnis von TA als obiges, das expertenorientiert-dezisionistische, partizipative bzw. konstruktiv auf Technikgestaltung hin orientierte Ansätze miteinbezog. Auch die Formen der Institutionalisierung waren uneinheitlich. Solchen am Parlament standen andere in der Academia, in Verbänden und Gewerkschaften oder als frei finanzierte Think-Tanks gegenüber. Diese Ausdifferenzierung erleichterte nicht gerade das Bilden eines gemeinsamen Nenners, ebenso wenig wie der Umstand, dass „die Gesellschaft“, nicht mehr nur die Politik, zum Adressat[1] und die Organisation von Debatten zu Aufgaben wurden.[2]

Grunwald (2007) konzipierte allerdings seinen Theorie-Aufschlag bewusst weit und bezog andere Ansätze zur Interaktion von Technik und Gesellschaft ein. So sollte TA zumindest wissenschaftlich gestützt sein, auch wenn sie sich an „die Gesellschaft“ richtete. Mit derartigen Konzessionen sah er in Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug weiterhin die wesentlichen Elemente der TA. Gleichwohl erscheinen die Kriterien ansatzweise aufgeweicht und es stellt sich die Frage, wie TA von nicht-TA unterschieden werden kann. Diese Frage ist aktuell, weil die von Grunwald postulierten Elemente inzwischen jedenfalls nicht eindeutiger geworden sind.

Technik wird heute weniger isoliert, sondern vielmehr in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Kontext gesehen – Technikgestaltung erscheint in diesem Licht als Gesellschaftsgestaltung.

So ist die Bedeutung von Wissenschaftlichkeit heute vielschichtiger. Nicht zuletzt durch Verfahren der Partizipation sind die Erwartungen an TA hinsichtlich der Inklusion unterschiedlicher Wissensbestände gestiegen. Der damit einhergehende Fokus auf Interdisziplinarität (der Kooperationsdruck zwischen Disziplinen erzeugt) und Transdisziplinarität (die die Grenzen zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft unscharf werden lässt), stellt Kriterien herkömmlicher Wissenschaftlichkeit in Frage.

Auch haben sich die Zukunftsbezüge der TA-Praxis verändert. Das erfordert neue Antworten auf die damit verknüpften Formen von Nichtwissen und Ungewissheit. Technik wird weniger isoliert, sondern vielmehr in Abhängigkeit vom gesellschaftlichen Kontext gesehen – Technikgestaltung erscheint in diesem Licht als Gesellschaftsgestaltung – und geht mit einer intensiveren sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung einher. Mit den Science and Technology Studies (STS) hat sich ein interdisziplinäres Feld mit TA-ähnlichen Untersuchungsgegenständen und TA-kritischem Anspruch etabliert. Dies erfordert von TA eine ungewohnte Positionierungsarbeit, um sich in Abgrenzung und Bezugnahme zu diesem und ähnlichen Forschungsfeldern in der wissenschaftlichen Welt zu platzieren, was sich insbesondere auch in einem zunehmenden Publikationsdruck in Fachmedien manifestiert.

Auch das institutionelle und ökonomische Umfeld hat sich weiter verändert. In einer medial geprägten Umwelt müssen TA-Institutionen heute professionelle Public Relations betreiben. Außerdem sind kostendeckende feste Budgets die Ausnahme, die Drittmittelfinanzierung verlangt eine Orientierung an Ausschreibungsfestlegungen statt an den Informationsbedürfnissen politischer Institutionen. In Forschungsprogrammen spielen Ziele wie Nachhaltigkeit oder Responsible Research and Innovation (RRI) eine Rolle, also normative Vorgaben, an denen sich TA zu orientieren hat. Dabei verlangt die Offenheit dieser Vorgaben, dass TA auch ‚normative Arbeit’ leisten muss. Schließlich erfährt eine entscheidende Frage zu wenig Aufmerksamkeit, nämlich ob TA Technikfolgen bloß analysieren oder auch gesellschaftlich bewerten soll. Historisch war das oft umstritten (Petermann und Grunwald 2005) und hing nicht zuletzt von der Art der jeweiligen TA ab.

All diesen Herausforderungen sollte eine Theorie der TA Rechnung tragen. Kommt man also mit Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug aus, oder fehlt noch etwas? Eine Antwort kann wohl nur die Praxis geben. Als Auftakt für eine theoretische Reflexion sollen daher die drei Grunwaldschen Elemente anhand rezenter Projekte auf den Prüfstand gestellt werden.

Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug in der Praxis

Die jeweilige praktische Ausprägung von Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug lässt sich nur anhand konkreter Projekte untersuchen. Dem explorativen Charakter der Argumentation entsprechend wird hier keine überblicksbezogene, sondern eine exemplarische Auswahl von TA-Projekten als empirische Basis herangezogen. Diese Beispiele spiegeln die Bandbreite aktueller Aktivitäten innerhalb einer Institution wider. So wurde ein inhaltlich breites Projekt (1) mit strikter methodischer Vorgabe durch den Auftraggeber, eines (2) mit klarer Vorgabe des Gegenstandes durch den Auftraggeber (2), ein wissenschaftliches Forschungsprojekt (3) sowie je ein EU-finanziertes Projekt mit stark partizipativer Ausrichtung (4) und eines mit analytischem Fokus auf ein Policy-Problem (5) ausgewählt. Alle Projekte bewegen sich innerhalb des TA-Kanons und wurden im Jahr 2017 am ITA durchgeführt.

Projekt Nr.

1

2

3

4

5

Name

Assistive Technologien für die Inklusion von Menschen mit Behinderungen in Gesellschaft, Bildung und Arbeitsmarkt

Privatsphäre in Online-Spielen

Algorithmische Imaginationen – Visionen und Werte in der Gestaltung von Suchmaschinen

CIMULACT – BürgerInnen und Multi-Akteurs Konsultation für das europäische Forschungsförderungsprogramm Horizon 2020

PROSO – Förderung der Öffentlichkeitsbeteiligung für verantwortungsvolle Forschung und Innovation

Auftrag-/Geldgeber

Europäisches Parlament, STOA

Österreichische Arbeiterkammer

Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung

Europäische Kommission, H2020

Europäische Kommission, H2020

Dauer

02/2016 bis 04/2017

02/2017 bis 07/2017

11/2016 bis 02/2022

06/2015 bis 03/2018

01/2016 bis 02/2018

Typ

TA nach STOA-Schema

Kurzstudie

Habilitations-Stipendium

Partizipatives Agenda Setting

Implementierungshilfe

Methode

STEEPED

Literaturrecherche

Interviews, Literaturrecherche

CIVISTI-Derivat

Literaturrecherche, Interviews, Fokusgruppen

Thema

Assistive Technologien für Menschen mit Behinderungen

Datenschutz bei Onlinespielen

Visionen in der Gestaltung und Regulierung von Suchmaschinen in Europa

Forschungsziele der EU für eine wünschbare nachhaltige Zukunft

Hindernisse für Öffentlichkeitsbeteiligung im Sinne von RRI

Offizielles Hauptziel

Übersicht über das Feld

Datenschutzfragen ausleuchten

Unterschiedliche Gestaltung erklären

Forschungsprogramme mitgestalten

Partizipations-Hindernisse beseitigen

Nebenziel

Thema befördern, Input für RL-Revision

Basis für die Position der Arbeiterkammer

Habilitation, Profilierung

Propagierung von Partizipation

Propagierung von Science with and for Society

Website

https://www.oeaw.ac.at/ita/projekte/inklusion-durch-innovation/ueberblick/

https://www.oeaw.ac.at/ita/de/projekte/privatsphaere-in-online-spielen/ueberblick/

https://www.oeaw.ac.at/ita/de/projekte/algorithmische-imaginationen/ueberblick/

https://www.oeaw.ac.at/ita/de/projekte/cimulact/ueberblick/

https://www.oeaw.ac.at/ita/de/projekte/proso/ueberblick/

Tab. 1: Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug im Praxistest bei fünf ausgewählten TA-Projekten. Quelle: Eigene Darstellung

Folgenorientierung: Ziel von Projekt 1 war die Information des Europäischen Parlaments über mögliche Folgen der technischen Entwicklung assistiver Technologien für Menschen mit Behinderungen. Projekt 2 beleuchtete mit dem Datenschutz bei Onlinespielen ein bisher vernachlässigtes Problem – im Fokus standen aktuelle und zu erwartende Folgen. Projekt 3 sollte Gestaltungskräfte analysieren, die bei der Konstruktion von Suchmaschinen wirksam werden, wobei Folgen als gegeben angenommen wurden. Projekt 4 sollte die Basis für eine bedürfnisorientierte Forschungsagenda der Europäischen Kommission verbreitern, indem man auf eine wünschenswerte, nachhaltige Zukunft mit entsprechenden Folgen fokussierte. Projekt 5 sollte mögliche Hindernisse für partizipative Aktivitäten in EU-Projekten aufspüren und beseitigen, wobei Technikfolgen mitbedacht wurden, aber nicht im Vordergrund standen.

Wissenschaftlichkeit: In Projekt 1 und 2 ging es um das Zusammentragen etablierter Wissensbestände und die Abbildung von Stakeholder-Interessen. Hingegen stand in Projekt 3 der Gewinn neuer Erkenntnisse im Zentrum. In den Projekten 4 und 5 zeigten sich unterschiedliche Wissenschaftsauffassungen: Ging es in Projekt 4 um wissenschaftliche Arbeiten zur Generierung und Analyse von Visionen, hieß es bereits in der Ausschreibung zu Projekt 5, dass hier Umsetzung und nicht Forschung gefragt sei. Das war Anlass für Missverständnisse zwischen Kommission und einigen Partnern.

Beratung über Fakten und Folgen war Ziel in den Projekten 1 und 2. Projekt 1 diente einem engagierten Parlamentarier zum Agenda Setting und als Input für eine anstehende Richtlinienänderung. Aus Rücksicht auf die Entscheidungskompetenz des Parlaments sind in STOA-Projekten (Science and Technology Options Assessment) keine Empfehlungen, sondern nur neutrale Optionen gefragt – eine dezisionistisch orientierte Forderung also. In Projekt 2 wurden hingegen explizit Empfehlungen ausgesprochen. Überschneidungen mit dem Konsumentenschutzinteresse des Auftraggebers ergaben für manche ein Spannungsverhältnis zum Neutralitätsgebot. In Projekt 3 war Politikberatung lediglich Nebeneffekt, allerdings gingen einige interviewte NGOs von einem Engagement für zivilgesellschaftliche Ziele aus, wodurch das Projekt indirekt zu deren Agenda Setting beitrug. Die Projekte 4 und 5 schließlich zielten auf die Gestaltung der Forschungs-und-Entwicklungs-Politik in europäischen und nationalen Forschungsprogrammen. Das Directorate General for Research and Innovation der Europäischen Kommission (DG Research) schien aber auch interessiert an der Vermittlung der Kommissionspolitik in Sachen RRI an Stakeholder. Projekt 4 strebte Bewusstseinsförderung in den entsprechenden Zielgruppen an und vermittelte Methodenkompetenzen bei Projektpartnern. Projekt 5 beleuchtete bisher wenig beachtete Hindernisse für Partizipation und beförderte damit die RRI-Agenda.

Diese Befunde könnten Zweifel am Vorhaben aufkommen lassen, TA mittels Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug ausreichend zu charakterisieren.

Zusammenfassend erscheinen Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug in den fünf Projekten in sehr unterschiedlicher Form und Gewichtung. Folgen standen bei einigen im Zentrum, bei anderen wurden sie nur indirekt angesprochen bzw. vorausgesetzt. Das Interesse richtete sich meist auf die Gestaltung anhand von Visionen oder auf die Identifizierung von Input-Faktoren. Die Bedeutung von Wissenschaftlichkeit changierte zwischen der Generierung neuen disziplinären Wissens und der Einhaltung forschungsüblicher prozeduraler Standards. Beratungsbezug und Adressaten waren manchmal eindeutig, ein andermal unklar.

Ein konstitutives Element einiger Projekte war Partizipation. Das STOA-Projekt erforderte Stakeholder-Beteiligung, während die von DG Research finanzierten Partizipation ins Zentrum stellten: Projekt 4 erarbeitete Forschungsziele mittels eines CIVISTI-Derivats (Gudowsky und Sotoudeh 2017); in Projekt 5 wurde partizipativ über Partizipation verhandelt, der unterschiedliche Funktionen wie Kommunikation, Information, Emanzipation, Visionenerzeugung und Politikberatung zugesprochen wurden (Bauer et al. 2016).

Alle Projekte hatten die Gestaltung soziotechnischer Systeme zum Thema. Agenda Setting erfolgte nicht erst nach dem Abschluss des Projekts und in Form von Policy Briefs mit Projektergebnissen an die Adressaten, sondern fand direkt durch die Projektarbeit statt. Auffallend ist zudem die Relevanz normativer Orientierungen in allen Projekten, die sich in Zielen wie Integration von NutzerInnen mit Beeinträchtigungen (Projekt 1), Sicherung der Privatsphäre (Projekt 2), Verhinderung von Monopolen (Projekt 3), bedürfnisorientierte Forschungspolitik (Projekt 4) und Verbesserung von Partizipation (Projekt 5) ausdrücken. Allen Projekten war eine gesellschaftliche emanzipatorische Zielsetzung im Sinne des Gemeinwohls zu eigen, auch wenn diese nicht immer offen dargelegt wurde.

Theorie für welche Praxis?

„Folgen von menschlichen Entscheidungen und Handlungen im Zusammenhang mit Technik“ sind laut Grunwald (2007, S. 7, Hervorhebung im Original) Gegenstand der TA. Das lässt an Risikokontroversen denken, wo eindeutig verantwortliche Personen politische Entscheidungen zu definierten Technologien treffen, über die sich ExpertInnen widersprüchlich äußern. Der Begriff „Folge“ suggeriert Ursache-Wirkungsketten und konkrete Entscheidungsmöglichkeiten. Ob Folgen negativ oder positiv sind ist dabei Ergebnis einer interessen- und standortbedingt variablen Zuschreibung von Wünschbarkeit (Decker 2013), die TA dokumentiert, aber nicht beeinflusst.

Gerade bei neuartigen Technologien sind technische Optionen aber anfangs unabschätzbar und Entscheidungsmöglichkeiten eingeschränkt, kaum lokalisierbar, hypothetisch oder die prospektiven Akteure müssen erst Interesse entwickeln. Oft steht der Entstehungs- und Anwendungskontext einer Technologie zur Debatte, also gesellschaftliche Erwartungen und Befürchtungen. Ansprüche an Technikgestaltung betreffen somit auch gesellschaftliche Verhältnisse und Regeln. Dusseldorp (2013) fasst daher den Folgenbegriff weiter und attestiert TA eine Beschäftigung mit dem gesamten Prozess des wissenschaftlich-technischen Wandels einschließlich der gesellschaftlichen Einbettung neuer Technologien. Viele TA-Projekte behandeln dementsprechend technologische Trajektorien oder gar die Frage, wie wir in Zukunft leben wollen.

Grunwald (2007) argumentierte, dass dem Mangel an Erfahrungswissen über neue Technologien nur mithilfe wissenschaftlichen Wissens beizukommen sei. Wissenschaftlichkeit ist aber, wie bereits angedeutet, mehrdeutig geworden. Neben der Erzeugung neuen disziplinären Wissens ermöglichen Inter- und Transdisziplinarität neue Forschungsperspektiven, die in kein klassisches Schema passen (Gudowsky und Sotoudeh 2017). Reflexives Wissen wird auch in TA-Projekten gewonnen, die der Beratung oder Förderung der Debatte dienen. Hier ist disziplinäre Wissenschaftlichkeit nebensächlich. Transdisziplinäre Umgebungen stellen allerdings hohe Ansprüche an die Sicherung von Objektivität, organisiertem Skeptizismus und methodischen Prinzipien. Um Glaubwürdigkeit nach außen zu bewahren, muss TA Wissenschaftlichkeit im Sinne von Transparenz, intersubjektiver Nachvollziehbarkeit, innerer Konsistenz, Einhaltung forschungsethischer Prinzipien etc. aufrechterhalten. Die Äquidistanz des Beobachters ist auch hier nicht nur Erkenntnisinstrument, sondern Garant der Überparteilichkeit.

Insbesondere im akademischen Kontext bringt der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auch wachsenden Publikations- und Graduierungsdruck mit sich und die Frage ist, in welchem disziplinären Zusammenhang TA dem entsprechen kann. STS würde sich inhaltlich anbieten und dabei TA konzeptuell bereichern (Grunwald 2011). Manche TA-PraktikerInnen sehen die Annäherung aber skeptisch, weil das Interesse an sozialwissenschaftlichen Publikationen in Fachjournalen mit dem Fokus auf realitätsnahe Folgenforschung und konstruktive Beratung als Service für Politik und Gesellschaft kollidieren könnte.

Beratung bezieht sich bei Grunwald (2007) auf den gesellschaftlichen Bedarf an Folgenwissen, das unter den Perspektiven von Entscheidern und Betroffenen in einer öffentlichen politischen Arena verhandelt wird. Emergierende Technologien bedingen notwendigerweise unzureichendes Folgenwissen. Konzepte wie upstream engagement (Wilsdon und Willis 2004) fokussieren daher weniger auf politische Entscheidungen als auf Problembewusstsein, Stimulierung der Debatte und Gestaltung durch Involvierung von Akteuren. Oft ist der Betroffenenstatus unklar und eine Arena muss erst geschaffen bzw. Interesse generiert werden, d. h. ein Thema muss den Akteuren und der Öffentlichkeit erst zur Kenntnis gebracht werden (Bogner 2011). TA schlüpft so – gewollt oder ungewollt – in die Rolle des Agenda Setters. In einem an parlamentarischer TA orientierten Verständnis wäre aber genau das problematisch, weil als Einmischung in den politischen Prozess interpretierbar.

Die zunehmende Drittmittelabhängigkeit erfordert zudem Anpassung in Themenwahl, Arbeitsweise und Aufgabenstellung. Lag zu Zeiten großer Technikkonflikte, wie jener um Kernenergie oder landwirtschaftliche Gentechnik, der Fokus auf Risiken und Nebenfolgen, ist heute vor allem im EU-Kontext Innovationsorientierung dominant (Schomberg 2011). In forschungsfinanzierten Projekten ist der Adressat überdies unklar, Ergebnisse werden zur „Flaschenpost“ ohne direkten Anschluss an konkrete politische Entscheidungen.

Die Zurückhaltung der TA gegenüber ethischer Deliberation mag mit der Furcht zusammenhängen, dass die Behandlung von Wertfragen die für Politikberatung unabdingbare Neutralität gefährde.

Diese Befunde könnten Zweifel am Vorhaben aufkommen lassen, TA mittels Folgenorientierung, Wissenschaftlichkeit und Beratungsbezug ausreichend zu charakterisieren. Fast jede Beschäftigung mit soziotechnischen Vorhaben kann als folgenorientiert gelten, Wissenschaftlichkeit lässt sich unterschiedlich verstehen und ein Beratungsbezug für die Gesellschaft auch in öffentlicher Kommunikation sehen. Will man das Gemeinsame bzw. den Ausdruck eines Allgemeinen, den Decker (2007) postulierte, in unterschiedlichen TA-Projekten finden, sind die drei genannten Elemente zweifellos wichtig. Sie bedürfen aber, scheint es, einer weiteren Spezifikation, die sich dann abzeichnet, wenn man die normative Dimension genauer in den Blick nimmt.

Die Frage nach der Normativität

Dusseldorp (2013, S. 395) sah neben Interdisziplinarität und Zukunftsbezug die „Normativität in der Definition und Bearbeitung von Themen“ als Charakteristikum von TA. Inwieweit TA normativ sein soll ist und war allerdings umstritten, wie sich auch in den unterschiedlichen Übersetzungen für den Begriff technology assessment – als Technikbewertung bzw. Technikfolgenabschätzung – widerspiegelt. Zwar unterschied man seit jeher „negative“ von „positiven“ Effekten neuer Technologien, aber die Kriterien variierten von Fall zu Fall. In den 1980er-Jahren erschienen offen normative Kriterien wie Sozialverträglichkeit problematisch, weil kaum intersubjektiv feststellbar (van den Daele 1993). Werturteile sollten dem Parlament überlassen bleiben, hieß es, TA sich an Fakten halten und Wertfragen rational analysieren (Grunwald 1999).

Dass TA sich mit Wertfragen beschäftigen muss wurde allerdings schon früh konstatiert und in einer Richtlinie des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) festgelegt (VDI 2000). Die Behandlung ethischer Fragen im Rahmen von TA galt auch später als essentiell für die Legitimation, Konzeption, Evaluation und Normbildung (Woopen und Mertz 2014). Begriffe wie Nachhaltigkeit und RRI avancierten zu wichtigen Bewertungsgrundlagen der TA (Dusseldorp 2013). Damit erscheint einerseits die Auseinandersetzung mit normativen Aspekten im Täglichen, andererseits die normative Begründung der TA an sich als unumgänglich.

Auch der Fokus auf Partizipation verlieh normativen Aspekten größere Bedeutung, weil Laien offener wertgeleitet urteilen können als Experten (Bogner 2011). Das wurde als Einladung verstanden, Normativität in Beteiligungsverfahren auszulagern: Ott und Skorupinski (2000) forderten, dass in jeder TA Laien beteiligt werden müssen, um den normativen Rahmen festzulegen. Die Auslagerung an Laienbeteiligung findet aber pragmatische Grenzen, wo ethische Fragen nicht virulent werden, sondern im business as usual untergehen (Grunwald 2000).

Die Zurückhaltung der TA gegenüber ethischer Deliberation mag mit der Furcht zusammenhängen, dass die Behandlung von Wertfragen die für Politikberatung unabdingbare Neutralität gefährde. Mancher Kritik, die TA normative Blindheit nachsagt und RRI als ethisch orientierte Alternative konzipiert (van Lente et al. 2017), unterstellt aber eine zu dezisionistische Vorstellung von TA. Auch wenn TA-Institutionen Wertneutralität postulieren, lassen Vielfältigkeit und der Fokus auf Gestaltung und partizipative Erarbeitung wünschbarer Zukünfte den Vorwurf allgemeiner Werteabstinenz unhaltbar erscheinen (Nentwich 2017).

TA verteidigt Grundrechte und Interessen der Allgemeinheit gegenüber Partialinteressen.

Kritik verdient allerdings die Scheu vor Ethik als Teil des Handwerkszeugs. Normative Setzungen, die jeder TA-Praxis zugrunde liegen, erscheinen oft als business as usual und verweisen damit auf akzeptierte gesellschaftliche Normen und Werte, die nicht jedes Mal aufs Neue verhandelt werden können (Grunwald 2013). Dieser implizite Wertekanon zeigt sich in der Praxis in einer gewissen Bandbreite, wie ein Blick auf die normativen Orientierungen der Beispielprojekte nahelegt (Tab. 2).

Auch wenn die Vorhaben unterschiedliche Aspekte berühren, so ist deren normative Ausrichtung doch ähnlich: TA verteidigt Grundrechte und Interessen der Allgemeinheit gegenüber Partialinteressen. Ansatzpunkte sind Werte der Nachhaltigkeit, sozialer Ausgleich und gerechte Verteilung von Risiken und Chancen sowie der Vorrang von gesellschaftlichen Problemen vor rein ökonomischen. Ein wichtiger Aspekt ist Emanzipation und Empowerment, d. h. das Bestreben, jenen eine Stimme zu geben, die in soziotechnischen Fragen ungehört bleiben. Systematische Analysen würden vermutlich eine Orientierung an unterschiedlichen Gemeinwohlaspekten ergeben.

Projekt

1

2

3

4

5

Ziel im Sinne des Gemeinwohls

Technik zur Inklusion von Menschen mit Behinderungen

Verletzung der Privatsphäre verhindern

Emanzipation europäischer Suchmaschinenentwickler

Demokratisierung der Forschungsagenda

Öffentlichkeitsbeteiligung fördern

Normative Orientierung

Inklusion

Grundrechteschutz

Monopolbekämpfung

RRI

RRI

Tab. 2: Gemeinwohlziele und normative Orientierungen in fünf ITA-Projekten. Quelle: Eigene Darstellung

Diese Orientierungen sind zu reflektieren, will man TA angemessen beschreiben. Für eine Theorie der TA erscheint daher neben den drei von Grunwald (2007) postulierten Elementen der Blick auf die normative Dimension essentiell. Statt eines pragmatischen Zugangs sollte daher eine Diskussion über normative Elemente in der TA intensiviert werden. Eine mögliche Vorgangsweise wäre etwa, normative Konzepte, die in der Geschichte der TA eine Rolle gespielt haben oder immer noch spielen, einer Neubewertung zu unterziehen. Auch könnten, um der Forderung nach Praxisnähe zu entsprechen, empirische Untersuchungen über normativ konnotierte Entscheidungspunkte in bereits durchgeführten TA-Projekten Aufschlüsse ergeben. Schließlich könnte in zukünftigen Projekten ein eigener Teil sich mit normativen Fragen beschäftigen. Aus derartigen Bausteinen ließen sich dann Anhaltspunkte für die Entwicklung einer TA-Theorie aus der Praxis gewinnen, die sich nicht mehr dem Vorwurf aussetzen lassen muss, normativ blind zu sein.

Footnotes

[2] Selbstbeschreibung des Rathenau Instituts, https://www.rathenau.nl/nl/overons/over-ons

Literatur

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Bogner, Alexander (2011): Die Ethisierung von Technikkonflikten. Studien zum Geltungswandel des Dissenses. Weilerswist: Verlag Velbrück Wissenschaft.

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Grunwald, Armin (2007): Auf dem Weg zu einer Theorie der Technikfolgenabschätzung. der Einstieg. In: TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis 16 (1), S. 34–44. Online verfügbar unter http://www.tatup-journal.de/downloads/2007/tatup071.pdf, zuletzt geprüft am 15. 02. 2018.

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Weyer, Johannes (Hg.) (1994): Theorie und Praktiken der Technikfolgenabschätzung. Wien: Profil Verlag.

Wilsdon, James; Willis, Rebecca (2004): See-through science. Why public engagement needs to move upstream. Project Report, London: Demos.

Woopen, Christiane; Mertz, Marcel (2014): Ethik in der Technikfolgenabschätzung. Vier unverzichtbare Funktionen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (6–7). Online verfügbar unter http://www.bpb.de/apuz/177771/ethik-in-der-technikfolgenabschaetzung?p=all, zuletzt geprüft am 22. 12. 2017.

Autor

Dr. Helge Torgersen

arbeitet seit 1990 am Institut für Technikfolgen-Abschätzung (ITA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, zuvor war er in der molekularbiologischen Forschung an der Universität Wien tätig. Hauptinteressen sind Biotechnologiepolitik, Risikoabschätzung, öffentliche Wahrnehmung und Kommunikation neuer Technologien.