STS und TA - programmatische Annäherungen? Bericht vom 34. Annual Meeting der Society for the Social Study of Science (Washington DC, USA, 28.-31. Oktober 2009)

Tagungsberichte

STS und TA – programmatische Annäherungen?

Bericht vom 34. Annual Meeting der Society for the Social Study of Science
Washington DC, USA, 28.–31. Oktober 2009

von Armin Grunwald, ITAS

In der internationalen STS-Community, also bei denjenigen, die zu Fragen von Wissenschaft und Technologie in der Gesellschaft forschen, gab es seither eher wenige Berührungspunkte zur Technikfolgenabschätzung. Dieser Tagungsbericht zeigt, dass sich dies derzeit ändert und TA eine zunehmend wichtige Rolle in der STS-Forschung spielen könnte, folgt man den thematischen Inputs und Diskussionspunkten, die auf der Session „Renaissance of Technology Assessment“ angesprochen wurden.

1     Allgemeine Bemerkungen zur 4S-Konferenz

Die 4S-Konferenz wird jährlich von der „Society for the Social Study of Science” (4S) durchgeführt. Sie stellt die weltweit zentrale Veranstaltung der STS-Community („Science & Technology in Society“) dar. Aufgrund ihrer Größe[1] bietet sie die Möglichkeit, das gesamte Spektrum der STS und die jeweils aktuellen Entwicklungen kennen zu lernen. Die diesjährige Konferenz – die 34. ihrer Art – fand vom 28. bis 31. Oktober in Washington D.C. statt. Neben sehr gut besuchten Sektionen zu den zentralen STS-Themen waren andere Sektionen hochspezialisierten Themen gewidmet und entsprechend von nur wenigen Interessierten besucht. Die ca. 1.000 Teilnehmer kamen zum weit überwiegenden Teil aus den USA (ca. 60 bis 70 Prozent) und Europa, während andere Weltregionen kaum vertreten waren. Aus Europa stellten Großbritannien, die Niederlande und Skandinavien die größte Teilnehmerzahl, während Ost- und Südeuropa praktisch fehlten. Teilnehmer aus Deutschland waren dünn gesät.

Der Tagungsbericht beschränkt sich auf Sektionen mit klarer Nähe zur TA. Dies ist primär die Sektion „Renaissance of Technology Assessment“ (Nummer 51 im Konferenzprogramm), die von Arie Rip und mir organisiert worden war (Teil 2). Weiterhin fand eine Sektion zur möglichen Wiedereinrichtung des OTA am amerikanischen Kongress statt. Schließlich werden kurz einige weitere Aktivitäten auf der 4S oder im Umfeld beschrieben (Teil 3).

2     Renaissance der TA

Zugrunde lag die Beobachtung, dass nach einer Krise der TA (die z. B. in Deutschland u. a. mit der Schließung der TA-Akademie in Stuttgart verbunden war) seit einigen Jahren ein verstärktes Interesse an TA auf mehreren Ebenen zu beobachten ist. Dieses zeigt sich in folgenden Aspekten:

Das Ziel dieser Sektion war es, vor diesem Hintergrund aktuelle Entwicklungen in der TA und aus verwandten Bereichen zu betrachten, die These einer Renaissance der TA zu prüfen, sie ggf. zu konkretisieren und Perspektiven für die weitere Entwicklung der TA zumindest anzudeuten. Die Sektion, für die zwei Stunden Zeit vorgesehen waren, wurde von fünf Referenten aus Europa und Japan bestritten, gefolgt von einem Kommentar von Dan Sarewitz aus den USA. Die Teilnehmerzahl von ca. 30 bis 40 bewegte sich im Vergleich zu anderen Sektionen im mittleren Feld. Es fiel auf, dass keiner der Referenten aus den USA kam, und dies wurde durchaus als bezeichnend für die Rolle von TA in den Vereinigten Staaten angesehen.

Adrian Smith und Andy Stirling vom SPRU (Science and Technology Policy Research Unit) der Universität Sussex bezogen sich in ihrem Vortrag „Technology Assessment and Transition Analysis“ auf Bestrebungen zur Umstrukturierung der Wirtschaft in Großbritannien in Richtung einer „Low Carbon Economy“. Der Schwerpunkt von TA in solchen Transformationsprozessen liege nicht darin, die Einbettung neuer Technologien in die Gesellschaft zu untersuchen, sondern darauf zu schauen, in welcher Weise diese Technologien (z. B. Infrastrukturtechnologien) Gesellschaft prägen und transformieren und wie diese komplexen soziotechnischen Gefüge „von innen“ verändert werden könnten.

John Grin (Universität Amsterdam) ging in dem Vortrag „Reflexive design – a novel challenge for TA and STS“ von früheren Überlegungen von Ruud Smits zur TA aus, der in den 1990er Jahren gefordert hatte, dass TA die Rolle eines „tracker dogs“ statt eines „watch dogs“ übernehmen solle. TA sei dieser Forderung in Vielem gefolgt, so Grin, die Ergebnisse seien aber eher enttäuschend. Demzufolge sei die Entwicklung eines weiteren Typs von TA erforderlich, der die reale Welt der Akteure und insbesondere die Machtverhältnisse weit stärker in den Blick nehmen müsse. Die Zuhilfenahme eines „reflexiven Designs“ von Technik – dies wurde am Beispiel der Telemedizin erläutert – könne dazu beitragen, Widerstände von Akteuren bzw. simple Trägheit zu vermeiden oder zu überwinden.

Die damit bereits hergestellte Verbindung zwischen TA und Governance wurde von Stefan Kuhlmann (University of Twente) in seinem Vortrag „A theory of TA in innovation systems“ fortgeführt. Darin wurde die Idee einer „Renaissance der TA“ explizit aufgenommen und unterstützt; dies geschah unter Verweis auf drei Entwicklungen: (1) das Aufkommen der „new and emerging science and technology“ (NEST), (2) die Notwendigkeit, mit innovativer Technik und entsprechender Gestaltung zur Bewältigung der großen Herausforderungen (Klima, Entwicklung, Gesundheit etc.) beizutragen und (3) die erfolgreiche Arbeit der TA-Community daran, mit dem Collingridge-Dilemma konstruktiv umzugehen. Statt „Renaissance“ würde er jedoch lieber von „Reformation“ sprechen, da TA sich stärker auf „Science, Technology and Innovation Studies“ (STIS) sowie auf „Governance Studies“ stützen solle.

Lars Klüver (Danish Board of Technology) stellte die Idee und die Erfahrungen mit dem WWViews-Projekt vor, in dem es um eine weltweite Bürgerbeteiligung zum Klimawandel geht. In seinem Vortrag „World Wide Views on Global Warming. Global Citizen Consultation – Global TA“ schilderte er Ziele, Ablauf und bisherige Ergebnisse dieses Verfahrens, in dem 44 Bürgerkonferenzen mit je ca. 100 Teilnehmern in 38 Ländern aus allen Weltregionen stattgefunden haben. Dieses Projekt nahm er als Anlass, transnationale und globale TA zu diskutieren. Es gäbe auf der globalen Ebene einerseits ein institutionelles Vakuum, so dass TA dort bislang keinen genuinen Adressaten habe, und andererseits auch keine Öffentlichkeit. Angesichts dieser Situation sei das Projekt als ein exploratives Experiment zu betrachten.

Tatsujiro Suzuki (Universität Tokio, gemeinsames Paper mit Go Yoshizawa und Hideaki Shiroyama) berichtete aus einem weit fortgeschrittenen und ambitionierten Projekt aus Japan, in dem es um die Bedingungen und Möglichkeiten der Institutionalisierung von TA geht. Ausgangspunkt des Vortrags „Technology Assessment in Japan: Experiences and Future Prospects for Institutionalization“ war die Frage, warum eine solche TA – trotz mehrerer Anläufe – bislang nicht gelungen sei. Die Antworten darauf wurden im Projekt in ein konzeptionelles Muster für TA übersetzt, das in einem weiteren Anlauf dann zum Erfolg führen soll. Dieses Muster wurde als „dritte Generation“ der TA bezeichnet, nach der US-amerikanischen ersten und der europäisch geprägten zweiten Generation. Charakteristisch für die dritte Generation seien die Rückkopplungsprozesse zwischen den Phasen des Agenda-Settings, des eigentlichen Assessments (auf das man in Japan bislang ausschließlich geschaut habe) und des „Impacts“ der TA bei ihren Adressaten.

Insgesamt kann festgehalten werden, dassGovernance-Aspekte in das Zentrum der Überlegungen zur weiteren Entwicklung der TA geraten sind. Dies zeigt sich insbesondere im „Transition Management“, das in den letzten Jahren in den theoretischen und konzeptionellen Überlegungen zur TA eher zugunsten der emergierenden Technologien (wie z. B. Nanotechnologie) vernachlässigt worden ist. Auch die Überwindung der traditionellen Orientierung der TA an nationalen Entscheidersystemen und Öffentlichkeiten ist mit komplexen Governance-Problemen konfrontiert. Gezeigt hat sich aber auch zum wiederholten Male, dass die „Ränder“ der TA, also auch ihre Einheit, eher unscharf sind. Dies betrifft das Verhältnis zur Governance-Forschung genauso wie zum Feld der STS / STIS.

3     Beobachtungen aus weiteren TA-relevanten Sektionen

Im Rahmen einer (ausgesprochen schlecht besuchten) Mittags-Session fand eine Podiumsdiskussion über eine mögliche Wiedereinsetzung des OTA (Office of Technology Assessment) am US-Kongress statt. Beteiligt waren Gerald Epstein (Publizist), David Goldston, Todd La-Porte, Kathleen Vogel (alle Wissenschaftler mit TA / STS-Bezug) und Will O’Neal (aus der Administration des Kongresses).

Das für Gründung und Betrieb des OTA entscheidende Gesetz, der Technology Assessment Act von 1972, ist nach wie vor in Kraft. Die Schließung des OTA 1995 wurde nicht durch eine Gesetzesänderung, sondern einfach durch Entzug des Budgets vollzogen. Virtuell besteht das OTA daher weiter. Vor diesem Hintergrund wurde auf dem Podium als geeigneter Weg für eine Wiedereinsetzung des OTA gesehen, wieder ein Budget durch den Kongress bereitzustellen. Bereits die Bewilligung eines Budgets sei ein sehr komplexer Prozess und in Zeiten der Wirtschaftskrise schwer zu bewerkstelligen. Ein neues Gesetz über ein „modernisiertes“ OTA sei völlig unrealistisch.

Ein solches Vorgehen würde jedoch implizieren, das OTA mit seinen Aufgaben und Strukturen identisch zu der früheren Form nach Maßgabe des Technology Assessment Act von 1972 wiedereinzuführen. Dass sich seitdem extrem viel geändert habe, sowohl in der gesellschaftlichen und politischen Umwelt der TA als auch in ihr selbst, könnte auf diese Weise wiederum nur schlecht berücksichtigt werden. Die Podiumsteilnehmer wirkten wenig begeistert und inspiriert. Selbst die zentrale Frage, warum denn eine Wiedereinsetzung des OTA sinnvoll und nötig sei und welche bestehenden Lücken dadurch geschlossen werden sollten, konnte nicht recht beantwortet werden, obwohl alle Teilnehmer sich für eine Wiedereinsetzung aussprachen. Dementsprechend hinterließ diese Podiumsdiskussion keinen für das OTA sehr optimistisch stimmenden Eindruck.

Am Woodrow Wilson International Center for Scholars fand (außerhalb des Konferenzprogramms, aber unter Beteiligung einiger Konferenzteilnehmer) eine Diskussionsveranstaltung zum Thema „Taking Collective Imaginations Seriously – What shapes and drives R&D and innovation in converging technologies?“ statt. Als Referenten waren Sheila Jasanoff und Brian Wynne geladen. Entgegen dem Titel ging es so gut wie gar nicht um Converging Technologies, sondern um generelle Fragen im Umgang mit neuen Technologien. Brian Wynne thematisierte in glänzender Klarheit die Grenzen des Risk Assessment. Nicht die Risikoabschätzungen hätten zur Ablehnung gentechnisch veränderter Nahrungsmittel geführt. Vielmehr sei die Ursache die Erwartung, dass mit dem Eintreten nicht intendierter und unvorhergesehener, vielleicht unvorhersehbarer Folgen zu rechnen wäre, für die niemand Verantwortung zu übernehmen bereit wäre. Für die Ablehnung sei also primär das Misstrauen in Institutionen verantwortlich, mit dieser Situation adäquat und verantwortlich umzugehen.

Sheila Jasanoff thematisierte unhinterfragte und vielfach implizite Bilder und Hintergrundüberzeugungen („imaginations“) und zeigte an Beispielen, wie diese die Art und Weise und auch das Ergebnis von Einschätzungen und Entscheidungen prägen. So zitierte sie aus wissenschaftlichen Arbeiten über Afrika und zeigte, wie sehr traditionelle Vorstellungen von Afrika, die bis in die Kolonialzeit zurückreichen, auch noch heutige Einschätzungen prägen, die unter dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit erhoben werden. Aus diesen Beobachtungen resultierte die Forderung nach Explizierung und „Dekonstruktion“ derartiger Hintergrundüberzeugungen.

Unter den vielen – auch unter TA-Aspekten relevanten Sektionen – möchte ich die von Daniel Barben und David Guston organisierte, sehr gut besuchte Sektion „Reflexive and Anticipatory Governance of Science and Technology: What’s new in Assessing and Shaping Innovation-Based Futures“ hervorheben. Bereits dem Titel nach ist die Nähe zur TA offensichtlich und wurde auch von mehreren Referenten angesprochen, darunter Arie Rip, Sheila Jasanoff, Andrew Stirling, David Guston und Cynthia Selin. Letztlich jedoch wurde deutlich, dass es schwierig ist, das „new“ im Titel mit Substanz zu füllen, und dass STS durchaus auf der Suche nach einer größeren praktischen Wirksamkeit ist (s. u.).

4     Abschließende Bemerkungen

Insgesamt war der Anteil der TA-nahen Themen im Spektrum der 4S ausgesprochen hoch. Während STS als eine eher distanzierte Beobachtung der Rolle von Wissenschaft und Technik gestartet war, scheint sich hier ein Wandel abzuzeichnen. Mehrfach wurde an prominenter Stelle ein Gestaltungsanspruch, gar ein politischer Anspruch angemeldet: Die Ergebnisse der STS sollten verstärkt Eingang finden in die Gestaltung von Wissenschaft und Technik. Die Nähe zur TA, insbesondere zur Constructive TA, ist klar erkennbar. Hierdurch verändert sich für TA der wissenschaftliche Kontext: Es entstehen neue Kooperationsmöglichkeiten, aber auch möglicherweise Konkurrenzen. Ulrike Felt betonte ersteres, weil ihrer Meinung nach durch die unterschiedliche Biographie und die verschiedenen Ausgangslagen von TA und STS gewährleistet sei, dass TA und STS auch im Falle einer Annäherung der Ziele unterschiedliche Perspektiven beibehalten würden. Dies gilt es in der weiteren Diskussion im Blick zu behalten.

Anmerkung

[1]  In ca. 150 Sektionen, von denen jeweils ca. 20 parallel stattfanden, wurden ungefähr 800 Vorträge gehalten; vgl. http://4sonline.org/4S_Program2009_lg.pdf.