R. Kollek, Th. Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests

Rezensionen

Gendiagnostik als Bürgerpflicht?

R. Kollek, Th. Lemke: Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, 2008, 372 S., ISBN 978-3-593-38776-5, € 34,90

Rezension von Arnold Sauter, ITAS / TAB

Wer seine genetischen Analysedaten ins Internet zur freien Erforschung (und sonstigen Verwendung) stellt, erhält Nachlass bei den Versicherungsbeiträgen oder eine bevorzugte Behandlung im Krankheitsfall als Belohnung. Diese Ideen stammen nicht aus einem Schreckensszenario von Gentechnikskeptikern, sondern aus einem Editorial mit dem Titel „DNA confidential“ der führenden Fachzeitschrift „Nature Biotechnology“ (September 2009). Die Szenarien und Dynamiken der weiteren Entwicklung genetischer Testangebote und ihrer gesellschaftlichen Implikationen, die Regine Kollek und Thomas Lemke in ihrem Buch ableiten, sind demgegenüber zwar deutlich zurückhaltender, belegen aber dennoch die mögliche zukünftige Bedeutung des Themas für das deutsche Gesundheitssystem.

1     Prädiktive Gentests als Leitvision der Genomforschung

Seit Beginn der systematischen Genomerforschung Ende der 1980er Jahre bilden „prädiktive“, d. h. vorhersagende Genanalysen das zentrale Zukunftsbild der medizinisch und gesellschaftlich sinnvollen Anwendung: Aus der Analyse der individuellen Erbanlagen sollen belastbare Informationen über zukünftig zu erwartende persönliche gesundheitliche Probleme resultieren, die dann für eine gezielte präventive Reaktion genutzt werden können. Das Thema „prädiktive genetische Diagnostik“ an sich ist also nicht neu, sondern wird seit Jahren in medizinischen, sozialwissenschaftlichen, bioethischen und politischen Debatten und Untersuchungen immer wieder behandelt. Die Befürchtung, dass genetische Tests in unangemessener Weise Verbreitung finden und ohne notwendige medizinische und psychosoziale Qualitätssicherung angewendet werden, bildet auch eines der Hauptmotive des am 31. Juli 2009 verkündeten Gendiagnostikgesetzes, das prädiktive genetische Untersuchungen in Deutschland unter einen Arztvorbehalt stellt und eine Beratung sowohl vor als auch nach der Testdurchführung verlangt. Eine solche, im internationalen Vergleich eher restriktive Regelung hatte auch der Auftraggeber der Studie von Kollek und Lemke, der Bundesverband der AOK, in seinen zehn Standpunkten zur Gendiagnostik im Herbst 2007 gefordert.

2     Anspruch und Ausgangspunkt der Untersuchung

Was unterscheidet die Monographie von Kollek und Lemke von anderen Untersuchungen zu den heutigen und absehbaren Möglichkeiten der genetischen Diagnostik? Es ist der fokussierte, aber umfassende Blick auf die Konsequenzen prädiktiver genetischer Diagnostik für Betroffene einschließlich der Bewertung des neuen Risikostatus der symptomlosen genetischen „Risikopersonen“ (noch nicht, aber vielleicht später einmal Erkrankte) in Gesundheitswesen und Gesellschaft, die nach Einschätzung der Autoren erst ansatzweise untersucht seien (S. 17). Es geht ihnen um eine Analyse der „Koproduktion von Technik und Gesellschaft“, denn die individuellen Konsequenzen prädiktiver genetischer Diagnostik werden „nicht nur von den Charakteristika der Tests und der Krankheit“ beeinflusst, sondern „auch von den sozialen Beziehungen und Lebensumständen der getesteten Personen sowie der gesellschaftlichen Konstellation, in der die Testpraxis angesiedelt ist“ (S. 26). Hierzu haben die beiden Autoren eine beeindruckende Fülle von Quellen ausgewertet, die sich in 320 Seiten Text und einem fünfzigseitigen Literaturverzeichnis niederschlagen.

Kapitel 2 befasst sich mit den „Voraussetzungen, Möglichkeiten und Grenzen der Vorhersage gesundheitlicher Risiken“. Als fundamentale Unterscheidung wird die Prädiktion von der Prognose abgegrenzt (S. 36ff.): Während sich Prognosen als die Vorhersage eines konkreten Krankheitsverlaufs an die Diagnose einer Erkrankung anschließen, bezeichnet Prädiktion die Vorhersage einer Erkrankungswahrscheinlichkeit, ohne dass es Anzeichen für den Ausbruch dieser Krankheit gibt und ohne dass dieser überhaupt eintreten muss. Prädiktive Gen- und sonstige Tests ermitteln also ein Erkrankungsrisiko, meist ohne eine individuelle Prognose abgeben zu können, ob ein Mensch tatsächlich erkranken wird. Lediglich dann, wenn bekannt ist, dass die ermittelte genetische Disposition zu 100 Prozent zur Erkrankung führt (wie im auch von Kollek und Lemke immer wieder herangezogenen Fall der Chorea Huntington[1]), stellt die Prädiktion auch eine konkrete Prognose dar. Kollek und Lemke unterscheiden dementsprechend prädiktiv-deterministische und prädiktiv-probabilistische Tests (S. 42).

An dieser Stelle muss auf das einzige größere, vermeidbare Manko des Buchs hingewiesen werden: Die Autoren haben es versäumt, gründlicher und für Fachfernere verständlicher darzustellen, woher die Risikoberechnungen und -prognosen der zur Zeit verwendeten Gentests stammen und wie sie sich unterscheiden.

Es wäre zwar aufwendig, aber durchaus möglich gewesen, eine Unterteilung der prädiktivprobabilistischen Gentests vorzunehmen nach Belastbarkeit und Aussagekraft, nach Höhe des genetischen Anteils an einem Erkrankungsgeschehen sowie dem derzeit testbaren Anteil hieran, und das Ganze am besten noch differenziert nach Schwere der Erkrankung. Ansätze einer Kategorisierung tauchen zwar an verschiedenen Stellen der Studie auf, aber meist in einem komplexen inhaltlichen Zusammenhang und ohne Möglichkeit, sich an zentraler Stelle noch einmal die Charakteristika der verschiedenen Testkategorien in Erinnerung zu rufen.

Ansonsten ist Informationsmangel absolut kein Merkmal der Studie. Schon auf den 40 Seiten des einführenden Kapitels arbeiten die beiden Autoren ein anspruchsvolles inhaltliches Programm ab: einen spannenden medizinhistorischen Parforceritt durch die Entwicklung der Konzepte von Krankheitsursachen und -statistiken seit dem 19. Jahrhundert (Kap. 2.1); die o. g Unterscheidung von Prognose und Prädiktion (Kap. 2.2), wobei neben genetischen Komponenten auch Lebensstilfaktoren behandelt werden; eine Diskussion der Rolle, die prädiktive genetische Diagnostik für die Krankheitsprävention spielen kann (oder könnte) (Kap. 2.3); sowie eine konzentrierte Darstellung von Positionen zum Status genetischer Informationen zwischen Exzeptionalismus und Generalismus (Kap. 2.4), ohne die nach Meinung der Autoren „die gesellschaftliche Kontroverse um die individuelle und gesundheitspolitische Bedeutung“ des Themas kaum zu verstehen sei (S. 31).

3     Direkte Folgen für die Betroffenen

Kapitel 3 bildet in gewisser Weise das Herzstück des Buchs, indem es nach den Folgen prädiktiver genetischer Diagnostik für die Nutzer fragt – eine Perspektive, die trotz verbreiteter Individualisierungsrhetorik bei vielen Untersuchungen zum Thema nicht konsequent eingenommen wird. Dies ist wohl auch ein Grund, warum Kollek und Lemke feststellen mussten, dass die empirische Daten- und damit Wissensbasis noch ziemlich dünn und in vieler Hinsicht unergiebig ist. So beträfen die meisten Publikationen Tests auf schwerwiegende Erkrankungen mit hoher bis nahezu hundertprozentiger Wahrscheinlichkeit, d. h. konkret Chorea Huntington und familiären Brustkrebs. Es sei aber sehr schwer, hieraus allgemeine Aussagen abzuleiten (v. a. für probabilistische Gentests multifaktorieller Krankheiten).

Kollek und Lemke fassen die vorliegenden empirischen Untersuchungen äußerst kenntnisreich zusammen. Bei den deterministischen, fatalen Vorhersagen zu Huntington gehe es vor allem um die psychischen Reaktionen auf das Testergebnis bzw. den Umgang mit der Testmöglichkeit in betroffenen Familien. Die höchst bedrohliche und schwere Erkrankung ist die wohl am intensivste untersuchte. Dabei zeigten sich manche auf den ersten Eindruck überraschende Befunde, z. B. dass aufgrund der familiären Schicksalsverbundenheit auch ein negativer Gentest, der eigentlich eine Entlastung des Betreffenden bedeuten sollte, aus Solidarität und Identifikation mit Geschwistern zumindest vorübergehend negative Gefühle des ungerechten Glücks („survivor’s guilt”) hervorrufen könne. Zu den probabilistischen Gentests multifaktorieller Krankheiten (Diabetes Typ 2, Asthma, Parkinson u. ä.) gibt es hingegen wenig zu berichten, sodass das Fazit von Kollek und Lemke lautet: „Verallgemeinernde Aussagen über die psychosozialen Implikationen prädiktiver genetischer Tests sind kaum möglich; jeder Fall muss detailliert untersucht und bewertet werden.“ (S. 88)

Ein ähnlich unscharfes Bild ergibt sich bei der Frage nach dem Einfluss prädiktiver genetischer Diagnostik auf das Gesundheitsverhalten, also die Handlungsrelevanz (S. 88f.). Aus den wenigen vorliegenden Untersuchungen stammt der Hinweis, dass eine Klassifizierung als „genetisch bedingt“ keine sehr große Wirkung in Richtung Verhaltensänderung habe, sondern eher das Vertrauen in eine medikamentöse Intervention stärke. Diese sicherlich durch zukünftige Studien zu verfolgende interessante Fährte wird anhand des Beispiels der familiäre Hypercholesterinämie belegt, die zusammen mit Thrombophilie und Alzheimer-Demenz von Kollek und Lemke detailliert behandelt werden. Aus den drei Beispielen leiten die Autoren einen Klassifizierungsvorschlagab: einerseits nach dem Aufwand der Überwachungs- und sonstigen Präventionsmaßnahmen (Verhalten und Medikation), die als Reaktion auf einen positiven Gentest ergriffen werden müssen bzw. können, und andererseits nach der Effizienz dieser Maßnahmen zur Verhinderung des Krankheitsausbruchs (zusammengefasst als „control“ und „efficiency“). Ausgerechnet die ungünstigste Kombination („high control-low efficiency“) korreliert nach Einschätzung von Kollek und Lemke mit den probabilistischen Gentests multifaktorieller Krankheiten und werde von bisherigen Untersuchungen praktisch nicht erfasst (S. 112).

Die abschließenden Hypothesen zu den psychosozialen Implikationen prädiktiver genetischer Tests spiegeln notwendigerweise die Begrenztheit des Wissens und Probleme der Verallgemeinerung wider. Eine Systematik ergibt sich daher nicht, die resümierende Liste (S. 113ff.) repräsentiert eher eine Zusammenstellung plausibler Annahmen, die nur zum Teil empirisch unterfüttert sind. Darunter finden sich Hinweise auf drohende Missverständnisse (falsche Entwarnung bei negativem Gentest auf multifaktorielle Erkrankungen), aber auch auf eine vorwiegend nüchterne, realistische Einschätzung gerade bei den probabilistischen Gentests, wenn die Betroffenen gut informiert werden.

4     Dimensionen der gesellschaftlichen Genetifizierung

In Kapitel 4 zeichnen die Autoren die Ausweitung des Krankheitsbegriffs und die wachsende Relevanz genetischen Wissens für medizinische und gesellschaftliche Deutungsmuster, Klassifikationsmodelle und Wahrnehmungsstrukturen nach – ein Prozess, der häufig (und in Deutschland besonders prominent von Thomas Lemke) unter dem Stichwort der „Genetifizierung“ diskutiert wird (S. 26). Unterschieden werden dabei drei Ebenen: eine konzeptionell-theoretische, eine medizinisch-praktische und eine politisch-institutionelle.

In nüchterner und dadurch umso erhellenderer Weise werden die Unzulänglichkeiten, Unschärfen und teils offensichtlichen Widersprüche molekulargenetisch unterfütterter Krankheits- bzw. Risikokonzepte vorgeführt. Freigelegt wird u. a. die Dethematisierung sozialer und ökologischer Risiken durch die Fokussierung auf die persönlichen Krankheitsanfälligkeiten (S. 159) – wobei das Paradox der neuen „individuellen genetischen“ Risiken darin bestehe, dass deren Konstruktion ja auf Basis einer kollektiven Betrachtung erfolge und eigentlich auch nur dafür sinnvolle Aussagen zulasse, nicht aber für den Einzelnen.

Die Frage von Kollek und Lemke nach den Auswirkungen prädiktiver Gentests auf Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen ist eher eine nach den Wechselwirkungen, denn sie wird in beide Richtungen verfolgt: Gefragt wird auch danach, wie Familienmodelle und Partnerschaftskonzepte die Nachfrage nach prädiktivem Wissens bestimmen. Belegt wird u. a., dass eine Testung von Minderjährigen, die von medizinischen Gesellschaften praktisch unisono als unvertretbar bewertet wird (wenn die Krankheit erst im Erwachsenenalter auftritt und keine sinnvolle Prävention vorher möglich ist), in der Lebenswirklichkeit betroffener Huntingtonfamilien und auch aus Sicht behandelnder Ärzte zum Teil anders gesehen wird (S. 169ff.).

Kapitel 5 ergänzt das Bild der Auswirkungen prädiktiver genetischer Diagnostik auf drei weiteren Ebenen: einerseits das Entstehen neuer Vergemeinschaftungsformen und Identitätsmuster (z. B. in Form zunehmend selbstbewusster und aktiver Selbsthilfegruppen), andererseits aber auch die seit längerem behandelten Fragen möglicher genetischer Diskriminierung und Stigmatisierung durch Versicherungen und Arbeitgeber. Den dritten Teil des Kapitels bildet das Thema „Kommerzialisierungstendenzen und Konsumorientierung“, d. h. die Entstehung eines Marktes mit besonderen Angeboten für den Direktvertrieb genetischer Diagnostik – eine Entwicklung, die enorme Probleme im Bereich Datenschutz und Patienteninteressen erkennen lässt und bei einer erneuten Untersuchung des Gesamtthemas möglicherweise schon in wenigen Jahren ein völlig neues Bild ergeben wird.[2]

5     Auswirkungen auf Medizin- und Gesundheitssystem

Kapitel 6 betrachtet die Entwicklungsfolgen prädiktiver genetischer Diagnostik dann auf einer anders gelagerten, abstrakteren, aber gesellschaftlich möglicherweise besonders wirkmächtigen Ebene, nämlich hinsichtlich der Veränderungen des Rollenverständnisses des Einzelnen (nicht zu verwechseln mit einem betroffenen Individuum!) im Kontext der Wandlungen und Neuausrichtungen von Zuständigkeiten und Verantwortungen im Medizin- und Gesundheitssystem. Bei der beauftragenden AOK wird dieser Teil sicher besondere Aufmerksamkeit finden, weil die Haltung der Krankenkassen gegenüber der Nutzung prädiktiver genetischer Diagnostik ein zentraler Faktor ist, der die weitere Diffusion genetischer Tests beeinflussen wird. Kollek und Lemke beschreiben sehr eindringlich die problematischen Entwicklungen in den Bereichen „Reproduktionsverantwortung“ (d. h. bezüglich der Weitergabe „genetischer Risiken“ an die Nachkommen), „Informationsverantwortung“ (Arzt vs. Patient, Verwandte untereinander, Forscher vs. Studienteilnehmer) und „Eigenverantwortung“ (d. h. die Pflicht zum Erkennen und Managen „genetischer Risiken“) – das Ganze eingebettet in eine Entwicklung vom „Recht auf Gesundheit zur Pflicht zum Gesundheitsmanagement“.

Dabei zeigen sie, dass gerade Eigenverantwortung ein sehr fragwürdiger Begriff ist bzw. oft eher auf die Gemeinschaft bezogen verwendet wird und de facto eine Verpflichtung des Einzelnen zu Gemeinkosten sparendem Verhalten meint. Der inhärente Widerspruch prädiktiver genetischer Diagnostik zeigt sich in diesem Kapitel erneut deutlich: Anders als bei verhaltensabhängigen Risikofaktoren wie Fehlernährung, Mangelbewegung, Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum sind sowohl das resultierende Risikowissen als auch die Handlungsmöglichkeiten in den meisten Fällen äußerst begrenzt. Und solange dies so ist, müssen hinter konkreten Forderungen nach einer stärkeren Berücksichtigung genetischen Wissens für Zwecke der öffentlichen Gesundheit, die von Vertretern einer „Public Health Genetics“ erhoben werden (Brand et al. 2007), weitere Rationalitäten als die des Patienten- und Gemeinwohls vermutet werden. Eine einfache Erklärung für die oft übertrieben wirkende Befürwortung bieten Kollek und Lemke nicht – es bleibt letztlich nur die Feststellung des Tatbestandes, so dass der letzte Satz von Kapitel 6 eine Art Gesamtfazit des Buchs bildet: „Der Hinweis auf die Existenz genetischer Risiken und deren Relevanz für die individuelle Lebensführung ist systematisch an das Versprechen ihrer Berechnung und Bändigung gekoppelt – ein Versprechen, das angesichts der immer noch begrenzten medizinischen Aussagekraft prädiktiver Gentests zwar überzogen und realitätsfern erscheint, aber gleichwohl eine handlungsmotivierende und -normierende Kraft entfaltet.“ (S. 287)

6     Der Blick in die Zukunft

Nicht nur der Bundesverband der AOK, sondern alle Krankenkassen Deutschlands tun gut daran, sich mit dieser handlungsmotivierenden und -normierenden Kraft zu befassen. Im abschließenden Kapitel 7 diskutieren die Autoren zwei Szenarien. Das konservative Szenario geht von einer stark begrenzten Ausdehnung genetischer Diagnostik aus – solange der nachgewiesene klinische Nutzen Bewertungskriterium bleibt und solange Beratungspflicht und Arztvorbehalt, wie sie das Gendiagnostikgesetz jüngst für medizinische prädiktive genetische Diagnostik normiert hat, nicht wieder abgeschafft werden. Doch selbst ohne Aufweichung des Gendiagnostikgesetzes könnte ein liberales Szenario an einer Erweiterung bzw. einem Ersatz des Begriffs „klinischer Nutzen“ ansetzen: Jenseits einer Verringerung von Morbidität oder gar Mortalität wären prädiktive genetische Tests immer dann (medizinisch) nützlich, wenn die Informationen von den Betroffenen selbst als wichtig z.B. für ihre Reproduktionsentscheidungen oder zur psychologischen Unterstützung eingeschätzt werden – an die Stelle einer „clinical utility“ träte damit die „social utility“ (S. 303f.).[3]

Trotz unübersehbarer Sympathie von Kollek und Lemke für die zugrundeliegende Haltung des konservativen Szenarios sehen beide die Entwicklung in Richtung des liberalen schreitend, und zwar aus fünf Gründen (S. 305ff.): Resonanz des Gendiskurses in der Bevölkerung, Normalisierung genetischer Tests, anvisierte Einspareffekt im Gesundheitswesen, Vermarktungsstrategien kommerzieller Akteure sowie technologische Innovationen.

Vor dem Hintergrund ihrer Gesamtergebnisse stellen die Autoren dann die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen der Selbstbestimmung und Solidarität im Kontext der gesetzlichen Krankenversicherung (S. 307ff.). Zu den Kosteneffekten prädiktiver genetischer Diagnostik sei bislang praktisch nichts bekannt. Eine häufig angenommene Kosteneinsparung sei völlig unklar. Nachdem für die meisten prädiktiven Gentests keine spezifischen Präventionsmaßnahmen existierten, sei es derzeit plausibler, dass falsch positive oder falsch negative Ergebnisse Folgekosten provozieren.

Insgesamt sehen Kollek und Lemke problematische Fragen auf alle Beteiligten des solidarischen Gesundheitssystems zukommen: Muss in Zukunft medikamentöse Prophylaxe bei Gesunden bezahlt werden? Wer bezahlt die psychologische Betreuung, wenn prädiktive genetische Tests Ängste auslösen? Können Sanktionen bei der Verweigerung von Prävention/Prophylaxe verhängt werden? Kann eine Teilnahme an Studien zur Erhebung der Effektivität verlangt werden? (S. 313) Eine Antwort auf diese Fragen ist weder Bestandteil der Studie noch alleinige Aufgabe der Wissenschaft – letztere muss aber sicher in Zukunft noch mehr Daten als Informations- und Entscheidungsgrundlage für Politik und Gesellschaft liefern und dafür die Folgen prädiktiver Gentests kontinuierlich beobachten und analysieren.

Im Ausblick verweisen die Autoren noch einmal auf die typischen Szenarien der Zukunft genetischer Diagnostik – von Begeisterten und Entsetzten. Sowohl der Glaube an eine rundum positive Revolutionierung der Medizin als auch der Horror vor einer allmächtigen Überwachung und Unterwerfung gehen von einer Aussagefähigkeit genetischer Analysen aus, die bei nüchterner Betrachtung in keiner Weise gedeckt ist. Gerade das immer tiefere Vordringen der Genomforschung in die Differenziertheit der biologischen Regelungssysteme auch auf molekularer Ebene wirft simplifizierende Annahmen über den Haufen, und die teils trotzig aufrecht gehaltene Behauptung, je mehr Einzelinformationen über den Zustand eines Genoms, einer Zelle, eines Organismus bekannt seien, desto besser könne eine Vorhersage gelingen, verliert derzeit massiv anÜberzeugungskraft. Das Ende des „genetischen“ Zeitalters sehen Kollek und Lemke allerdings noch nicht. Zu stark schätzen sie die Beharrungskräfte ein, nachdem die Geschäfts- und Risikomodelle der Biotechnologieindustrie auf dem alten Genkonzept basieren und bestimmte Anwendungen genetischer Tests z. B. in der Forensik und bei der Vaterschaftsbestimmung sehr erfolgreich etabliert sind (auch wenn sie nichts mit prädiktiver Diagnostik zu tun haben).

Die von Kollek und Lemke eindrucksvoll gezeigte Vielschichtigkeit der Entwicklungen der wissenschaftlichen Grundlagen, ihrer Anwendungen und Folgen führt zu einem Schlusssatz, der Raum für weitere Untersuchungen und Beiträge schafft: „Das genetische Zeitalter ist zweifellos noch nicht zu Ende; was genau 'genetisch' in Zukunft meint, steht freilich auf einem anderen Blatt.“

Anmerkungen

[1]  Die früher auch Veitstanz genannte neurodegenerative Krankheit bricht bei Betroffenen meist zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr aus und führt mit zunehmenden schweren körperlichen und geistigen Einschränkungen nach 15 bis 20 Jahren zum Tod.

[2]  Vgl. hierzu Hennen, Sauter 2009. Aus aktuellen Publikationen von Regine Kollek und Thomas Lemke kann man schließen, dass sich beide mit diesem Thema intensiver befassen, als es im Rahmen ihres gemeinsamen Buchs geschehen ist.

[3]  Bezug nehmend auf Grosse und Khoury 2006.

Literatur

Brand, A.; Schröder, P.; Bora, A., et al. (Hg.), 2007: Genetik in Public Health. Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW, Bielefeld

Grosse, S.; Khoury, M., 2006: What is the clinical utility of genetic testing? In: Genetics in Medicine 8/7 (2006), S. 448–450

Hennen, L.; Sauter, A., 2009: Gentests übers Internet – Qualitätsmängel und Regelungsbedarf. In: Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 18/1 (2009), S. 71–74