Das digitale Erbe – eine neue Herausforderung

Tagungsberichte

Das digitale Erbe – eine neue Herausforderung

Karlsruhe, 1.–2. Dezember 2009

von Jessica Heesen, Universität Freiburg

„It is almost genetic in its nature, that each generation will become more digital than the preceding one.“ (Negroponte 1995) Was für den Menschen gilt, gilt auch für die von und für ihn geschaffenen Produkte in der Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts: Information, Wissen und Kunst sind zunehmend Objekte der digitalen Datenverarbeitung. Welche Konsequenzen hat die Digitalisierung für die Bewahrung des kulturellen Erbes? Dieser Frage widmet sich das Start-up-Projekt „Kulturelle Überlieferungen – digital“ im Rahmen des Kompetenzbereiches „Technik, Kultur und Gesellschaft“ des Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Um die mit diesem Thema verbundenen Fragestellungen und gesellschaftsrelevanten Probleme mit internationalen Experten aus verschiedenen (Fach-)Perspektiven diskutieren zu können, veranstaltete das Zentrum für Angewandte Kulturwissenschaft und Studium Generale (ZAK) am KIT einen interdisziplinären Expertenworkshop.

1     Herausforderung Archivierung

Eine besondere Herausforderung für die digitale Archivierung liegt in den fast unbegrenzten Kapazitäten der digitalen Speichermedien. Hier stellt sich die Frage, welche kulturellen Artefakte und Praktiken bzw. welche Inhalte aus schriftlichen Dokumenten für den digitalen Bereich transformiert und archiviert werden sollen. Darüber hinaus steht das Archivwesen vor technischen Herausforderungen: Welche Betriebssysteme haben Bestand? Wie haltbar ist ein digitales Archiv? Ein Problem, das auch bereits durch die UNESCO als vordringliches Aufgabenfeld identifiziert wurde.[1]

Die immense Masse der zu archivierenden Inhalte, die etwa im Internet zugänglich sind, stellt Archivare vor die schwierige Aufgabe der Selektion und Systematisierung des digitalen Content. Diese Aufgabe unterscheidet sich auch deshalb von der überkommenen Archivierungsarbeit, weil sich technische Funktion der Medien und die Art der Medieninhalte stark gewandelt haben. Digitale Medien, insbesondere das Web 2.0, sind so genannte „Mitmach-Medien“, in denen die Nutzerinnen und Nutzer nach Belieben eigene Beiträge und Anwendungen einstellen können. Die interaktiven Medien bieten Anwendungen für den Alltag und sind damit auch Ausdruck von Alltagsthemen. während sie gleichzeitig für die Repräsentation von Kunst oder die Dokumentation von ursprünglich nicht-digital vorliegenden Medien (z. B. Bücher) oder traditionellen Bräuchen genutzt werden.

Der Workshop war an den folgenden Themen und Fragestellungen orientiert: Welche technischen Verfahren zur Digitalisierung werden angewandt und welche versprechen einen nachhaltigen Nutzen? Welche Zugangsbedingungen müssen garantiert werden in Hinsicht auf freien Informationszugang und Informationsgerechtigkeit? Welche gesetzlichen Rahmenbedingungen liegen vor? Was sind mögliche Kriterien für die Systematisierung und Selektion von Kulturgütern und wie kann die Auswahl selbst gerechtfertigt werden? Welche Veränderung erfahren Wahrnehmung und Deutung von Texten, immateriellen Kulturtechniken (z. B. Tänze, Riten) und Kunstwerken durch Digitalisierung? Zerstört die Digitalisierung den spezifischen Wert des Originals?

Zur Diskussion dieser Fragen trafen sich Experten und Expertinnen aus Österreich, der Schweiz und Deutschland. Der erste Tag des Workshops diente der Darstellung unterschiedlicher Problemlagen aus dem Bereich der Bibliothekswissenschaft und -praxis, der Kunst, des Rechts und der Philosophie. Die Vertreter und Vertreterinnen der einzelnen Bereiche berichteten in Impulsreferaten aus dem jeweiligen Themenbereich und skizzierten relevante Forschungsfragen.

2     Diskussionsbedarf für Bibliotheken, Kunst und Politik

Thomas Dreier (Zentrum für angewandte Rechtswissenschaft Karlsruhe) berichtete über das Problem, das Urheberrecht im Bereich der digitalen Datenverarbeitung anzuwenden. Hier bestünden z. B. Konflikte zwischen nationalem und ausländischem Recht oder auch zwischen dem gemeinwohlorientierten Interesse der Bibliotheken an der Zugänglichkeit von Information und den kommerziellen Interessen von Verlagen und Autorinnen und Autoren. Auch Andreas Brandtner (Universität Wien) betonte angesichts der wachsenden Menge und auch Kommerzialisierung von Information die Bedeutung der Bibliotheken als Gedächtnisinstitution in demokratischer Verantwortung. Als besondere Herausforderung schilderte er die Erschließung des so genannten Digital Born Content, also solcher Inhalte, die schon mit ihrer ersten Publikation ausschließlich in digitaler Form vorliegen. Brandtner – wie auch Birgit Stumm von den Berliner Staatsbibliotheken – verwiesen auf die Internet-Plattform Europeana, die den Zugriff auf die Archive und Bibliotheken für ganz Europa sichern solle.

Stumm, Brandtner und Werner Schweibenz (Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg) stellten die Aktivitäten der europäischen, österreichischen, der deutschen und der regionalen Bibliotheken im Bereich der digitalen Archivierung vor. Dabei wurde deutlich, dass das gesamte Bibliothekswesen sich in einem Prozess institutioneller Kooperation bei gleichzeitiger Diversifizierung nach Schwerpunktkompetenzen befindet. Herausforderungen der Bibliotheken und Archive lägen insgesamt in der Identifizierung relevanter Inhalte wie auch in der Erschließung der Archive für die Nutzerseite – hier wird die Zielgruppenoptimierung immer wichtiger. In diesem Zusammenhang gewänne die Kontextualisierung digitaler Objekte, also ihre Interpretation in einem spezifischen Bedeutungsumfeld, an Bedeutung, wie Jürgen Enge (Hochschule für Gestaltung, Karlsruhe) anhand eines Projekts zur Erfassung und Organisation von Metadaten betonte.

Harald Kraemer (Zürcher Hochschule der Künste) beschäftigte sich mit der Bedeutung des Hypertextes für die Strukturierung und Erschließung digitaler Kunst und Information. Kraemer zeigte im Zusammenhang mit „Hypermedia Design“, dass Navigations- und Design-Kriterien im Zusammenspiel mit den zu vermittelnden Inhalten das Strukturmerkmal Hypertextualität selbst zum Träger von Bedeutung werden lassen.

Thorolf Lipp (Universität Bayreuth) setzte auf grundsätzlicherer Ebene an und thematisierte den Kulturbegriff als solchen und damit verbunden die Frage nach der Definitionsmacht über Kultur. In diesem Zusammenhang stellte er Projekte zur Digitalisierung von immateriellen Kulturtechniken vor und betonte deren Relevanz für Identität und Partizipation von Minderheiten.[2] Aus ethischer Perspektive stellte Jessica Heesen (Universität Freiburg) die Bedeutung von Wertannahmen für den Umgang mit der digitalen Überlieferung in den Vordergrund. Heesen unterschied zwischen verschiedenen Werturteilen (ästhetischer Wert, Wertschätzung des Rangs, demokratischer Wert) die für die Auszeichnung eines digitalen Contents als erhaltenswert maßgeblich seien. Darüber hinaus wurde höherstufig nach den Rechtfertigungskriterien für solche Bewertung und Selektion gefragt.

Die große Menge an Daten, die durch informationstechnische Systeme erzeugt werden, spiegelt sich in der Vielzahl ihrer Anwendungen wider. Die Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts hängt in ihrem Kommunikations- und Informationsmanagement, in Organisation und Logistik von der Computertechnologie ab. Sebastian Ziegaus (Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung Karlsruhe) stellte die Perspektiven der Innovations- und Zukunftsforschung auf das Thema „Digitales Erbe“ vor und thematisierte, neben anderen Aspekten, die systemischen Risiken, die durch die Digitalisierung der Wissensarchive hervorgerufen werden. Bernhard Serexhe (Zentrum für Kunst und Medien (ZKM) Karlsruhe) beschäftigte sich mit der Authentizität digitaler Dokumente. Hier würden insbesondere Möglichkeiten der Manipulation relevant, aber auch grundsätzlich die Ambivalenz einer Mediengesellschaft, in der die Bedeutung des nicht-digitalen Originals vermehrt unter Rechtfertigungsdruck stehe.

3     Abschluss

Der zweite Tag des Expertenworkshops war der Systematisierung und Fokussierung der Diskussionsergebnisse in Hinblick auf die Strukturierung des Forschungsfelds und dem weiteren Vorgehen gewidmet. Als Ergebnis wurde die Einrichtung einer digitalen Plattform für die Beteiligten des Workshops beschlossen und die Dokumentation der Beiträge in einem Sammelband. Vor allem aber entstand die Idee zur Gründung eines Kompetenzzentrums für kulturelle Überlieferung und Digitalisierung. Das Kompetenzzentrum solle in Forschung und Lehre aktiv sein und außerdem Beratung für staatliche und nicht-staatliche Akteure im Bereich der Archivierung anbieten. Es könnte darüber hinaus auch eine koordinierende Funktion für die verschiedenen Aktivitäten der öffentlichen Hand auf Landes- und Bundesebene übernehmen.

Anmerkungen

[1]  UNESCO: Memory of the World; http://portal.unesco.org/ci/en/ev.php-URL_ID=1538&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html (download 1.2.10)

[2]  Siehe z. B. ISUMA TV; http://www.isuma.tv/