„Das optimierte Gehirn“

TA-Projekte

„Das optimierte Gehirn“

Potenziale und Risiken des pharmazeutischen Enhancements psychischer Eigenschaften

von Thorsten Galert, Europäische Akademie Bad Neuenahr-Ahrweiler

Antidepressiva zur Überwindung alltäglicher Verstimmungen, Psychostimulantien zur Kompensation von Schlafmangel oder Konzentrationsschwierigkeiten, Antidementiva für die Extraportion Gedächtnisleistung – dies sind einige der Wirkungen, die gesunde Menschen durch Einnahme von Psychopharmaka zu erzielen hoffen. Die öffentliche Debatte über die Akzeptabilität der Zweckentfremdung von Medikamenten zur nicht-therapeutischen Verbesserung der Psyche ist in vollem Gang. Während das Phänomen in populären Medien meist als „Hirndoping“ angesprochen wird, setzt sich in Fachkreisen zunehmend der Begriff „Neuro-Enhancement“ durch. Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse des Memorandums „Das optimierte Gehirn“ zusammengefasst, das aus einer interdisziplinären Forschungskooperation hervorgegangen ist, die sich über drei Jahre lang mit ethischen, rechtlichen und medizinischen Problemen des pharmazeutischen Neuro-Enhancements befasst hat. 

1     Struktur und Zielsetzung des Projekts

Das Projekt wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderinitiative für Forschung zu den ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekten der Biomedizin finanziert. Neben der Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen GmbH als koordinierende Institution waren drei Verbundpartner an der Forschungskooperation beteiligt: Unter Leitung von Isabella Heuser (Direktorin der Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité – Campus Benjamin Franklin, Berlin) ging ein medizinisches Teilprojekt der Frage nach, inwieweit heute verfügbare Psychopharmaka dazu geeignet sind, die kognitiven Leistungen oder die emotionale Verfassung gesunder Menschen zu verbessern. Die Teilprojekte zu den ethischen und rechtlichen Fragestellungen wurden von Bettina Schöne-Seifert (Direktorin des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin am Universitätsklinikum Münster) und von Reinhard Merkel (Lehrstuhl für Strafrecht und Rechtsphilosophie, Juristische Fakultät der Universität Hamburg) bearbeitet. Unterstützt wurden diese drei Teilprojektleiter jeweils von einem wissenschaftlichen Mitarbeiter. Der Autor dieses Berichts war neben der Projektkoordination für die Durchführung eines Teilprojekts zu begrifflichen und theoretischen Grundlagen des pharmazeutischen Neuro-Enhancements zuständig. Die Ergebnisse der Teilprojekte wurden bzw. werden (einige befinden sich noch im peer review) in Fachzeitschriften und Sammelbänden veröffentlicht (Bublitz, Merkel 2009; Repantis et al. 2009; Schöne-Seifert, Talbot, im Druck).

Neben der Klärung akademischer Einzelfragen hatte die Forschungskooperation das übergeordnete Ziel, den verantwortungsvollen Umgang mit den Möglichkeiten des pharmazeutischen Neuro-Enhancements durch konkrete Empfehlungen zu fördern. Im Verlauf des Projekts gelangten dessen Mitglieder zu dem Schluss, dass es zur Realisierung dieses Zwecks nicht reichen würde, lediglich Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft über geeignete Handlungsoptionen zu beraten. Wie sich die Erforschung und Anwendung von Neuro-Enhancement-Präparaten (NEPs) in angemessener Weise regulieren lässt, kann im Grunde nämlich erst dann beantwortet werden, wenn die demokratische Meinungsbildung zu bestimmten gesellschaftlichen Wertorientierungen hinreichende Klarheit gewonnen hat. Beispielsweise lässt sich die Frage der Zumutbarkeit des sozialen Drucks zum Konsum von NEPs, dem sich der Einzelne im Fall der weiteren Verbreitung solcher Mittel ausgesetzt sehen könnte, nicht allein per Expertenratschluss beantworten. Selbstverständlich kann und muss die Pharmakologie darüber aufklären, was über die Risiken der Einnahme einzelner NEPs bekannt ist – und was nicht. Weiterhin ist es Aufgabe der Ethik, den normativen Kontext für die Entscheidung über die Sozialadäquatheit dieser Risiken aufzuzeigen. Schließlich bringen viele neue soziale Praxen oder technische Innovationen sowohl Wettbewerbsvorteile als auch ungewisse Schadensrisiken mit sich. Man denke nur an Mobiltelefone, deren Gefährdungspotenzial durch Strahlenbelastung zum Zeitpunkt ihrer Einführung weitgehend ungeklärt war. Der Hinweis auf solche Analogien kann vor dem normativen „Kurzschluss“ bewahren, sogleich ein Verbot von NEPs zu fordern, nur weil deren Verfügbarkeit den Einzelnen dazu zwingen würde, zwischen Nutzen und Risiken ihrer Anwendung abzuwägen.

Eine wissenschaftlich und ethisch fundierte TA kann jedoch nicht die genaue Grenze der Zumutbarkeit individueller Entscheidungsnot bestimmen. Sie vermag lediglich Argumentationshilfen zu geben für eine gesellschaftsweite Verständigung über die dringend erforderliche Beschränkung des Leistungsprinzips in unserer Gesellschaft: Die Schlüsselfrage ist, welche Risiken das Individuum auf sich nehmen und welche Kosten ihm die Gesellschaft aufbürden darf um einer erhofften Steigerung der Leistungsfähigkeit oder um eines Zuwachses an Verfügbarkeit über den Gefühlshaushalt willen. Um die öffentliche Debatte über diese und andere Fragen anzuregen, die letztlich über die zukünftige Nutzung des pharmazeutischen Neuro-Enhancements entscheiden werden, sollte das am Ende des Projektes stehende Memorandum eine breite Leserschaft ansprechen.

2     Eine ungewöhnliche Abschlussveröffentlichung

Die Wahl des populärwissenschaftlichen Magazins für Psychologie und Hirnforschung Gehirn & Geist für die Abschlusspublikation des Projekts hat sich als ausgesprochener Glücksfall herausgestellt. Zwar wären noch auflagenstärkere Organe für die Veröffentlichung denkbar gewesen. Diese hätten jedoch kaum einen so umfangreichen Beitrag zugelassen (die im Internet frei verfügbare Langversion des Memorandums mit zwei zusätzlichen Abschnitten umfasst 12 Seiten, die im Magazin gedruckte Fassung immerhin noch 9 Seiten).[1] Bei allem Mut zur argumentativen Zuspitzung, den die von uns gewählte Publikationsform ohnehin erforderlich gemacht hatte, hätte sich der Anspruch einer, alle wesentlichen Argumente beinhaltenden Darstellung, keinesfalls in einem noch kürzeren Format umsetzen lassen. Hervorzuheben sind die Umsicht und Kompromissbereitschaft, die der Chefredakteur Carsten Könneker und sein Mitarbeiter Joachim Marschall bei der redaktionellen Betreuung des Memorandums an den Tag gelegt haben. Sie nahmen einerseits Rücksicht darauf, dass jede ihnen vorgelegte Formulierung des im anspruchsvollsten Sinne in gemeinsamer Autorschaft verfassten Textes aus einem mühsamen Prozess der Konsensfindung hervorgegangen war. Andererseits griffen sie doch immer wieder beherzt in den Text ein, um ihn stilistisch zu vereinheitlichen und journalistisch für den anvisierten Leserkreis aufzuschließen.

3     Die zentralen Aussagen und Empfehlungen des Memorandums

Der wohl am häufigsten zitierte Satz des Memorandums „Das optimierte Gehirn“ lautet: „Wir vertreten die Ansicht, dass es keine überzeugenden grundsätzlichen Einwände gegen eine pharmazeutische Verbesserung des Gehirns oder der Psyche gibt.“ (Galert et al. 2009, S. 47) Er diente vielen Kommentatoren zum Beleg der angeblichen Bedenkenlosigkeit, mit der die Autoren dem pharmazeutischen Neuro-Enhancement gegenüberstünden. Tatsächlich sollte der Satz jedoch beim Wort genommen werden: Unseres Erachtens gibt es keine Einwände, die psychopharmakologische Optimierungsbestrebungen „als solche“, also gewissermaßen unter beliebigen Umständen als bedenklich erscheinen lassen und eingehender Prüfung Stand hielten. Im Memorandum werden in zugegeben reichlich knapper Form zwei Typen derart prinzipieller Bedenken besprochen: solche, die pharmazeutisches Neuro-Enhancement im Widerspruch zur menschlichen Natur sehen, und solche, die neurobiologische Interventionen als grundsätzlich problematisch oder gar verwerflich zu kennzeichnen versuchen (Galert et al. 2009, S. 42).

In vielen Medienberichten über das Memorandum wird weitgehend ausgeblendet, dass darin eine Reihe von Einwänden als stichhaltig anerkannt werden, die gegen bestimmte Motivationen zum Neuro-Enhancement oder denkbare gesellschaftliche Ausprägungen seiner Nutzung sprechen. So wäre es zweifelsohne bedenklich, wenn sich zukünftig Personen in der Ausbildung oder im Berufsleben dazu genötigt sähen, im Interesse des Erhalts ihrer Wettbewerbsfähigkeit smart- oder happy-pills gegen ihre eigentliche Überzeugung nehmen zu müssen (Galert et al. 2009, S. 44). Doch wurde oben bereits angedeutet, dass sich die kritische Grenze, die ein solcher Anpassungsdruck nicht überschreiten darf, nicht aus ethischen Prinzipien ableiten lässt, sondern in jedem Gemeinwesen immer wieder aufs Neue ausgehandelt werden muss. Regelrecht zum Eingreifen verpflichtet wäre der Gesetzgeber nach Überzeugung der Autoren des Memorandums, wenn die Verfügbarkeit potenter, aber kostspieliger NEPs dazu führen würde, dass die schon heute vorhandene Ungleichheit zwischen den Berufs- und Lebenschancen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen sich erheblich verschärfte (Galert et al. 2009, S. 44–46). Weil eine solche Entwicklung jedoch keineswegs zwangsläufig eintreten muss, lässt sich aus dieser berechtigten Besorgnis kein prinzipieller Einwand gegen pharmazeutisches Neuro-Enhancement machen. Zur Vermeidung entsprechender Entwicklungen erscheinen weniger vorbeugende Verbotsnormen als vielmehr sozialstaatliche Regulierungsmaßnahmen angemessen, die freilich weder im Memorandum noch an dieser Stelle detailliert dargestellt werden konnten bzw. können.

Die triftigsten Vorbehalte gegenüber der pharmazeutischen Optimierung kognitiver Fähigkeiten und emotionaler Zustände beziehen sich auf die genannten möglichen sozialen Folgen. Aber auch dem individuellen Anwender von NEPs gibt das Memorandum – recht gelesen – einiges zu bedenken. Zunächst ist zu betonen, dass vom Konsum heute verfügbarer Psychopharmaka zu Zwecken des Neuro-Enhancements nur abgeraten werden kann, weil erstens insgesamt fragwürdig ist, dass sie bei Gesunden die gewünschte Wirkung entfalten, und zweitens die Möglichkeit des Auftretens unerwünschter Wirkungen insbesondere bei längerfristiger Anwendung viel zu wenig untersucht ist. Zu den besonders befürchteten Langzeitnebenwirkungen gehören Abhängigkeitserscheinungen. Diesbezüglich wird im Memorandum die Unterscheidung zwischen körperlicher und psychischer Abhängigkeit stark gemacht (Galert et al. 2009, S. 42). Sollte es irgendwann ein Verfahren der Zulassung von Psychopharmaka zur Verabreichung bei Gesunden geben, müsste eine wichtige Sicherheitsauflage den Nachweis betreffen, dass diese nicht körperlich abhängig machen. Dagegen ließe sich schlechterdings kaum ausschließen, dass Anwender von NEPs auch bei ordnungsgemäßem Gebrauch eine psychische Abhängigkeit der Art entwickeln, dass sie sich regelmäßig unter ihrem Einfluss erbrachte Leistungen irgendwann nicht mehr ohne deren Einnahme zutrauen mögen. Konsumenten müssten über die Möglichkeit des Auftretens solcher Phänomene aufgeklärt werden, auch sollten die Häufigkeit ihres Auftretens und der Grad der daraus resultierenden Beeinträchtigung in geeigneten Studien erhoben werden. Wollte man jedoch NEPs pauschal verbieten, weil sie im erläuterten Sinn psychisch abhängig machen können, wäre dies ein Fall von illegitimem Paternalismus, weil man nach der gleichen Logik auch die Internet-Nutzung und viele andere Aktivitäten unterbinden müsste, an die Menschen zuweilen in ungesundem Maße ihr Herz hängen. Das Gleiche gilt mutatis mutandis auch für Persönlichkeitsveränderungen, deren Auftreten in Folge regelmäßiger NEP-Anwendung sich ebenfalls kaum ausschließen lässt, die aber auch nicht in allen Fällen negativ zu beurteilen sein müssen.

Weitere Empfehlungen des Memorandums betreffen Möglichkeiten zur Regulierung der Erforschung und Anwendung von NEPs für den Fall, dass sich irgendwann eine gesellschaftliche Mehrheit für deren Markteinführung aussprechen sollte. Ein gewichtiges Argument für deren geregelte Zulassung liegt nach Ansicht der Autoren darin, dass sich nur so die gegenwärtige „Schwarzmarktsituation“ bereinigen ließe. So müssten Pharmaunternehmen nicht länger immer geringfügigere Krankheitsbilder „erfinden“, um den Markt der Gesunden mit ihren Präparaten zu bedienen. Patienten müssten sich nicht länger krank stellen, um entsprechende Verschreibungen von ihren Ärzten zu erhalten und das solidarische Gesundheitswesen würde nicht länger durch scheinbare Heilbehandlungen belastet, wo eigentlich Neuro-Enhancement getrieben wird. Eine wichtige Empfehlung in diesem Bereich sieht vor, dass die Anwendung von NEPs bis zum (wahrscheinlich niemals überzeugend darstellbaren) Nachweis ihrer vollkommenen Unbedenklichkeit unter ärztlicher Beratung und Aufsicht erfolgen sollte.

4     Schlussbemerkung: Das Memorandum – eine Erfolgsstory?

Arnold Sauter hat in seinem Bericht über die öffentliche Präsentation des Memorandums (Sauter 2009, S. 97) knapp und zutreffend formuliert: „Weniger Papier schafft mehr Aufmerksamkeit.“ Tatsächlich war das Medieninteresse am Memorandum überwältigend, so dass das Ziel des Anregens einer öffentlichen Debatte zum pharmazeutischen Neuro-Enhancement ganz ohne Zweifel erreicht wurde. Wie zwischen den Zeilen dieses Projektberichts bereits deutlich geworden sein mag, dürfte dennoch keiner der Autoren mit dem Medienecho wirklich zufrieden sein. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurde die Position des Memorandums in teilweise grotesk verzerrter und verkürzter Weise wiedergegeben. Zum Teil dürfte dies selbstverschuldet sein, weil die äußerst komprimierte Darstellungsweise des Zeitschriftenartikels zu Missverständnissen einlädt. Bei aller Selbstkritik kann man sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass manche Medienvertreter eben nur das lesen, was sie lesen wollen und was ihnen zu aufgeregten Kommentaren Anlass gibt. Es hat seinen Reiz, die Ergebnisse eines TA-Projekts öffentlichkeitswirksam zu präsentieren. Man sollte dabei jedoch – wie im Fall des pharmazeutischen Neuro-Enhancements – mit unerwünschten Nebenwirkungen rechnen.

Anmerkung

[1]  Siehe https://www.wissenschaft-online.de/sixcms/media.php/976/Gehirn_und_Geist_Memorandum.pdf (download 19.2.10)

Literatur

Bublitz, J.C.; Merkel, R., 2009: Autonomy and Authenticity of Enhanced Personality Traits. In: Bioethics 23/6 (2009), S. 360–374

Galert, T.; Bublitz, J. C.; et al., 2009: Das optimierte Gehirn. Ein Memorandum zu Chancen und Risiken des Neuroenhancements. In: Gehirn & Geist 11/2009, S. 40–48

Repantis, D.; Schlattmann, P.; Laisney, O.; Heuser, I., 2009: Antidepressants for neuroenhancement in healthy individuals: A systematic review. In: Poiesis & Praxis 6/3–4 (2009), S. 139–174

Sauter, A., 2009: Pharmazeutisches Gehirntuning. Bericht zur Präsentation von Empfehlungen zum verantwortungsvollen Umgang mit pharmazeutischem Neuro-Enhancement. In: TATuP 3/18 (2009), S. 97–99

Schöne-Seifert, B.; Talbot, D., im Druck: Neuro-Enhancement. In: Helmchen, H.; Sartorius, N. (Hg.): Ethics in Psychiatry. European Contributions. Heidelberg

Kontakt

Dr. Thorsten Galert
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