Interview

Die Welt verändern wir nur gemeinsam

Patrizia Nanz zur Bedeutung von Beteiligungskultur(en) in Wissenschaft und Politik

Prof. Dr. Patrizia Nanz

ist Vizepräsidentin des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE) und Ko-Direktorin des Deutsch-Französischen Zukunftswerks. Zuvor war die Transformations- und Beteiligungsexpertin wissenschaftliche Direktorin am Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS).

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TATuP (2021) Bd. 30 Nr. 2, S. 60–64, https://doi.org/10.14512/tatup.30.2.60

Bürgerinnen und Bürger werden zunehmend an der Gestaltung von Wissenschaft, Politik und Technologie beteiligt; es ist eine „partizipatorische Wende“ zu beobachten, die die wichtige Rolle von deliberativen Verfahren betont. Auch Patrizia Nanz fordert in diesem Interview, Bürgerinnen und Bürger in Verantwortung zu bringen, da den zukünftigen komplexen Herausforderungen nur im Kooperationsmodus begegnet werden könne. Gemeinsam mit Bürgerinnen und Bürgern müsse in dialogorientierten Verfahren entschieden werden, wie wir zukünftig (nachhaltiger) leben wollen. Expertenwissen alleine reiche, beispielweise bei der Suche nach einem Standort für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle, nicht aus. Das Interview wurde von Nora Weinberger und Silvia Woll (beide ITAS-KIT) geführt.

TATuP: Sie haben im letzten Jahr in einem Interview mit Jung & Naiv erzählt, dass Sie schon immer die Welt verändern wollten. War das einer Ihrer Beweggründe, sich so intensiv mit der Partizipationsforschung und der Weiterentwicklung der Demokratie zu beschäftigen?

Patrizia Nanz: Ja, natürlich, denn die Welt verändern wir nur gemeinsam und das beste Instrument dafür ist immer noch die Demokratie. Aber natürlich war es auch ein bestimmter Weg mit unterschiedlichen Lernerfahrungen, der mich hierhin geführt hat. Ich habe unter anderem ja bei Jürgen Habermas und Charles Taylor studiert. Obwohl Philosophen ja eher im Ruf stehen, weltfremd zu sein, so war für beide die Auffassung immer zentral, dass Wissenschaft und Forschung letztlich an die Absicht gebunden sein müssen, die Welt zum Guten zu verändern. Diesen Hintergrund habe ich auch immer als selbstverständlich angesehen und mich dann irgendwann zunächst in Richtung Politikwissenschaft orientiert. Nachdem ich eine Zeitlang viel zu Fragen transnationaler Zivilgesellschaft und europäischer Integration gearbeitet habe, ist mir klar geworden, dass echter Wandel auch von unten kommen muss und wir Demokratie nicht ohne Bürgerinnen und Bürger denken dürfen.

Ein besonderer Schlüsselmoment war, als mir klar geworden ist, wie radikal sich unsere Gesellschaft ändern muss, wenn wir nachhaltiger leben wollen – und wie wenig wir eigentlich wissen, wie das gehen soll. Wir sind ja gegenwärtig schon vollkommen damit überfordert, mit einer Bedrohung sozialer Resilienz durch eine globale Pandemie umzugehen.

Aber es wird auf vielen politischen, gesellschaftlichen und inhaltlichen Ebenen inzwischen doch fast schon inflationär über Bürgerbeteiligung geredet – auch, wenn der Begriff nicht immer konsistent verwendet wird. Was verstehen Sie unter Bürgerbeteiligung und was nicht?

Im Kern definiere ich Beteiligung immer noch als freiwillige Handlungen, durch die Bürgerinnen und Bürger versuchen, Einfluss auf die unterschiedlichen Phasen der Entscheidungsfindung des politisch-administrativen Systems zu nehmen. Hierbei gibt es natürlich ganz wesentliche Unterschiede in der Reichweite der Einflussmöglichkeiten (von der bloßen Information bis hin zur Mitbestimmung oder Mitwirkung in der Umsetzung bzw. Ko-Kreation). Außerdem bestehen wesentliche Unterschiede darin, wer eigentlich Zugang zu den jeweiligen Prozessen hat, z. B. die breite Öffentlichkeit, per Zufall ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, organisierte Stakeholder etc.

Mit der letzten Bemerkung habe ich das enge Verständnis von Bürgerbeteiligung natürlich schon gesprengt. Insofern ist die inflationäre Verwendung des Wortes bei allen Schattenseiten auch in der Sache begründet: Sie ist auch ein Symptom dafür, dass wir uns mittlerweile in einer Phase befinden, in der die unterschiedlichen Zielsetzungen und Mechanismen von Beteiligung in einer bisher ungekannten Breite in der Praxis zur Geltung kommen. Wir bewegen uns weg von klar umgrenzten lokalen Experimenten hin zu größeren, vernetzten Beteiligungsprozessen oder -strukturen, bei denen womöglich ganz neue Modi des Regierens und der Verwaltung, aber auch der wissenschaftlichen oder ökonomischen Praxis entstehen können. Solche Mainstreaming-Prozesse lassen sich natürlich immer als Verwässerung beschreiben, zugleich entstehen in diesen Aneignungen aber auch Innovationen. Entsprechend ist die Landschaft natürlich unübersichtlicher geworden, aber zugleich sehe ich darin auch Anzeichen einer umfassenden Beteiligungstransformation unseres politischen und administrativen Systems.

Welche partizipativen Formate zeigen im Zuge dieser Transformation hohe Potenziale?

Ein wichtiger Trend ist die Übertragung von Bürgerräten auf die nationale und transnationale Ebene, wie beim nationalen Klimarat in Frankreich oder bei der von Ursula von der Leyen avisierten Bürgerkonferenz zur Zukunft Europas. Diese Beispiele illustrieren, wie klassische partizipatorische Formate immer stärker auch jenseits lokaler Kontexte Anwendung finden. Aber neben solchen „Skalierungen“ von Beteiligung verändert sich auch die Qualität der Beteiligung selbst durch die systematische Verzahnung ganz unterschiedlicher Partizipationsmechanismen, z. B. durch Programme wie Open Government oder in umfassenden politischen Prozessen wie der Suche nach einem Endlager für hochradioaktive Abfälle in Deutschland.

Und hinzu kommt schließlich noch die Hybridisierung des klassischen Verständnisses von Bürgerbeteiligung durch die Kreuzung mit anderen Feldern wie transdisziplinärer Forschung, Citizen Science oder human-based design.

Deshalb zögere ich, die Frage nach dem Potenzial unterschiedlicher Formate in dieser Allgemeinheit zu beantworten. Letztlich hängt der Wert eines Formats immer vom konkreten Kontext und von den Zwecken ab, die man damit verfolgt: Soll damit die Legitimation politischer Entscheidungen erhöht werden? Oder wollen wir durch Ko-Kreation die Potenziale der Gesellschaft für die Lösung von Problemen aktivieren?

Sie sagen, dass sich Mainstreaming-Prozesse einerseits etwas „verwässern“ und zugleich in diesen Aneignungen aber auch Hybridisierungen und Innovationen entstehen. Was verstehen Sie im Zusammenhang mit Mainstreaming-Prozessen unter „Verwässerung“ und „Aneignungen“? Und wie kommt es dann zu Hybridisierungen und Innovationen?

Aneignung bedeutet hier ja zunächst einfach, dass immer mehr unterschiedliche Akteure sich der Instrumente und der Grundideen von Beteiligung bedienen, um ihre eigenen Ziele zu erreichen. Es ist ja keineswegs mehr so, dass Beteiligung vorrangig von Seiten der Zivilgesellschaft erkämpft werden muss. Ganz im Gegenteil nutzen politische, administrative und auch ökonomische Akteure Beteiligungsinstrumente dezidiert proaktiv zur Verbesserung ihrer Leistungen und zur Verbreiterung ihrer Legitimationsbasis. Weil nun das Spektrum an möglichen Beteiligungsformen so breit ist, besteht natürlich immer die Versuchung, hier euphemisierend als „Beteiligung“ zu kennzeichnen, wo nicht unbedingt Beteiligung drin ist. Das muss auch nicht in böser Absicht geschehen (was natürlich nicht ausgeschlossen ist), manchmal liegt es z. B. auch einfach daran, dass der abstrakte Wille „zu beteiligen“ gesetzt ist, bevor man überhaupt darüber nachgedacht hat, ob und wie Beteiligung überhaupt zur Lösung eines gegebenen Problems beitragen kann. Die fehlende Problemorientierung kann also zur „Verwässerung“ der Beteiligungspraxis beitragen. Weil dies den vorgeblich Beteiligten natürlich für gewöhnlich nicht entgeht, droht hier auf die lange Sicht auch eine Delegitimierung von Beteiligungsprozessen insgesamt.

Solange Wissen und Kompetenzen für Beteiligung nicht nur bei Dienstleistern, sondern bei den beteiligenden Akteuren selbst noch nicht umfassend verankert sind (z. B. in der Verwaltung), sind solche Kinderkrankheiten auch erwartbar. Umgekehrt ist es ja auch eine gute Sache, wenn unterschiedliche Institutionen und Akteure mit Beteiligung experimentieren und die Praxis innovativ weiterentwickeln, u. a. durch die angesprochenen Hybridisierungen. Nur dadurch lassen sich Praxiswissen und Erfahrung langfristig entwickeln.

Unserer Erfahrung nach kann es oftmals schwierig sein, Bürger*innen für eine Beteiligung zu gewinnen. Wie lassen sie sich Ihrer Kenntnis nach motivieren und aus was resultiert Ihrer Meinung nach die Eigenmotivation von Bürger*innen, sich zu beteiligen?

Auch die Motivationen sind natürlich immer vom Kontext abhängig. Auf der einen Seite korreliert die Beteiligungsbereitschaft ja sehr häufig stark mit Bildung, sozialem Geschlecht und dem verfügbaren Zeitbudget. Deshalb rekrutieren sich die Teilnehmenden bei vielen Beteiligungsprojekten ja überdurchschnittlich aus der Gruppe der akademisch gebildeten Männer in einem gewissen Alter, jedenfalls dann, wenn sie auf dem klassischen Mechanismus der Selbstselektion basieren. Aber wir sollten Selbstselektion eben gerade nicht als die „natürliche“ Konstellation ansehen, sondern als ein wesentliches Gestaltungselement, das die Motivation der Bürgerinnen und Bürger gerade entscheidend formt. Zu diesem Mechanismus bestehen dann auch erprobte Alternativen z. B. in Form von aktiver Zielgruppenansprache, Zufallsauswahl oder repräsentativen Quotierungsregeln.

An welche Motivationen der Bürgerinnen und Bürger man wie anschließen sollte, hängt für mich wiederum letztlich vom Kontext und von den Zielen des jeweiligen Prozesses ab. Obwohl viele Beteiligungsinstrumente natürlich dafür da sind, Betroffenen die Möglichkeit zur frühzeitigen Einfluss- oder Stellungnahme zu geben, so kann es ja gerade auch Gründe geben, den Betroffenen nicht allein das Feld zu überlassen. So basieren z. B. Bürgerräte wie das von Claus Leggewie und mir entwickelte Konzept der Zukunftsräte ja auf der Idee, dass gerade zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf bestimmte Probleme (und in einer gut moderierten Diskussion) viel bessere Lösungsvorschläge erarbeiten als die im engen Sinn Betroffenen.

Gibt es dafür gute Beispiele – also Beispiele, die dafürsprechen, dass zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf bestimmte Probleme bessere Lösungsvorschläge erarbeiten als die im engen Sinn Betroffenen?

Wenn wir in offenen, demokratischen Gesellschaften politische Fragen und Probleme diskutieren, so ist dabei prinzipiell das Prinzip der bürgerlichen Öffentlichkeit leitend, deren historische Entstehung und Veränderung Forscher wie Jürgen Habermas oder auch Michael Warner untersucht haben: Der Raum der Öffentlichkeit ist prinzipiell für alle zugänglich und die öffentliche Erörterung politischer Fragen zwingt alle Beteiligten dazu, sich auf öffentlich auch überzeugende Gründe zu stützen. So wichtig dieses normative Prinzip für unser politisches Selbstverständnis ist, so dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass die real existierende Öffentlichkeit, die wir kennen, gut organisierte und gut artikulierte Interessen strukturell bevorteilt und diffuse, „leise“ oder marginalisierte Anliegen dabei unterzugehen drohen. Beteiligungsformate, die nach dem Prinzip der Selbstselektion funktionieren, erben diese Probleme häufig und entsprechend sind sie weniger Orte sozialen Lernens oder größerer Inklusion, sondern neue Foren von Lobbyismus und organisierter Interessenvertretung.

„Im Kern definiere ich Beteiligung immer noch als freiwillige Handlungen, durch die Bürgerinnen und Bürger versuchen, Einfluss auf die unterschiedlichen Phasen der Entscheidungsfindung des politisch-administrativen Systems zu nehmen.“

Das heißt Beteiligung muss so gestaltet sein, dass Lobbyismus eben nicht noch weiter zementiert wird?

Ja, genau. Beteiligung kann unter bestimmten Bedingungen auch solche Probleme ausgleichen. Dafür wurde in der Demokratietheorie der letzten 20 Jahre die Idee der „Mini-Publics“ prägend: In kleinen, per gewichteter Zufallsstichprobe repräsentativ für die Bevölkerung zusammengesetzten Foren sollen durch eine gute Moderation und Gestaltung diskursive politische Meinungsbildungsprozesse möglich werden, die eine sehr hohe deliberative und damit auch demokratische Qualität besitzen. Das empfiehlt sich insbesondere für große Zukunftsfragen und andere politische Probleme großer Reichweiten, z. B. die Klimapolitik. Hier hat sich mit dem Modell der Klimabürgerräte in den letzten Jahren ein interessanter neuer Ansatz durchgesetzt, der es gerade erlaubt, die prinzipielle Unterstützung radikalerer Klimapolitik in der Bevölkerung zu artikulieren, die in der öffentlichen Diskussion gar nicht sichtbar war. Denken Sie z. B. an den von Emmanuel Macron ins Leben gerufenen französischen Klimabürgerrat: Ursprünglich war er eine Reaktion auf die Proteste der „Gelbwesten“ gegen eine Erhöhung der Dieselsteuer und sollte die sozialen Spannungen in der französischen Umweltpolitik reduzieren. Im Ergebnis trat der Klimabürgerrat aber für viel radikalere Klimaschutzmaßnahmen ein als sie die etablierte Politik je vorgehabt hatte.

Zufallsauswahl ist also eine gute Idee, wo Beteiligung dazu dient, die politische Vergemeinschaftung zu komplexen, übergreifenden Problemfeldern zu stärken oder soziales Lernen zu befördern, kurz: wo es nicht nur um die Abbildung der Interessen von denen geht, die sich „betroffen“ fühlen. Für letzteres ist Selbstselektion natürlich weiterhin der beste Mechanismus.

Das Potenzial von Bürgerbeteiligung wird unserer Ansicht nach aktuell noch viel zu wenig genutzt, z. B. bei der Energiewende. Sie sprechen hier unter anderem von Scheinbeteiligung und „ex-post“-Legitimation und üben Kritik an der bisherigen Beteiligungskultur. Was sollten denn Wissenschaft und Politik in partizipativen Prozessen anders machen?

Gut gemachte Beteiligung verspricht in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen die Transparenz, die Legitimation und auch die Qualität politischer und administrativer Entscheidungen zu stärken und damit die Handlungsfähigkeit unserer Institutionen sowie den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu befördern. Auch privatwirtschaftliche Dienstleistungen oder anwendungsnahe wissenschaftliche Forschung können in dieser Weise bedürfnis- und zielgruppenspezifischer werden. Und ich habe den Eindruck, dass viele Menschen in den politischen Institutionen, in der Verwaltung, in Unternehmen und auch in der Wissenschaft dieses Versprechen ganz ähnlich sehen, ganz einfach, weil sie die Probleme einer komplexer werdenden Welt nicht mehr anders lösen können. Aber es besteht natürlich die Gefahr, dass dieses Versprechen dadurch entleert wird, dass diese Institutionen ihr Handeln entweder durch Pseudo-Beteiligung verbrämen oder Verantwortung an diffuse Beteiligungsprozesse abschieben und ihren Gestaltungsanspruch aufgeben. Viele dieser Probleme lassen sich augenblicklich im Umgang mit den Ergebnissen des französischen Klimabürgerrats beobachten.

Hinzu kommt noch die zusätzliche Komplikation, dass häufig externe Dienstleister vollständig für die Konzipierung und Durchführung von Beteiligungsprozessen verantwortlich sind und es damit auch auf der operativen Ebene zu Verantwortungsdiffusion kommt.

Viele Fallstricke und mögliche Komplikationen …

Ja. Deshalb brauchen wir innerhalb der beteiligenden politischen und administrativen Institutionen Klarheit über den jeweiligen Zweck von Beteiligung sowie einen langfristigen Aufbau von Kompetenzen. Nach außen braucht es dagegen ein klares Erwartungsmanagement, das den Rahmen und die Möglichkeiten der jeweiligen Beteiligungsangebote klar und verbindlich definiert und klarstellt, was mit den Ergebnissen passieren wird und wo die letztliche Verantwortung für die Entscheidungen liegt.

Wie kann man in Beteiligungsprozessen auch regionale und nationale Unterschiede berücksichtigen? Welche sind Ihrer Ansicht nach von Relevanz?

Bürgerinnen und Bürger auf einer partizipativen Veranstaltung des Forschungsprojektes APV-RESOLA – Agrophotovoltaik – Ein Beitrag zur ressourceneffizienten Landnutzung. Foto: Johannes Hirsch

Ein wesentliches Anliegen der Arbeiten am IASS war für mein Team und mich, Alternativen zu den etablierten Modi der Politikberatung zu erproben. Politikberatung funktioniert heute ja meist immer noch nach einem linearen Modell: Die Wissenschaft liefert die (häufig disziplinäre) Evidenz und formuliert Handlungsempfehlungen, die Politik trifft dann Entscheidungen. Die augenblickliche Pandemie zeigt uns eindrücklich, dass dieses Modell aller formulierten Kritik zum Trotz weiter sehr dominant ist.

In einem BMBF-geförderten Projekt wollten wir deshalb herausfinden, wie man vor allem mit einem Problem linearer Politikberatung umgehen und eine stärker „responsive“ Politikberatung entwickeln kann: Wie bringt man die Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger „bottom up“ in der Entwicklung von Handlungsoptionen zur Geltung, auch wenn es um die „großen“ Systemfragen des regionalen Strukturwandels geht, z. B. den Kohleausstieg?

„Die Welt verändern wir nur gemeinsam und das beste Instrument dafür ist immer noch die Demokratie.“

Sie meinen das Projekt „Sozialer Strukturwandel und responsive Politikberatung in der Lausitz“?

Genau. Das Projekt hat einen starken Anteil von Feld- und Aktionsforschung. Zugleich haben wir einen kontinuierlichen Dialog mit den politischen Entscheidungsträgern entwickelt anstatt nur ad hoc-Empfehlungen zu diesem oder jenem Problem zu formulieren. Das war vor allem auch deshalb von Bedeutung, weil die zivilgesellschaftlichen Strukturen der Lausitz durch die Nachwendeerfahrungen sehr geschwächt waren und wir so mit allen Akteuren gemeinsam an neuen Kommunikationswegen gearbeitet haben.

Sie sind seit dem 1. Februar 2021 Vizepräsidentin des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung (BASE). Das BASE hat vor, in den kommenden Jahren einen weiteren Fokus darauf zu legen, wie sich wissenschaftliche und gesetzlich vorgegebene Beteiligungsverfahren zielgerichtet auf die Lebenswirklichkeit von Menschen und Institutionen übertragen lassen. Wie kann da Ihre Expertise für Fragen der Demokratie und Nachhaltigkeitstransformation einfließen und vor allem Ihr „Brennen“ für Bürgerbeteiligung?

Ein wesentliches Tätigkeitsfeld des BASE ist die Suche nach einem Standort für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle. Wie Sie sicher wissen, ist das eine Aufgabe geradezu historischen Ausmaßes: Sowohl mit Blick auf die Bürden der Vergangenheit, die aus dem Konflikt um die Nutzung der Kernenergie in der Bundesrepublik resultieren. Andererseits auch mit Blick auf die langen historischen Zeiträume, die für die Lösung dieses Problems notwendig sind: Ein Standort für ein Endlager soll ja bis 2031 gefunden werden, die Fertigstellung des Endlagers und der Beginn der Einlagerung der Abfälle ist für 2050 vorgesehen. Die Dauer der sicheren Einlagerung von einer Million Jahren übersteigt ja ohnehin das menschlich Vorstellbare …

Der Standort für dieses Endlager soll in einem wissenschaftsbasierten, partizipativen, transparenten, selbsthinterfragenden und lernenden Verfahren gefunden werden. Dieses Verfahren wurde 2017 mit dem Standortauswahlgesetz geregelt und in diesem Zuge wurde das BASE[1] gegründet. Ein solcher Prozess, der über einen solchen Zeitraum immer wieder Beteiligungsprozesse und -formate vorsieht, ist meines Wissens weltweit einmalig und für die Bundesrepublik ist es eine unglaubliche Chance, das Kapitel der Kernenergienutzung zu schließen. Zugleich ist es natürlich auch eine ebenso anspruchsvolle wie reizvolle Herausforderung, diese Chance nun wirklich zu nutzen, indem wir diesen Prozess mit (Beteiligungs-)Leben erfüllen und im BASE als junger Behörde die dafür notwendigen umfassenden Beteiligungskompetenzen aufbauen.

„Politikberatung funktioniert heute ja meist immer noch nach einem linearen Modell: Die Wissenschaft liefert die (häufig disziplinäre) Evidenz und formuliert Handlungsempfehlungen, die Politik trifft dann Entscheidungen.“

Im Jahr 2031 soll über den Standort des Endlagers entschieden werden, frühestens ab 2050 könnte das Endlager in Betrieb genommen werden. Mit diesen langen Zeiträumen betrifft das Thema besonders die Bürger*innen, die heute jung sind. Wie sollen sich junge Menschen bei dem Thema Endlagersuche beteiligen können?

Ganz generell gilt natürlich, dass die Endlagerung der hochradioaktiven Abfälle ein Problem darstellt, mit dem maßgeblich Menschen konfrontiert sind, die nie direkt von den Vorteilen der Kernenergie profitiert haben. Insofern ist es in meinen Augen auch eine Frage der Gerechtigkeit, dass wir dieses Problem nicht mehr auf die lange Bank schieben, sondern jetzt entschieden angehen.

Innerhalb des Verfahrens stellt sich natürlich dasselbe Gerechtigkeitsproblem wieder und hier müssen wir zumindest unser Möglichstes tun, um zu verhindern, dass hier über die Köpfe der heute jungen Menschen hinweg diskutiert wird, die von den letzten Stufen der Endlagersuche und dann seiner Errichtung wesentlich betroffen sein werden. Gleichzeitig müssen wir aber auch im eigenen Interesse daran arbeiten, dass weiterhin das öffentliche Bewusstsein dafür wach bleibt, dass die Endlagerung ein wichtiges Projekt ist. Wenn der gesellschaftliche Rückhalt für das Endlagerprojekt schwindet, ist damit zu rechnen, dass auch politischer Gegenwind für das Verfahren entstehen wird.

Deshalb führt das BASE eigene Informationsangebote für junge Menschen und zielgruppenspezifische Workshops durch und setzt sich dafür ein, dass die im Verfahren vorgesehenen Beteiligungsformate auch für junge Menschen zugänglich und ansprechend gestaltet werden.

Sie werden auf der Seite des BASE mit der Aussage zitiert: „Mich hat beeindruckt, wie sich das BASE als junge Behörde beim Aufbau von seinen Arbeitsweisen und Strukturen bis hin zur Erarbeitung zentraler Arbeitsfelder wie der Forschungsagenda auf Öffentlichkeitsbeteiligung ausrichtet. Damit kann die Arbeit des BASE Modellcharakter für andere Politikfelder entwickeln“. Was macht das BASE besonders?

Wie ich bereits eingangs unseres Gesprächs bemerkt habe, findet derzeit eine langfristige Transformation des politischen und des administrativen Systems statt. Das neue Standortauswahlverfahren, ebenso wie die Gründung des BASE würde ich schon als ein Zwischenergebnis dieser Transformation sehen. Insofern ist die Aufgabenstellung des BASE im Kontext des Standortauswahlverfahrens eben selbst in meinen Augen sehr fortschrittlich. Wenn wir unsere Aufgabe gut lösen, kann das BASE durch Prototypen und Modelle aber auch als Organisation womöglich zur Inspiration für andere Institutionen und Verfahren werden, sei dies nun im Bereich der Umweltpolitik oder vergleichbarer konfliktbehafteter und komplexer Großprojekte in ganz anderen Politikbereichen.

Fußnote

[1]   Damals noch unter dem Namen „Bundesamt für die Sicherheit der kerntechnischen Entsorgung“ (BfE).