Rezension

Sorge ohne Fatalismus

Ambivalenzen immer tiefer gehender Digitalisierung

Uwe Schimank, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik, Universität Bremen, Mary-Somerville-Str. 9, 28359 Bremen (uwe.schimank@uni-bremen.de)

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TATuP Bd. 30 Nr. 1 (2021), S. 83–84, https://doi.org/10.14512/tatup.30.1.83

Weyer, Johannes (2019): Die Echtzeitgesellschaft. Wie smarte Technik unser Leben steuert. Frankfurt am Main: Campus. 194 S., 24,95 €, ISBN 9783593510132

Soviel vorab zu Johannes Weyers 2019 erschienenem Buch Die Echtzeitgesellschaft – Wie smarte Technik unser Leben verändert: Es ist sehr lesenswert, gut geschrieben und enthält viele interessante Beobachtungen und Einschätzungen, konzeptionelle Erwägungen und empirische Befunde. Der Autor, der als ausgewiesener Techniksoziologe den Lesern nicht vorgestellt zu werden braucht, resümiert eigene Forschungen der letzten zwanzig Jahre. Dabei geht es ihm nicht um die Details seiner verschiedenen Forschungsprojekte; er will große Linien, die die Projekte zu einer übergreifenden Forschungsagenda verbinden, ziehen.

Echtzeitgesellschaft: Handlungs- und techniksoziologischer Rahmen

Im Buchtitel wird eine neue „Bindestrich-Gesellschaft“ (Tyrell und Petzke 2008) angekündigt: die „Echtzeitgesellschaft“. Freilich hat diese Gegenwartsdiagnose, im Unterschied zu den meisten anderen, einen klaren handlungs- und techniksoziologischen theoretischen Bezugsrahmen und versteht sich als empirisch fundiert. Diese unübersehbaren Vorzüge führen den Autor allerdings dazu, immer wieder sein eigentliches Thema mit sehr pauschalen Auslassungen über die beklagenswerten Erkenntnisangebote der heutigen Soziologie und darüber, wie Computersimulationen als methodischer Zugang zur Überwindung dieser Schwächen beitragen könnten, zu überlagern. Dadurch stockt der Argumentationsgang hier und da, und der thematische Kern gerät aus dem Blick. Ich werde im Weiteren diese beiden Nebenstränge nicht weiter kommentieren, obwohl sie teils zustimmende, teils kritische Kommentare verdienten, sondern mich auf die vorgelegte Zeitdiagnose konzentrieren. Als zentrales Merkmal der „Echtzeitgesellschaft“ interessieren den Autor die Folgen einer nahezu zeitgleichen Beobachtung und Bewertung von Zuständen, Ereignissen und Handlungen auf der einen Seite, der daraus hervorgehenden Ausrichtung von Folgeprozessen – insbesondere Handlungen – auf der anderen. Diese Ausrichtung kann eher ‚weich‘ in Gestalt von Empfehlungen oder einem Menü vorgegebener Alternativen oder eher ‚hart‘ als Weisungen oder faktische Setzungen erfolgen. Verkehrsleitsysteme – eines der vom Autor herangezogenen Beispiele, das er auch selbst untersucht hat – nutzen die ganze Palette von ‚weich‘ bis ‚hart‘.

Handlungstheoretisch betrachtet ist der springende Punkt an der in immer mehr Lebensbereichen und gesellschaftlichen Sphären immer häufiger so operierenden „Echtzeitgesellschaft“ eine neuartige Differenzierung von Handlungsentwurf und -durchführung. Beides wird nicht nur, wie bei jeder Planung, zeitlich separiert: erst der Entwurf, dann die Durchführung. Dies wird vielmehr kombiniert mit einer sehr weitreichenden sozialen und sachlichen Separierung: Der Durchführende wie z. B. der Autofahrer gibt den Entwurf seines Tuns in erheblichem Maße – manchmal so gut wie vollständig – an andere Akteure sowie an Technik vor allem in Gestalt von Algorithmen ab. Auch das ist nichts völlig Neues. Insbesondere Organisation als soziales Gebilde beruht darauf, dass Mitglieder in ihrem Handeln meist nicht viel selbst zu entscheiden haben, sondern mehr oder weniger nur Durchführungsagenten weitgehend vorentschiedener Organisationsprogramme, insbesondere in Gestalt strikter „standard operating procedures“ (Nelson und Winter 1982), sind. Doch die „Echtzeitgesellschaft“ findet erstens keineswegs nur im Rahmen von Organisationen statt, sondern z. B. auch bei der privaten Urlaubsplanung. Zweitens beschleunigt die „Echtzeitgesellschaft“ die Durchführung von Handeln, Startzeitpunkt wie Geschwindigkeit, in vielen Fällen enorm gegenüber dem, was organisationale Routinen durch ihre Reflexionsentlastung leisten. Drittens schließlich stehen hinter den technisch generierten Handlungsentwürfen in dem Maße, in dem lernfähige Algorithmen zugrunde liegen, in immer geringerem Maße menschliche Programmierer und deren Technikdesign, sondern Selbstumgestaltungen der Algorithmen auf Grund der von ihnen vollzogenen Beobachtungen und Bewertungen. Diesen Aspekt einer sich immer stärker pfadabhängig selbstprogrammierenden Technik als Produzent von Handlungsentwürfen für menschliche Akteure thematisiert der Autor nur am Rande, obwohl hierin ein weiteres starkes Argument für seine Diagnose der „Echtzeitgesellschaft“ liegt.

Folgen der Echtzeitgesellschaft

Maßgebliche Treiber in Richtung „Echtzeitgesellschaft“ sind für den Autor die fortschreitende Digitalisierung und – durch das Internet – digitale Vernetzung aller Arten von Aktivitäten. Das Internet fungiert hierbei als ein großtechnisches System zweiter Ordnung. Es durchdringt und verknüpft alle anderen Arten großtechnischer Systeme, von denen der Autor neben den Verkehrssystemen die Energieversorgung immer wieder als Beispiel heranzieht. Dieser Betrachtung der Genese der „Echtzeitgesellschaft“ widmet sich der Autor aber kaum, weil dazu schon andere Vieles gesagt haben. Ihn interessieren vielmehr die intendierten und transintentionalen Folgen der skizzierten Differenzierung von Handlungsentwurf und -durchführung, die er in ihrer tiefen Ambivalenz herausarbeitet. Einerseits gibt es zahlreiche sehr positive Folgen: in sozialer Hinsicht die bereits erwähnte Entlastung der menschlichen Akteure von Reflexionsaufwand, in sachlicher Hinsicht die Effizienz- und Effektivitätssteigerungen durch Verlagerung von Handlungsentwürfen zu kundigen Experten und intelligenten Algorithmen sowie in zeitlicher Hinsicht die schnellere Erledigung von Angelegenheiten. Aus all diesen Gründen optieren unterschiedlichste Rollenträger – Piloten und Steuerungspersonal von Kernkraftwerken ebenso wie Autofahrer oder Jogger – dort, wo ein „Echtzeit“-Angebot vorliegt, freiwillig für dessen Nutzung, mit der das Versprechen einhergeht, Handeln im besten Interesse des Durchführenden – besser als er selbst es verstünde – zu entwerfen.

Dem stehen andererseits unübersehbare negative Folgen gegenüber: sachlich die Undurchschaubarkeit der den Handlungsentwürfen zugrundeliegenden Kalkulationen, sozial der daraus sich ergebende Kontrollverlust der Durchführenden gegenüber den Entwurfsinstanzen sowie zeitlich der Beschleunigungsdruck, der in der Begriffsprägung „Echtzeitgesellschaft“ und im kritischen Bezug auf Hartmut Rosas (2006) bekannte Beschleunigungsthese als einziger gesellschaftstheoretischer Referenz etwas zu stark in den Vordergrund rückt. Der Kontrollverlust schlägt umso negativer zu Buche, je vollständiger die Abgabe der Handlungsentwürfe erfolgt, wenn gleichwohl für den Notfall eines Ausfalls der vorgelagerten Instanzen die eigene Entwurfsfähigkeit menschlicher Akteure – z. B. Piloten – erhalten bleiben muss. Das setzt ständiges Training voraus, was aber die Effizienzvorteile der Reflexionsentlastung wieder ein Stück weit zunichtemacht und auch ansonsten aufwändig und damit teuer ist, weshalb es oft vernachlässigt wird.

Technologienutzung und regulative Gestaltung

Soweit die durchweg überzeugende, auch dort, wo noch keine bündigen Antworten möglich sind, zumindest die richtigen Fragen stellende techniksoziologisch angeleitete Diagnose einer zentralen Dynamik gegenwärtiger Gesellschaften. Zum techniksoziologischen analytischen Bezugsrahmen kann ich mich kurz halten. Der Autor entwickelt hier erfreulicherweise keinen künstlichen Ehrgeiz, ach wie originell sein zu müssen und dabei in Wirklichkeit das Rad zum siebzehnten Mal neu zu erfinden. Er bedient sich vielmehr völlig ausreichend einer vielfach bewährten, relativ konventionellen Anwendung soziologischer Handlungstheorie auf seinen Gegenstandsbereich.

Damit entfällt im Übrigen auch verkrampftes Gerede über „Aktanden“, also die angebliche Handlungsfähigkeit von Türgriffen oder Computerprogrammen. All solchen techniksoziologischen Verwirrspielen entgeht der Autor handlungstheoretisch angeleitet souverän und erspart diese damit auch seinen Leserinnen. Anstatt hier eine „symmetrische Anthropologie“ zu postulieren, kann man sehr präzise darlegen, wo und wie menschliche Handlungsfähigkeit zunehmend durch technische Wirkmechanismen substituiert wird, die damit immer relevantere funktionale Äquivalente werden; und man mag dabei auch von Als-ob-Handeln in dem Sinne reden, dass technische Wirkungen immer öfter mit menschlichem Handeln verwechselbar geworden sind. Das ist ein Teil dessen, was als menschlicher Kontrollverlust zu registrieren ist.

Am Ende verfällt der Autor dennoch keinem apokalyptischen Abgesang auf die Menschheit, die in der „Echtzeitgesellschaft“ endgültig die Geister, die sie rief, nicht mehr zu bändigen vermag. Sowohl auf der operativen Ebene der Nutzung bestimmter Technologien als auch auf der Ebene regulativer Gestaltung sozio-technischer Arrangements sieht er Möglichkeiten für eine intelligente „Politik der Echtzeitgesellschaft“ (S. 143) in einer Kombination von „zentralistischer Planung“ mit „dezentraler Selbstorganisation“. Diese von Helmut Willke (1995) übernommene These bleibt allerdings in der Anwendung auf sozio-technische Arrangements noch recht allgemein. Hier sollte der Autor noch nicht sein letztes Wort gesprochen haben.

Literatur

Nelson, Richard; Winter, Sidney (1982): An evolutionary theory of economic change. Cambridge, Massachusetts: Belknap.

Rosa, Hartmut (2006): Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Tyrell, Hartmann; Petzke, Martin (2008): Anmerkungen zur ‚Organisationsgesellschaft’. In: Hermann-Josef Große-Kracht und Christian Spieß (Hg.): Christentum und Solidarität. Bestandsaufnahmen zu Sozialethik und Religionssoziologie. Paderborn: Schöningh, S. 435–464.

Willke, Helmut (1995): Steuerungstheorie. Grundzüge einer Theorie der Steuerung komplexer Sozialsysteme. Stuttgart: UVK.