Rezension

Epistemologie der Selbstverwissenschaftlichung

Nils B. Heyen, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI, Breslauer Str. 48, 76139 Karlsruhe (nils.heyen@isi.fraunhofer.de) https://orcid.org/0000-0002-9354-1388

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TATuP Bd. 30 Nr. 1 (2021), S. 79–80, https://doi.org/10.14512/tatup.30.1.79

Zillien, Nicole (2020): Digitaler Alltag als Experiment. Empirie und Epistemologie der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung. Bielefeld: Transcript. 202 S., 30 €, ISBN 9783837648867

Die zunehmende Verwissenschaftlichung der Gesellschaft, gesellschaftliche Realexperimente bzw. neuerdings Reallabore oder allgemein ein gewisser Experimentalcharakter der Gegenwartsgesellschaft werden in der Wissenschafts- und Technikforschung, vor allem in der Wissenschaftssoziologie, seit Langem konstatiert, beobachtet und analysiert. Die Verwissenschaftlichung des Alltagslebens vieler Menschen ist dabei eine eher unterbelichtete Facette. Durch die umfassende Verbreitung digitaler Technologien hat sie allerdings einen kräftigen Schub erfahren. In ihrem im Sommer 2020 erschienen Buch „Digitaler Alltag als Experiment. Empirie und Epistemologie der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung“ widmet sich Nicole Zillien, Professorin für Soziologie im Schwerpunkt Mediensoziologie an der Justus-Liebig-Universität Gießen, dieser Thematik. Am Beispiel der ernährungsbezogenen digitalen Selbstvermessung entfaltet sie ihre These der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung, die im Kern besagt, „dass Laien zur Beantwortung individueller Handlungs- und Entscheidungsfragen ihr eigenes Alltagsleben verwissenschaftlichen und diesen Verwissenschaftlichungsprozess wiederum mit (mehr oder weniger) wissenschaftlich-technischen Mitteln unter die Lupe nehmen. Laien machen ihr Leben somit zum Experiment.“ (S. 9)

Das Buch gliedert sich in drei Teile, eingerahmt von einer knappen Einleitung, die den Argumentationsgang der Arbeit bereits prägnant zusammenfasst, und einem sehr kurzen Ausblick. Im ersten Teil „Erkenntnistheoretische Ausgangspunkte“ werden die in der Wissenschafts- und Technikforschung wohlbekannten Erkenntnistheorien von Ludwig Fleck, John Dewey und Gaston Bachelard aus dem frühen 20. Jahrhundert referiert, um darauf aufbauend acht „Eckpunkte der experimentellen Wissensgenerierung“ zu erarbeiten, welche auch die weiteren Überlegungen strukturieren. Demnach zeichnet sich die Generierung wissenschaftlichen Wissens dadurch aus, dass sie „auf die Reduktion individueller Unsicherheit zielt, experimentell und unter Rückgriff auf Technologien hergestellt wird, dabei nach einer Verbesserung der eingesetzten Methoden strebt, die Abstraktion von Wissen vornimmt, die Relevanz des Forschersubjekts herausstellt, von der sozialen Konstruiertheit wissenschaftlichen Wissens ausgeht und auf problemlösende Interventionen zielt“ (S. 76).

Im zweiten Teil „Empirie der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung“ werden diese acht Eckpunkte zunächst durch eine systematische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand der Wissenschafts- und Technikforschung angereichert – angesichts des Titels „Empirie“ etwas irritierend. Erst dann wird das empirische Beispiel der digitalen Selbstvermessung des Ernährungsverhaltens in den Blick genommen. Dazu erfolgt zum einen eine Artefaktanalyse einschlägiger Diet-Tracking-Apps, die – vermittelt über die zentrale Maßzahl der Kalorie – Lebensmittel und körperliche Aktivitäten quantifizieren und dadurch vor allem als „Objektivitätsgeneratoren“ (S. 124) fungieren. Zum anderen werden drei online-ethnographische Fallstudien skizziert, die auf Basis von drei auf Foren oder Blogs dokumentierten Selbstvermessungsprojekten (mit dem primären Ziel der Gewichtsreduktion) die Praktiken der Ernährungsvermessung veranschaulichen. Im kurz gehaltenen dritten Teil „Epistemologie der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung“ wird dann noch einmal anhand der acht Eckpunkte pointiert dargelegt, wie die Selbstvermesser*innen „ausgehend von individuellen Problemlagen in einer durch die Fragilität und Konflikthaftigkeit wissenschaftlichen Wissens bedingten Unsicherheitssituation unter Rückgriff auf digitale Medien in experimentellem Vorgehen nach einer wissenschaftsorientierten und zugleich pragmatischen Alltagslösung suchen“ (S. 163).

Insgesamt besticht das Buch durch eine klare Leser*innenführung und eine auch für Nicht-Soziolog*innen leicht zugängliche Sprache. Inhaltlich überzeugt zudem die im Buch detailliert ausgearbeitete These der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung, vor allem wenn man sie als Deutungsangebot für anspruchsvolle Praktiken der digitalen Selbstvermessung versteht. Hier fügt sie sich ein in ein mittlerweile differenziertes Bild digitaler Self-Tracking-Praktiken, das diese nicht einfach nur kulturkritisch als neuesten Exzess einer Kontroll-, Disziplinar- oder Leistungsgesellschaft interpretiert, sondern in ihrer Vielschichtigkeit ernst nimmt (für einen Überblick siehe Duttweiler et al. 2016; Selke 2016). Während die digitale Selbstvermessung in ihren forschungsnahen Formen an anderer Stelle als „Personal Science“ bezeichnet und eine daraus entstehende Selbstexpertisierung betont worden ist (Heyen 2020), ist es das Verdienst des vorliegenden Buches, die Epistemologie dieser Wissensproduktion durch Laien ausbuchstabiert zu haben. Dabei weist die Arbeit eindrucksvoll nach, wie erkenntnistheoretisch nahe diese Wissensgenerierung im Alltag zur experimentellen Produktion wissenschaftlichen Wissens steht.

Digitale Technologien sind Treiber der Verwissenschaftlichung des Alltagslebens.

Weniger überzeugend ist das für die Darstellung gewählte Verhältnis von These, Theorie und empirischem Fall sowie der damit transportierte Geltungsanspruch. Die digitale Selbstvermessung wird explizit (nur) als empirisches Beispiel eingeführt (S. 10). Und in der Tat, würde das Buch seinen Ausgangspunkt von der digitalen Selbstvermessung nehmen, um auf Grundlage empirischer Analysen die These und (Erkenntnis-)Theorie der reflexiven Selbstverwissenschaftlichung zu entwickeln, hätte der Empirie ein größerer Stellenwert eingeräumt werden müssen. Umso mehr würde sich dann freilich die Frage aufdrängen, inwieweit These und Theorie auch auf andere Formen des Self-Tracking zutreffen bzw. wo differenziert werden müsste: Inwiefern wäre etwa auch das vergleichsweise ambitionslose digitale Schrittzählen von Gelegenheits-Jogger*innen oder das digitale Blutdruck-Monitoring von Schlaganfall-Patient*innen als reflexive Selbstverwissenschaftlichung zu deuten? Indem das Buch aber These und Epistemologie in den Mittelpunkt stellt und letztere sogar zu „einem zeitdiagnostischen Konzept ausgearbeitet“ (S. 15) haben will, ist der Geltungsanspruch noch einmal erheblich gesteigert. Dann aber stellt sich erst recht die Frage, welche weiteren zeitgenössischen Alltagspraktiken womöglich ebenfalls Züge einer reflexiven Selbstverwissenschaftlichung tragen – jenseits des im Buch ausschließlich besprochenen digitalen Diet-Tracking zur Gewichtskontrolle, aber auch jenseits der digitalen Selbstvermessung insgesamt. Man denke etwa an selbstbezogene Do-It-Yourself-Praktiken im Gesundheitsbereich, Body Hacking oder auch an genetische Direct-To-Consumer-Tests, bei denen zwar die Produktion der Testergebnisse ausgelagert ist, nicht aber deren Interpretation und Anwendung im Alltag (vgl. die Beispiele in Heyen et al. 2019). Hier hätte man gerne mehr erfahren.

Für die Technikfolgenabschätzung sind insbesondere zwei Aspekte relevant. Zum einen macht das Buch deutlich, dass sich die allgemein konstatierte Verwissenschaftlichung bzw. der Experimentalcharakter der Gegenwartsgesellschaft längst auch im Alltagsleben widerspiegelt und dass digitale Technologien Treiber dieser Entwicklung sind. Zum anderen ist die Studie ein weiterer Beleg dafür, dass bei der Folgenabschätzung von Selbstvermessungstechnologien (Heyen 2016; Scheermesser et al. 2018) auch Selbstverwissenschaftlichung bzw. Selbstexpertisierung als mögliche Effekte in den Blick zu nehmen sind.

Literatur

Duttweiler, Stefanie; Gugutzer, Robert; Passoth, Jan-Hendrik; Strübing, Jörg (Hg.) (2016): Leben nach Zahlen. Self-Tracking als Optimierungsprojekt? Bielefeld: Transcript. https://doi.org/10.14361/9783839431368

Heyen, Nils (2016): Digitale Selbstvermessung und Quantified Self. Potenziale, Risiken und Handlungsoptionen. Policy Paper. Karlsruhe: Fraunhofer ISI.

Heyen, Nils (2020): From self-tracking to self-expertise. The production of self-related knowledge by doing personal science. In: Public Understanding of Science 29 (2), S. 124–138. https://doi.org/10.1177/0963662519888757

Heyen, Nils; Dickel, Sascha; Brüninghaus, Anne (Hg.) (2019): Personal Health Science. Persönliches Gesundheitswissen zwischen Selbstsorge und Bürgerforschung. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16428-7

Scheermesser, Mandy; Meidert, Ursula; Evers-Wölk, Michaela; Prieur, Yvonne; Hegyi, Stefan; Becker, Heidrun (2018): Die digitale Selbstvermessung in Lifestyle und Medizin. Eine Studie zur Technikfolgenabschätzung. In: TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis 27 (3), S. 57–62. https://doi.org/10.14512/tatup.27.3.57

Selke, Stefan (Hg.) (2016): Lifelogging. Digitale Selbstvermessung und Lebensprotokollierung zwischen disruptiver Technologie und kulturellem Wandel. Wiesbaden: Springer VS. https://doi.org/10.1007/978-3-658-10416-0