REZENSION

10% Less Democracy

Malte Neuwinger, Universität Bielefeld, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld (malte.neuwinger@uni-bielefeld.de)

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TATuP Bd. 29 Nr. 2 (2020), S. 68–69, https://doi.org/10.14512/tatup.29.2.68

Jones, Garett (2020):
10% Less Democracy.
Why you should trust elites a little more and the masses a little less.
Stanford: Stanford University Press.
248 S., 24,99 €,
ISBN 9781503603578

Garett Jones argumentiert in seinem 2020 erschienenen Buch 10% Less Democracy für die Vorteile geringeren Wähler*inneneinflusses auf Regierungsentscheidungen. Die Kernpunkte lassen sich ungefähr so zusammenfassen:

  1. Mehr Demokratie bedeutet: Mehr Menschen haben Anteil an politischen Entscheidungsprozessen. Mehr Demokratie führt nicht automatisch zu „guten“ oder „richtigen“ Entscheidungen.
  2. Ob mehr Demokratie politische Entscheidungen verbessert, ist eine empirische Frage. Und empirisch zeigt sich: Im Vergleich zu autokratischen Systemen führt mehr Demokratie zunächst zu besserer Politik – aber nachdem das Optimum der Wähler*innenbeteiligung überschritten ist, geht es auch wieder abwärts.
  3. Ergo: Wem die Qualität politischer Entscheidungen wichtig ist, sollte nicht zwangsläufig mehr Demokratie fordern. Stattdessen geht es um das richtige Maß. Und möglicherweise besteht dieses Maß in 10% weniger Demokratie.

Jones, Professor für Wirtschaftswissenschaft an der George Mason University nahe Washington D.C., ist natürlich klar, dass er sich mit dieser Idee nicht nur Freunde macht: Das Buch beginnt mit einer kurzen Impression des veritablen Shitstorms, den sich der Autor 2015 durch einen Vortrag zu den oben genannten Thesen einhandelte. Aber die kalkulierte Provokation macht das Buch durchaus reizvoll. Die zugrundeliegenden Fragen sind: Verbessert mehr Demokratie die Politik? Inwiefern? Was wäre, wenn nicht?

Weniger ist mehr?

Jones betont, dass er die Demokratie keineswegs abschaffen will. Aber für reiche, „westliche“ Länder mit fest etablierten demokratischen Regierungen seien 10% weniger Demokratie zweckmäßiger als 10% mehr. Um dies zu belegen, präsentiert der Autor Politikbereiche, in denen relativ wenig Wähler*inneneinfluss bereits jetzt als eher vorteilhaft angesehen werde – und macht Vorschläge wie sich das weiter ausbauen ließe.

Obwohl viele dieser Vorschläge nicht neu sind, gewinnen sie durch die zahlreichen von Jones zitierten empirischen Studien durchaus eine gewisse Faszination: Vor anstehenden Wahlen sind Politiker*innen vor allem damit beschäftigt, die Gunst der Wähler*innen zu gewinnen. Längere Legislaturperioden versprächen dagegen „slightly braver, more technocratically oriented, less populist politicians“ (S. 178), und somit mehr laut Expert*innenmeinung langfristig sinnvolle aber kurzfristig unpopuläre Entscheidungen (Kapitel 2). Durch expansive Geldpolitik können Notenbanken kurzfristig der Wirtschaft helfen. Aber die langfristig erfolgversprechende – jedoch allgemein unpopuläre – Variante seien von der Regierung unabhängige Notenbanken, deren Mandat auf die Überwachung der Inflationsrate begrenzt ist (Kapitel 3). Richter sollen unabhängig Recht sprechen und nicht von Partikularinteressen geleitet sein. Die Auswahl von Personen zum Schutz der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ erfolge deshalb möglichst undemokratisch – nach Kriterien der Profession und mit langen Amtszeiten. Auch Regulierungsbehörden (z. B. die Bundesnetzagentur) haben entscheidende Bedeutung für die Erhaltung der bestehenden Ordnung und seien deshalb vor größerem Wähler*inneneinfluss geschützt (Kapitel 4). Für all diese Bereiche gilt laut Jones: Anspruchsvolle, schwer von Nicht-Expert*innen zu überblickende Politikfelder profitieren enorm von ihrer „Unabhängigkeit“ – also von geringerer demokratischer Beteiligung. Dementsprechend sei auch etwa die Steuerpolitik eine Kandidatin für mehr technokratische Entscheidungen und sollte nicht Teil demokratischer Wahlen sein.

Ab Kapitel 5 versucht der Autor, die Argumentation für eine vorteilhafte Begrenzung von Demokratie auf weitere Bereiche zu übertragen. Dabei werden die Vorschläge zunehmend kontroverser: Jones zeigt, dass der Bildungsgrad der Wähler*innen einen starken Einfluss auf den Ausgang von Wahlen hat. Also, warum nicht bestimmte Wahlentscheidungen abhängig von kognitiven Fähigkeiten machen? Eine so etablierte „epistocracy“ (S. 103) habe deutlich mehr Aussicht darauf, informierte Entscheidungen zu treffen. Und auch die Idee von „investor-inclusive governance“ (S. 126) macht Jones zufolge gut durchdachte Entscheidungen wahrscheinlicher: Da Halter von Staatsanleihen ihre Investition mit Zinsen zurückerwarten, hätten sie letztlich größeres langfristiges Interesse an der Politik eines Landes als dessen Wähler*innen. Warum also nicht den Gläubigern eines Landes eine formale Beraterrolle in der Regierung anbieten? Wenn ein Großteil nationaler Politik ohnehin durch globale Investoren bestimmt wird, warum sollte die Art und Weise der Einflussnahme nicht wenigstens reglementiert und formalisiert werden?

Die Behauptung, Expert*innen hätten immer Recht, scheint aus der Zeit gefallen.

Lobbyismus, Klientelpolitik und die Überzeugungskraft finanzieller Vorteile (Kapitel 7) vollenden die Reformvorschläge für eine Regierung mit 10% weniger Demokratie. Wenn Bürger*innen über alle fragwürdigen politischen Deals abstimmen könnten, so die These, würde die „political machine“ (S. 142) schlicht nicht mehr funktionieren. Stabile politische Bündnisse beruhten mehr auf dem an politischen Realitäten orientierten Kuhhandel als auf Inputs naiver Wähler*innen. Umgekehrtes gelte für den Aufstieg sozialer Medien, welche mit ihrem exzessiven Fokus auf aktuelle Ereignisse und der Tendenz zur Filterblase langfristiges Denken unmöglich machten. Die aus dieser Kurzfristigkeit entstehenden „noisy elections“ (S. 146) hätten somit geringere Chancen, zu wohlüberlegten politischen Entscheidungen zu führen. Dementsprechend schlägt Jones vor, Wahlen „gestaffelt“ stattfinden zu lassen, um den Einfluss eines bestimmten Medienereignisses auf die Regierungsbildung zu reduzieren.

Kapitel 8 und 9 wenden die vorgestellten Reformvorschläge auf zwei Fallbeispiele an. Die Europäische Union mit ihren tendenziell langen Amtszeiten, vielen von Wahlentscheidungen unabhängigen Organisationen und einer aufgrund von Selbstselektion tendenziell höher gebildeten Wählerschaft wird zum Modell von 10% weniger Demokratie. Singapur mit seiner beeindruckenden ökonomischen Entwicklung, relativ unabhängigen Gerichten, langen Legislaturperioden und illiberalen Tendenzen ist für Jones gleichzeitig Vorbild und Grund zur Warnung vor einer Entwicklung hin zu 50% weniger Demokratie.

Konservatismus, Elitismus und Technokratie

Vor- und Nachteile reduzierten demokratischen Einflusses werden in 10% Less Democracy durchaus fair diskutiert. Zumindest in den ersten vier Kapiteln kann man sich der Argumentation teilweise schwer entziehen: Akzeptiert man langfristige Stabilität als oberstes politisches Ziel, wird man Wähler*inneneinfluss auf Notenbanken, Rechtssystem, Regulierungsbehörden oder Verwaltungen skeptisch gegenüberstehen. Und sind Leser*innen bereit, dem Autor auch nur so weit zu folgen, sehen sie sich mit einer unbequemen Frage konfrontiert. Jones scheint sagen zu wollen: „Dort wo die Dinge wirklich funktionieren müssen, zweifelt fast niemand an der Überlegenheit technokratischer Entscheidungen. Also warum sollte 10% weniger Demokratie ein so kontroverser Vorschlag sein? Warum sollte man nicht in viel mehr Bereichen die Expert*innen entscheiden lassen?“

Allerdings gehen dem „professional cynic“ (S. 66) Jones dann ab der Hälfte des Buches zunehmend die Beispiele aus. Er verlässt nun die empirische Grundlage und ersetzt sie durch zunehmend persönliche Einschätzungen auf Basis von Anekdoten und Laissez-Faire-Ideologie. Auch wird deutlich, dass sein utilitaristisches „outcome-based argument“ (S. 108) nur in Bezug auf die von ihm so gelobten „unabhängigen“ Organisationen empirisch haltbar ist. Spätestens beim Versuch, das Profitinteresse globaler Investoren als Berater*innen nationaler Regierungen mit den demokratischen Interessen der Bevölkerung zu vereinigen oder bei dem Vorschlag, Korruption könne zum Garanten erfolgreicher Diplomatie werden, gerät Jones in deutliche Erklärungsnot (S. 139).

Und schließlich bleibt 10% Less Democracy in Bezug auf seine abhängige Variable ziemlich unklar: Was ist mit „guten“ politischen Entscheidungen, die durch 10% weniger Demokratie ermöglicht werden sollen, eigentlich gemeint? Aufgrund dieser Unklarheit muss der Autor sich hier auch die Kritik der Zirkularität gefallen lassen: „Gute“ Politik scheint für ihn darin zu bestehen, dass Entscheidungen von Expert*innen (typischerweise Ökonom*innen) befürwortet werden. Worauf basiert das Kriterium „guter“ Politik in dieser Expert*inneneinschätzung? Darauf, dass es von Expert*innen befürwortet wird. Und so weiter. Bedenkt man, dass dieses Dilemma Generationen von Sozialforscher*innen beschäftigt hat und durchaus Lösungsvorschläge existieren (z. B. Collins und Evans 2007), scheint die Behauptung, Expert*innen hätten definitionsgemäß immer Recht, etwas aus der Zeit gefallen.

Was kann die Technikfolgenabschätzung von dieser Mischung aus Konservatismus, Elitismus und Technokratie lernen? Zunächst einmal nicht viel, könnte man meinen. Aber die Idee der Demokratiereduzierung in demokratischen Regierungen wirft Fragen auf, die man nicht vorschnell als reaktionär abtun sollte: Wie kommt das Mischungsverhältnis zwischen Demokratie und Technokratie zustande? Gibt es tatsächlich ein Optimum? Und wenn schon nicht demokratisch zu legitimieren, wie kann die Mischung aus technokratischen und demokratischen Entscheidungen transparent gemacht werden, um mögliche 10% weniger Demokratie wenigstens nachvollziehbar zu gestalten?

Literatur

Collins, Harry; Evans, Robert (2007): Rethinking expertise. Chicago: University of Chicago Press.