Chronopolitik: Prävention & Präemption

Schwerpunkt: Risikodiskurse/Diskursrisiken. Sprachliche Formierungen von Technologierisiken und ihre Folgen

Chronopolitik: Prävention & Präemption

von Mario Kaiser, Universität Basel

Wie reagieren wir auf die Zukunft? Der Beitrag entwickelt eine Analytik, um das politische Reagieren auf unliebsame Zukünfte zu analysieren. Im Zentrum stehen weniger die Konstruktionen riskanter oder gefährlicher Zukünfte, als vielmehr die politischen Reaktionen auf diese. Mithilfe des Begriffs der Chronopolitik werden zwei idealtypische Reaktionsweisen unterschieden. Während eine präventive Chronopolitik auf gefährliche Zukünfte mit einer Konservierung und Normalisierung der Gegenwart antwortet, zielt eine präemptive Chronopolitik auf eine Reformierung, wenn nicht Revolutionierung der Gegenwart.

1     Reagieren auf die Zukunft

Mitte der 1980er setzte der Film Terminator (Cameron 1984) eine idealtypische Reaktion auf die Zukunft in Szene: Im Jahre 2029 steht die Menschheit am Rande ihres Untergangs. 32 Jahre zuvor hat Skynet, ein militärisches Computersystem, ein Bewusstsein erlangt. Den verzweifelten Versuch, das System noch vor seiner Verselbständigung abzuschalten, wertet es als feindlichen Angriff und verteidigt sich gegen die Menschheit mit einem Atomschlag. Daraufhin beginnt Skynet, die restlichen Menschen mithilfe mobiler Einheiten zu versklaven. Nach Jahrzehnten des Krieges gegen die Maschinen gelingt es schließlich der menschlichen Widerstandsbewegung unter John Connor, einen vernichtenden Schlag gegen Skynet zu organisieren. In letzter Sekunde jedoch schickt das System einen Terminator ins Jahr 1984 – mit dem Auftrag, die Mutter von John Connor zu töten, bevor sie den künftigen Anführer der Rebellion zur Welt bringt. Der Terminator versucht offenkundig mit einer drastischen Kurskorrektur der Gegenwart auf eine unheilvolle Zukunft zu reagieren – eine Zukunft, in der die Existenz der Maschinen auf dem Spiel steht.

Ein Jahr nach Terminator kommt mit Back to the Future (Zemeckis 1985) ein weiterer Film ins Kino, der ebenfalls Zeitreisen zum Thema hat und ebenso zum Kultfilm avanciert. Abgesehen von Zeitreisefilmen[1] wird die erste Hälfte der 1980er Jahre von zwei weiteren zeitrelevanten Interventionen heimgesucht, diese allerdings von reflektierender Natur. Zu Beginn des Jahrzehnts erscheint das Buch The Social Control of Technology (Collingridge 1982), das entscheidende Grundlagen für die kommende Technikfolgenabschätzung legt. Den Dreh- und Angelpunkt des Buches bildet ein Dilemma, das später als Collingridge-Dilemma Prominenz erlangen wird: Zu einem frühen Zeitpunkt lässt sich eine Technologie gut kontrollieren, doch weiß man nur wenig über sie; zu einem späteren Zeitpunkt ist über sie zwar viel bekannt, doch ist sie kaum mehr zu kontrollieren. Und schließlich tauchen in den 1980er Jahren vermehrt die Schriften von Paul Virilio auf, der dem Begriff der Chronopolitik zum Durchbruch verhilft (z. B. Virilio 1980; Virilio 1991).

Die folgenden Überlegungen entwickeln eine Analytik, um das politische Reagieren auf unliebsame Zukünfte zu analysieren. Im Zentrum stehen weniger die (inzwischen gut erforschten) Konstruktionen riskanter oder gefährlicher Zukünfte als vielmehr die politischen Reaktionen auf diese. Dass die Krisen, Katastrophen und Konflikte der Zukunft Konstruktionen sind, die in der Gegenwart angefertigt werden, soll hier nicht bezweifelt werden. Im Gegensatz zum Gros der sozialkonstruktivistischen Literatur möchte es die vorgeschlagene Analytik aber nicht beim Nachweis des Konstruktionscharakters aller Zukünfte bewenden lassen. Insofern politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Diskurse spezifische Zukünfte fortlaufend zu future facts härten, stellt sich nicht mehr nur die Frage, wie Diskurse diese Konstruktionsleistung vollbringen, sondern auch, wie wir auf diese diskursiven Konstrukte reagieren bzw. zu reagieren haben.

Zu diesem Zweck definiert mein Beitrag den Begriff der Chronopolitik neu, illustriert anschließend anhand des Collingridge-Dilemmas die Notwendigkeit und Alltäglichkeit von Zeitreisen. Diese werden von Dutzenden von policy-Dokumenten tagtäglich vollzogen – einerseits, um Wissen in der Zukunft abzuholen, andererseits, um dieses Wissen zur Kontrolle der Gegenwart zu nutzen. Doch wie wird die Gegenwart mithilfe von Zukunftsexpertise kontrolliert und regiert?

Mithilfe der beiden Filme Back to the Future (1985) und Terminator (1984) werden zwei Idealtypen von Chronopolitik gewonnen, um sie für die Analyse von Technikkontroversen fruchtbar zu machen. Standen die Gentechnologie und deren künftige Folgen noch unter dem Paradigma der Prävention (sprich: Konservierung der Gegenwart angesichts riskanter Zukünfte), ist seit den späten 1990er Jahren die chronopolitische Form der Präemption zu registrieren: Im Fall nanotechnologischer Zukünfte etwa wird die Gegenwart im Angesicht riskanter Zukünfte nicht konserviert und normalisiert, sondern im Gegenteil reformiert, wenn nicht gar revolutioniert. Im Kontext der Nanotechnologie führte diese Chronopolitik zu immer neuen Aufforderungen, die Gegenwart angesichts technologisch riskanter Zukünfte radikal anzupassen.

2     Eine Definition von Chronopolitik

Vor dem historischen Hintergrund des Kalten Krieges und besonders der Verknappung der Vorwarnzeit im Falle eines Atomschlages hat Paul Virilio einen Wandel von einer Geo- hin zu einer Chronopolitik diagnostiziert (Virilio 1991, S. 120ff.). Meine Überlegungen nehmen Virilios Diagnose zwar als Ausgangspunkt, präzisieren und modifizieren aber den Begriff der Chronopolitik erheblich. Steht für Virilio noch die Frage im Vordergrund, wie Zeit zur Ressource gemacht und als Ressource ständig verknappt wird, sei hier Chronopolitik wie folgt definiert: Chronopolitik besteht im Management, in der Governance oder in der Steuerung der Differenz zwischen Zukunft und Gegenwart. Mit Blick auf Michel Foucaults Neufassung des Regierungsbegriffs (vgl. Foucault 2004a; Foucault 2004b) lässt sich Chronopolitik auch kurz als Regierung der Differenz zwischen Zukunft und Gegenwart bestimmen. Gewonnen wird mit dieser Präzisierung eine Sensibilisierung für die Frage, was in der Gegenwart aus der Konstruktion und Antizipation dieser oder jener Zukunft politisch folgt. Oder: wie reagieren wir heute auf die Folgen von morgen?

3     Die Lösung des Collingridge-Dilemmas

Das Collingridge-Dilemma veranschaulicht, was es heißt, die Differenz von Zukunft und Gegenwart politisch in den Griff zu kriegen. Letztlich demonstriert es die Notwendigkeit von Zeitreisen, da nur sie in der Lage sind, Zukunftswissen und Gegenwartskontrolle miteinander zu verbinden.

Laut Collingridge (1982, S. 19) besteht das Dilemma in einem prekären Verhältnis von Wissen und Kontrolle. Zu einem frühen Zeitpunkt t1 sind wir in der Lage, die Entwicklung einer bestimmten Technologie zu kontrollieren. Allerdings fehlt uns das dazu nötige Wissen über die künftige Entwicklung der Technologie. Zu einem späteren Zeitpunkt t2 hat sich das Verhältnis invertiert. Nun sind wir bestens über die Technologie informiert, doch unsere Chancen, sie noch in ihrer Entwicklung zu kontrollieren, sind drastisch gesunken (vgl. Abb. 1).

Abb. 1: Das dilemmatische Verhältnis von Wissen und Kontrolle

Das dilemmatische Verhältnis von Wissen und Kontrolle

Quelle: Collingridge 1982, S. 19

Ignorieren wir die zahlreichen Versuche, mit denen in der Technikfolgenabschätzung, der Technikethik oder auch der Wissenschafts- und Technologiepolitik versucht wird, das Dilemma mithilfe faktischer Mittel zu entschärfen, werden wir einer kontrafaktischen Lösung gewahr, die das Dilemma ein für alle Mal löst: die Zeitreise. Mit ihr wäre es möglich, mit dem Wissen der Zukunft in die Gegenwart zu reisen, um hier die Technologie adäquat in ihrer Entwicklung zu kontrollieren (vgl. Abb. 2).

Abb. 2: Die Lösung von Collingridges Dilemma

Die Lösung von Collingridges Dilemma

Quelle: Eigene Darstellung

Es gibt wahrscheinlich kein technikrelevantes policy-Dokument, das jemals diesen Lösungsansatz ernsthaft in Erwägung gezogen hätte. Und dennoch: Ein genauerer Blick in entsprechende Dokumente verrät, wie sehr sie von Zeitreisen durchdrungen sind. Die meisten von ihnen reisen zunächst in die Zukunft, um sich dort ein Wissen über mögliche Folgen abzuholen. Danach kehren sie mit diesem „Wissen“ in die Gegenwart zurück, um hier entweder präventive oder präemptive Maßnahmen zu empfehlen.

Ein kurzes Beispiel aus dem Nanotechnologie-Diskurs möge eine solche Zeitreise illustrieren: 2003 veröffentlicht das Economic and Social Research Council der britischen Regierung einen Bericht zu den ökonomischen und sozialen Herausforderungen der Nanotechnologie (Wood et al. 2003). Allein das Summary des Dokuments liest sich wie ein wildes Hin- und Herspringen zwischen Gegenwart und Zukunft. Es startet in der Gegenwart mit dem Zugeständnis, dass „conceptions of nanotechnology are not always clear or indeed agreed upon“ (ibid., S. 1). Nach dieser Einräumung gegenwärtiger Unklarheiten springt das Dokument in die Zukunft und behauptet: „Nanotechnology will produce economic and social impacts on three broad timescales“ (ibid.). Ergo: Nanotechnologie ist heute ungewiss, ihre Folgen von morgen aber sind gewiss. Schließlich kehrt die kurze Zusammenfassung in die Gegenwart zurück, um hier besonders den Sozialwissenschaften den Auftrag zu erteilen, „to take a role focused on promoting social awareness and acceptance of nanotechnology“ (ibid.).

Nur wenige Abschnitte vollführen eine beeindruckende Zeitreise, um so Zukunftswissen und Gegenwartskontrolle zu verbinden. Mit einer solchen Zeitreise steht der Bericht des Economic and Social Research Council nicht alleine da. Zahlreiche Berichte, white papers und wissenschaftliche Artikel unternehmen solche Ausflüge in und zurück aus der Zukunft beinahe tagtäglich. Indem sie das tun, praktizieren sie uno actu eine Chronopolitik in dem oben definierten Sinne: Sie versuchen, die Differenz zwischen Zukunft und Gegenwart zu regieren. Und das Collingridge-Dilemma macht klar, um was es dabei geht: Das Wissen der Zukunft zur Kontrolle der Gegenwart nutzen.

4     Zeitreisen und Idealtypen

Da „Zeitreisen“ ein politisch wirkmächtiges Phänomen darstellen, sich aber in ihrer Alltäglichkeit unserer Aufmerksamkeit entziehen, stellt sich die wissenschaftliche Frage, wie sie in ihrem Funktionieren explizit gemacht und auf den Begriff gebracht werden können. Wie werden wir dazu angehalten, auf die bei Explorationen in die Zukunft entdeckten Folgen von morgen heute schon zu reagieren?

Die Populärkultur Hollywoods bietet sich als Reservoir für die Bildung von Idealtypen im Sinne Max Webers geradezu an. Filme wie Terminator (Cameron 1984) oder Back to the Future (Zemeckis 1985) stellen selbst „eine einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte“ dar (Weber 1985, S. 191). Hinzu kommt, dass Webers Idealtypus gerade nicht einer „Darstellung des Wirklichen“ entspricht, vielmehr „der Hypothesenbildung die Richtung weis[t]“ und der „Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel verleih[t]“ (ibid., S. 190). In diesem Sinne eignen sich die beiden Zeitreisefilme geradezu, um mit ihnen die beiden Idealtypen der Prävention und Präemption zu bilden.

In Back to the Future reist der Teenager Marty McFly mit einer Zeitmaschine unfreiwillig aus dem Jahr 1985 ins Jahr 1955. Dort trifft Marty auf seine gleichaltrige Mutter, die sich ausgerechnet in ihren eigenen Sohn aus der Zukunft verliebt. Da diese Invertierung ödipaler Konstellationen die künftige Existenz von Marty annullieren würde, setzt Marty alles daran, seine leiblichen Eltern zusammenzuführen. Die Kontextsteuerung gelingt und Marty kann ungefährdet die Reise zurück in die Zukunft antreten. Es ist Martys Zukunftswissen über Lorraine, nämlich dass sie seine Mutter sein wird, das ihn dazu zwingt, die Gegenwart wieder in Ordnung zu bringen. Er muss die Gegenwart von 1955 so kontrollieren, als ob er nie darin aufgetaucht wäre. Die Inszenierung der keuschen und kleinbürgerlichen Atmosphäre der 1950er Jahre untermalt vortrefflich Martys chronopolitische Anstrengungen, die Gegenwart zu normalisieren und zu konservieren.

Diese bewahrende Haltung gegenüber der Gegenwart markiert die Antithese zu jener Wahrnehmung, die in Terminator gepflegt wird. Während Marty der Gegenwart von 1955 ihre ursprüngliche Normalität zurückgeben möchte, hat der Terminator nach seiner Reise aus der Zukunft ins Jahr 1984 anderes im Sinn: Die Gegenwart muss mit der Eliminierung von John Connors Mutter so reformiert werden, dass die Menschheit in der Zukunft nicht mehr auftaucht. Und wieder ist es das Wissen der Maschinen über die Zukunft, das diese in Gestalt des Terminators dazu bringt, in der Gegenwart chronopolitisch aktiv zu werden.

Dieser Unterschied im Hinblick darauf, wie in der Gegenwart auf gefährliche, aber bekannte Zukünfte reagiert wird – Konservierung und Normalisierung hier, Reformierung und Revolutionierung da – stellt nicht nur die entscheidende Differenz zwischen den beiden Filmen, sondern auch die zwischen den beiden Idealtypen der Prävention und Präemption dar. Beide Typen lassen sich anhand weiterer Unterschiede charakterisieren (vgl. Tab. 1).

Tab. 1: Prävention und Präemption im Vergleich

Prävention Präemption
Film Back to the Future (Zemeckis 1985) The Terminator (Cameron 1984)
Kontrolle der Gegenwart Konservierung und Normalisierung Reformierung und Revolutionierung
Handlungscharakter Besonnen, vorsichtig, verbietend Proaktiv, reformierend, aktivistisch
Slogan Principiis obsta!
(Wehret den Anfängen)
Si vis pacem futurum, para praesentiam
(Willst Du Frieden mit der Zukunft, bereite die Gegenwart darauf vor)

Quelle: Eigene Darstellung

Im Falle der Prävention mündet der „normale Lauf der Dinge“, sofern er unberührt bleibt, in einer normalen oder ordentlichen Zukunft. Nur dann, wenn wir die natürliche Kette von Ereignissen verletzen, setzen wir uns der Gefahr einer künftigen Katastrophe aus. Aus diesem Grund scheint Prävention von einer Intervention in die Gegenwart abzuraten: Sie wäre der erste Schritt auf einer „schiefen Ebene“ oder sie käme einem „Überschreiten des Rubikons“ gleich.

Die Überzeugung, dass alles gut wird, sofern wir nicht eingreifen, scheint Präemption nicht zu teilen. Vielmehr verschreibt sie sich der Auffassung, dass der normale Lauf der Dinge in einer Katastrophe mündet, wenn nichts getan wird. Nur dann, wenn wir entschlossen und proaktiv den Lauf der Dinge mitunter gewaltsam verändern, entkommen wir möglicherweise noch rechtzeitig dem drohenden Unheil (vgl. Abb. 3).

Abb. 3: Prävention vs. Präemption

Prävention vs. Präemption

Quelle: Eigene Darstellung

Was die beiden chronopolitischen Idealtypen empirisch zu leisten vermögen, soll im Folgenden kurz anhand der Stammzelldebatte sowie anhand der Diskussion um nanotechnologische Folgen demonstriert werden.

5     Prävention

Der Disput über die Nutzung humaner embryonaler Stammzellen zu Forschungszwecken steht noch ganz im Zeichen einer präventiven Chronopolitik. Im Jahre 2001 hält der Deutsche Bundespräsident Johannes Rau eine vielbeachtete Rede mit dem Titel „Wird alles gut? – Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß“ (2001). Darin wendet sich Rau gegen die Zulassung einer verbrauchenden Embryonenforschung, sprich einer Forschung, die menschliche Embryonen vernichten muss, um an deren Stammzellen zu gelangen. Eine Zulassung kommt für Rau einem Überschreiten des Rubikons gleich, weshalb er dafür plädiert, diesseits dieser fluvialen Grenze zu bleiben:

„Ich bin fest davon überzeugt, dass wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne dass Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen. Es ist viel Raum diesseits des Rubikon.“ (Rau 2001)

Die topologische stellt zugleich eine temporale Grenze dar – eine Grenze, die auf keinen Fall übertreten werden darf: hier die normale Gegenwart, da die gefährliche Zukunft. Dieser gefährliche Pfad in die Zukunft wird mit einer Version des slippery slope-Arguments unterstrichen – ein Argument, das stark an den Slogan von Prävention erinnert: Wehret den Anfängen!

„Wer einmal anfängt, menschliches Leben zu instrumentalisieren, wer anfängt, zwischen lebenswert und lebensunwert zu unterscheiden, der ist auf einer Bahn ohne Halt.“ (Rau 2001)

In dieser Rede praktiziert Rau eine präventive Chronopolitik in kristalliner Form. Mit dem Hinweis auf den Raum diesseits des Rubikons hat er erstens die Gegenwart diesseits der gefährlichen Zukunft nicht nur normalisiert, sondern geradezu als sakrosankt erklärt. Der Charakter seiner Rede ist zweitens besonnen, vorsichtig und verbietend. Vom gegenwärtigen Kurs abzuweichen, kommt einem Tabubruch gleich, der jenem drohenden, invers-ödipalen aus Back to the Future nicht unähnlich ist. Und drittens schließlich beruht Raus Intervention auf einer Zeitreise, die ihn bereits in der Vergangenheit in eine eugenische Zukunft geführt hat.

Ähnlich wie Rau wartet auch Jürgen Habermas in der Stammzelldebatte mit einer dunklen Zukunft auf, in der die Nachkommen, da sie nicht geworden, sondern designt sind, nicht mehr zu Wort kommen – höchstens dann noch, wenn sie ihre Eltern für genetische Fehlentscheidungen vor Gericht zur Rechenschaft ziehen würden (Habermas 2001). Das Recht, seine Eltern in einem offenen und freien Spiel von Frage und Antwort zu konfrontieren, leitet Habermas letztlich aus dem gattungsethischen Selbstverständnis der Kontingenz der Zeugung ab. Angesichts einer liberal eugenischen Zukunft, in der genau dieses Selbstverständnis auf dem Spiel steht, reist Habermas zurück in die Gegenwart und votiert hier gegen eine Zulassung der Präimplantationsdiagnostik und der verbrauchenden Embryonenforschung.[2]

Und abermals gilt es, einen status quo angesichts einer eugenischen Zukunft zu normalisieren und zu bewahren. Die Norm der biologischen Kontingenz muss vor dem Hintergrund der künftigen Abnorm des biologischen Designs festgeschrieben werden. Darüber hinaus teilen Raus und Habermas’ chronopolitische Szenarien die gleiche metaphysische Haltung gegenüber der Differenz von Zukunft und Gegenwart. So lange die Gegenwart unberührt bleibt, ist die Zukunft gesichert. Da jedoch die Gegenwart von Habermas wie auch von Rau als höchst fragil gezeichnet wird, reicht ein kleiner Ausrutscher in eine befürchtete eugenische Zukunft aus, um eine unerwünschte Kettenreaktion in Gang zu setzen.

6     Präemption

Wenngleich einige Autoren an einem fließenden Übergang von Prävention zu Präemption festhalten[3], lassen sich die beiden Chronopolitiken anhand ihrer je unterschiedlichen Wahrnehmungsweise der Gegenwart klar differenzieren: Präemption zielt darauf ab, der unterstellten Katastrophe in der Zukunft mithilfe einer Anpassung der gegenwärtigen Ordnung zuvorzukommen. Mit Blick auf die Gegenwart ist Prävention folglich konservativ, Präemption hingegen proaktiv: Die Gegenwart muss reformiert, wenn nicht gar revolutioniert werden. Außerdem erhöht Präemption merklich den Handlungsdruck, der auf die Gegenwart ausgeübt wird. Die Gegenwart wird in einen Ausnahmezustand versetzt, in dem ständig auf künftige Notstände reagiert werden muss.[4]

Verbleiben wir in der Traditionslinie, die seit den 1970er Jahren darum bemüht ist, sich das, was wir technisch herstellen, auch in seinen künftigen Folgen vorzustellen (s. Anders 1983, S. 96), so stellt die Nanotechnologie wahrscheinlich den ersten Fall dar, bei dem die künftigen Folgen dieser Technologie umfangreicher erforscht (und damit konstruiert) worden sind als die Ursachen dieser Folgen. Mit anderen Worten: Dank eines umfangreichen Abschätzungsregimes (Kaiser et al. 2010) sind die künftigen Folgen der Nanotechnologie inzwischen weit besser „bekannt“ als das, was Nanotechnologie überhaupt ist.

Möglicherweise infolge dieser kognitiven Aufwertung der Zukunft zu Ungunsten der Gegenwart haben sich die Rezeptionschancen für präemptive Formen der Chronopolitik erhöht. Zumindest taucht 2005 ein Artikel auf, der explizit präventive Anstrengungen von Begleitforschung als überholt betrachtet, da diese – aus prinzipiellen Gründen – zu spät kommen müssen (Dupuy/Grinbaum 2005). Gefordert wird eine Vorgehensweise, die nicht abwartet, bis erste Informationen über die Nanotechnologie vorhanden sind, um dann steuernd einzugreifen, sondern eine Politik, die davon ausgeht, dass eine Katastrophe geschieht.

„[A] catastrophe must necessarily be inscribed in the future with some vanishing, but non-zero weight, this being the condition for this catastrophe not to occur. The future, on its part, is held as real. This means that a human agent is told to live with an inscribed catastrophe. Only so will he avoid the occurrence of this catastrophe.“ (Dupuy/Grinbaum 2005[5])

In dieser Passage kommt die Metaphysik, auf der die präemptive Chronopolitik ruht, überdeutlich zur Geltung: Nur dann, wenn wir in der Gegenwart bereit sind, der künftigen, aber noch unbekannten Katastrophe ins Auge zu blicken und bereit sind, die Gegenwart radikal zu verändern, sind wir imstande, der Katastrophe noch rechtzeitig aus dem Wege zu gehen. Diese Form der Chronopolitik invertiert gegenüber der präventiven die „letzten“ Sicherheiten: Die Gegenwart ist nicht mehr der Ort des Gegebenen und Realen, auf den wir uns zurückziehen können, um hier präventiv der Zukunft den Riegel vorzuschieben. Es ist vielmehr die Zukunft, die gegeben ist, während die Gegenwart als Ort der radikalen Kontingenz markiert wird: dank der schier unendlichen Reformierbarkeit der Gegenwart ist es möglich, der sicheren Katastrophe in der Zukunft auszuweichen.

Eine ähnliche Wahrnehmungsweise der Differenz von Zukunft und Gegenwart liegt auch der Programmatik einer anticipatory governance der Nanotechnologie zugrunde (Barben et al. 2008). Denn auch sie empfiehlt, sich heute schon auf die Zukunft vorzubereiten, bevor sich spezifische Probleme reifiziert haben werden.[6] Selbst dann, wenn die Probleme sich nicht genau bezeichnen lassen, gilt es dennoch, sie heute bereits an ihrer Realisierung zu hindern.[7]

7     Schluss

Prävention und Präemption stellen zwei chronopolitische Antworten auf die Frage dar, wie wir die Differenz von Zukunft und Gegenwart, die Differenz von Wissen und Kontrolle zu regieren haben. Ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen beiden Reaktionsweisen beruht in der politischen Haltung gegenüber der Gegenwart. Während Prävention versucht, diese zu stabilisieren, normalisieren und konservieren, zielt Präemption darauf ab, sie zu reformieren oder gar zu revolutionieren. Im Fall der Präemption verliert die Gegenwart den ontologischen Status eines „locus of reality“ (Mead 1959) und erlangt anstatt dessen jenen eines locus of intervention. Doch auch mit Blick auf den politischen Handlungscharakter lassen sich Unterschiede ausmachen. Der besonnene [engl. prudent], vorsichtige und verbietende Regierungsstil der Prävention unterscheidet sich markant vom proaktiven, aktivistischen und reformierenden Stil der Präemption – ein Stil, der wohl nicht zuletzt von einem immensen Handlungsdruck bzw. von einer ständigen Angst, zu spät zu kommen, geprägt ist.

In der empirischen Forschung mag ein weiterer Unterschied nur schwer zu identifizieren sein. Er betrifft die Metaphysik der beiden Chronopolitiken, sprich: grundlegende Annahmen darüber, wie das Band zwischen Gegenwart und Zukunft geknüpft ist. Im Falle der Prävention scheint der Übergang von der Gegenwart in eine ordentliche Zukunft wie immer fragil, aber doch gewährleistet zu sein. Nur wenn der normale Lauf der Dinge gestört wird, mündet die Gegenwart in einer katastrophalen Zukunft. Im Falle der Präemption führt der normale Lauf der Dinge hingegen fast notwendigerweise in einen künftigen Notstand. Und dieser stellt den eigenartig abwesenden Grund dar, der drastische Kurskorrekturen in der Gegenwart politisch notwendig und legitim macht.

Wie sich der durch eine präemptive Chronopolitik induzierte Reformdruck auf die Gegenwart und der damit einhergehende Zeitdruck mit den oftmals langsamen Meinungs- und Willensbildungsprozessen von Demokratien verträgt, ist eine andere Frage.

Anmerkungen

[1]Interessanterweise erlebt Hollywood gerade in den 1980er Jahren eine Konjunktur von Zeitreisefilmen: Zu ihnen zählen etwa The Philadelphia Experiment, Back to the Future I-III, Terminator I-IV, Flight of the Navigator, Bill & Ted’s Excellent Adventure oder einige Filme der Star Trek-Lizenz wie Voyage Home oder First Contact. Der Trend hält bis in die 1990er Jahre an.

[2]„Aus dieser Perspektive führen beide kontroversen Neuerungen [PID und verbrauchende Embryonenforschung] schon im Anfangsstadium vor Augen, wie sich der Modus unseres Lebens verändern könnte, wenn merkmalsverändernde gentechnische Eingriffe […] eingewöhnt würden.“ (Habermas 2001, S. 123)

[3]Gerade im Anschluss an die Ankündigung von Maßnahmen der preemptive action im Rahmen dessen, was später als Bush-Doktrin (Bush 2002) bekannt geworden ist, haben sich scholastisch anmutende Diskussionen über den Unterschied zwischen präventiven und präemptiven Maßnahmen entsponnen (Sofaer 2003; Brown 2003).

[4]Dieses unablässige Bereitmachen auf die Zukunft entspricht weitgehend der temporalisierten Version des römischen Mottos si vis pacem para bellum: „Willst Du Frieden mit der Zukunft, bereite die Gegenwart darauf vor!“

[5]Zitiert nach der Onlineausgabe.

[6]„Anticipatory governance comprises the ability of a variety of lay and expert stakeholders […] to collectively imagine, critique, and thereby shape the issues presented by emerging technologies before they become reified in particular ways.“ (Barben et al. 2008, S. 992f., Herv. MK)

[7]Es bleibt zu untersuchen, ob nicht die Karriere des precautionary principle das Auftauchen von präemptiven Handlungsempfehlungen zusätzlich begünstigt hat. Zumindest einige Lesarten des Prinzips befürworten explizit Maßnahmen, die an eine radikale Reform der Gegenwart erinnern, um so der sicheren Katastrophe noch rechtzeitig aus dem Weg zu gehen.

Literatur

Anders, G., 1983: Die atomare Drohung. Radikale Überlegungen. München

Barben, D.; Fisher, E.; Selin, C. et al., 2008: Anticipatory Governance of Nanotechnology: Foresight, Engagement, and Integration. In: Hackett, E.J.; Amsterdamska, O.; Lynch, M. et al. (Hg.): The Handbook of Science and Technology Studies. Cambridge, MA, S. 979–1000

Brown, Chr., 2003: Self‐Defense in an Imperfect World. In: Ethics & International Affairs 17/1 (2003), S. 2–8; doi:10.1111/j.1747-7093.2003.tb00412.x

Bush, G.W., 2002: President’s Remarks. Graduation Speech at West Point United States Military Academy West Point. New York; http://www.usma.edu/classes2/SitePages/GradSpeech02.aspx (download 3.7.14)

Cameron, J., 1984: The Terminator. Action, Sci-Fi. Hemdale Film

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Dupuy, J.-P.; Grinbaum, A., 2005: Living with Uncertainty: Toward the Ongoing Normative Assessment of Nanotechnology. Techné: Research in Philosophy and Technology 8/2 (2005); http://scholar.lib.vt.edu/ejournals/SPT/v8n2/grinbaum.html (download 3.7.14)

Foucault, M., 2004a: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung (Vorlesung am Collège de France 1977–1978, 1978–1979). Frankfurt a. M.

Foucault, M., 2004b: Geschichte der Gouvernementalität II: Geburt der Biopolitik (Vorlesung am Collège de France 1978–1979). Frankfurt a. M.

Habermas, J., 2001: Die Zukunft der menschlichen Natur: auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Frankfurt a. M.

Kaiser, M.; Kurath, M.; Maasen, S. et al. (Hg.), 2010: Governing Future Technologies: Nanotechnology and the Rise of an Assessment Regime. Dordrecht

Mead, G.H., 1959: The Philosophy of the Present. La Salle, IL

Rau, J., 2001: Wird alles gut? – Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß. Berliner Rede Mai 18, Berlin; http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Johannes-Rau/Reden/2001/05/20010518_Rede.html (download 3.7.14)

Sofaer, A.D., 2003: On the Necessity of Pre‐emption. In: European Journal of International Law 14/2 (2003), S. 209–226; doi:10.1093/ejil/14.2.209

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Weber, M., 1985: Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In: Winckelmann, J. (Hg.): Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen, S. 146–214

Wood, St.; Jones, R.; Geldart, A., 2003: The Social and Economic Challenges of Nanotechnnology. Swindon, UK

Zemeckis, R., 1985: Back to the Future. Adventure, Family, Sci-Fi. Universal Pictures

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