Diskursrisiken der Kommunikation von Nichtwissen. Der Fall „Nanotechnologie“

Schwerpunkt: Risikodiskurse/Diskursrisiken. Sprachliche Formierungen von Technologierisiken und ihre Folgen

Diskursrisiken der Kommunikation von Nichtwissen

Der Fall „Nanotechnologie“

von Andreas Lösch, ITAS

Technologien, wie zum Beispiel die Nanotechnologie, konfrontieren ihren Betrachter mit vielseitigem Nichtwissen. In Regulierungsdebatten wird dieses Nichtwissen über unerwünschte Folgen neuer Technologien häufig als Risiko thematisiert. Der Beitrag zeigt mit Hilfe diskursanalytischer Einsichten in die Regulierungsdebatte der Nanotechnologie, inwiefern die Kommunikation von potenziellen Risiken und Folgenverantwortungen eine diskursive Bedingung der Plausibilisierung und Legitimierung für die Governance neuer Technologien darstellt. Verdeutlicht wird auch, welche Diskursrisiken diese risikoförmige Kommunikation des Nichtwissens über die Folgen neuer Technologien erzeugt.

1     Einleitung

Komplexe und vielschichtige Technologien, wie „die Nanotechnologie“ oder „das Energiesystem“ konfrontieren den Betrachter mit vielseitigem Nichtwissen. Von der Nanotechnologie zum Beispiel wurden und werden höchst heterogene Innovationen in ganz unterschiedlichen Bereichen (z. B. neue Materialien, Medizintechniken, Pharmazeutika, Informationstechnologien) erwartet. Aufgrund der Vielfalt möglicher Produkte, in denen durch nanotechnische Verfahren unterschiedliche Nanopartikel in unterschiedlichen Verbindungen eingesetzt werden können; aufgrund der unzähligen ökologischen und sozialen Umwelten, in denen diese Produkte genutzt werden und mit diesen interagieren können, ist das Spektrum potenziell erwünschter und unerwünschter Effekte der Nanotechnologie nahezu unbegrenzt (z. B. Lösch et al. 2009, S. 26ff.). Entscheidungen und Handlungen, sei es in der Forschung und Entwicklung, in der Herstellung und Vermarktung oder auch in Bezug auf die Regulierung und Governance sich formierender und transformierender Technologien, orientieren sich an Innovations- und Risikoerwartungen. Doch diese werden aufgrund der Vielschichtigkeit und Zukunftsoffenheit solcher Technologien durch unterschiedliche Formen des Nichtwissens irritiert, die sich etablierten Risikokalkulationen wie Risikosozialisierungen entziehen.[1]

Diese Einsicht, dass angesichts des vielseitigen Nichtwissens zu komplexen Technologien wie der Nanotechnologie etablierte Verfahren der Risikokalkulation und Risikosozialisierung an ihre Grenzen stoßen, hat im Fall der Nanotechnologie einschlägige Studien der Wissenschafts- und Technikforschung (Science & Technology Studies [STS]) und auch der TA dazu veranlasst, die Entwicklung und Implementierung neuer Formen des vorsorglichen Umgangs mit Nichtwissen in Kommunikation und Governance zu erforschen und auch einzufordern. Diese haben sich heute als vielseitige Maßnahmen prozessbegleitender Beobachtung, Selbstregulierung (durch „Codes of Good Practice“) und partizipativer Dialoge (Stakeholder, Bürger etc.) realisiert (z. B. Kurath 2009; Kearnes/Rip 2009; Barben et al. 2008). Die Initiierung dieser Maßnahmen war und ist in Wissenschaft und Politik von der Zentralfrage geleitet: Wie ist ein verantwortlicher Umgang mit neuen Technologien angesichts des vielschichtigen Nichtwissens möglich?

Im Rückblick auf die Mitte der 2000er Jahre aufkommende Regulierungsdebatte zur Nanotechnologie irritiert es jedoch, dass trotz aller Problematisierungen der Unmöglichkeit von Risikokalkulationen und Risikosozialisierungen in den Debatten, das offensichtlich werdende Nichtwissen als „Risiko“ kommuniziert wird (auch Lösch 2012). Das liegt daran, dass in modernen Gesellschaften durch den Entscheidungsbezug des Wortes „Risiko“ Verantwortungen für unerwünschte Entscheidungsfolgen bestimmten Akteuren oder Gruppen zugerechnet werden (z. B. Luhmann 1993). Diese Zurechnungen finden auch dann statt, wenn Nichtwissen gar nicht plausibel in Form von kalkulierbaren Risiken und Schadenspotenziale spezifiziert werden kann.[2] Diese kommunikative Behandlung von Nichtwissen als „Risiken“ bringt ihrerseits Diskursrisiken hervor, die eine prospektive, prozessbegleitende oder auch partizipative TA erkennen muss, will sie zukünftige Folgen von Nichtwissen auf Technologie- und Gesellschaftsentwicklung erfassen und bewerten.

Den analytischen Einblick in Formen und Effekte der Kommunikation von Technologierisiken können wissenssoziologische und sprachwissenschaftliche Diskursforschungen erbringen (vgl. die Beiträge von Keller; Müller/Vogel und Felder/Jacob in diesem Heft). Den Ausgangspunkt meiner diskursanalytischen Fallstudie bilden „Diskursformationen“ und ihre zeitliche Variation, welche sich gleichermaßen in Experten- und massenmedialen Dokumenten finden.[3] Nach der Klärung meiner theoretisch-heuristischen Vorannahmen (Kap. 2) folgt die Darstellung von Analyseergebnissen am Fall. Zunächst wird gezeigt, warum die Nanotechnologie ein idealer Gegenstand für eine Diskursanalyse von Diskursrisiken von Risikodiskursen zu neuen und emergierenden Technologien ist (Kap. 3). Danach wird anhand zweier ausgewählter Ereignisse der Debatte um die Regulierung der Nanotechnologie und ihrer Effekte für die Plausibilisierung und Legitimierung von spezifischen Governancemaßnahmen rekonstruiert, wie und mit welchen (riskanten) Effekten das Nichtwissen über die Folgen der Nanotechnologie als Risiko kommuniziert wurde (Kap. 4). Abschließend wird diskutiert, welche „Diskursrisiken“ die Kommunikation von Nichtwissen in Form von „Risiken“ produziert (Kap. 5).

2     Theoretisch-heuristische Vorannahmen

Zur Interpretation der Diskursformationen zur Kommunikation des Nichtwissens der Nanotechnologie eignet sich eine Heuristik, die sich aus der Risikosoziologie Niklas Luhmanns entlehnen lässt. Grundlegend ist die bekannte Unterscheidung Luhmanns zwischen zwei semantischen Bedeutungen des Begriffs „Risiko“. Nach dieser Unterscheidung ist „Risiko“ ein Schadenskalkül, das der Abschätzung zukünftiger Schadensausmaße dient. Für gesellschaftliche Kommunikation bedeutender ist die Risikosemantik der Unterscheidung zwischen Entscheidern und Betroffenen; zwischen denen, die durch ihre Entscheidung ein Risiko eingehen, und denen, die nicht mitentschieden haben und damit als Betroffene einer Gefahr ausgesetzt werden (Luhmann 1993). Diese zweite Semantik dient in Kommunikationsprozessen der Zurechnung von Folgenverantwortungen an Entscheider. In Kommunikationsprozessen ergänzen sich beide Semantiken gegenseitig.

Dies ist auch in Kommunikationen des Nichtwissens über Nanotechnologie der Fall. Hier dient gerade die Problematisierung unkalkulierbarer und nur vermuteter Risiken (Semantik des Schadenskalküls) der Zurechnung von Verantwortungen auf potenzielle Entscheider (Semantik der Verantwortungszurechnung). Mit Hilfe der Zurechnungssemantik wird zum Beispiel die Notwendigkeit neuer Formen selbstregulativer und partizipativer Governance plausibilisiert, welche auf die Inklusion unterschiedlicher Akteure in der Rolle potenziell verantwortlicher Stakeholder der Nanotechnologie zielen (vgl. Lösch 2012). Die Prämissen solcher Zurechnungen macht die Diskursforschung entzifferbar.

3     Nanotechnologie als Diskurs- und Nichtwissensphänomen

Die Nanotechnologie stellt für die Forschung zu Risikodiskursen einen Idealfall dar. Zum einen zeigt sich bei der Nanotechnologie, wie bei keiner Technologie zuvor, die für ihre Entwicklung bis heute konstitutive Bedeutung von Diskursen. Erst durch Diskurse konvergieren all die unterschiedlichen und der Nanotechnologie heute zugerechneten Forschungen, Entwicklungen und Produkte zu Elementen und Dimensionen einer Technologie. Als Einheit ist sie ein gesellschaftlich-kommunikatives Produkt; was dazu gehört, kann immer wieder erneut ausgehandelt werden (Lösch 2014). Zum zweiten trat bei kaum einer anderen Technologie zuvor Nichtwissen als Problem der Regulierung so deutlich hervor wie bei der Nanotechnologie. Das Nichtwissen war der Anlass der Debatten um angemessene und neue Formen einer Regulierung und Governance der Nanotechnologie (vgl. Lösch et al. 2009). Die Nanotechnologie ist gewissermaßen auch ein „historischer“ Prototyp für die Unbegrenztheit diskursiver Möglichkeiten der Verantwortungszurechnung, die sich auf eine Unbegrenztheit an vermutbaren Risiken gründet – mit der Folge einer unbegrenzt möglichen Ausdifferenzierung an Governancemaßnahmen vorsorglichen Wissenserwerbs und Dialogs, Selbstregulierung und Partizipation (z. B. Kearnes/Rip 2009).[4]

Die folgende und freilich unvollständige Aufstellung zu möglichen Nanoprodukten, potenziellen Risikobereichen und potenziellen Folgenverantwortlichen verdeutlicht die Nichtwissensdimensionen der Nanotechnologie, mit denen Versuche der Risikoeinschätzung und Verantwortungszurechnung konfrontiert werden (Tab. 1). Jede längere Reflexion über in der Tabelle genannte potenzielle Risikobereiche oder potenzielle Folgenverantwortliche führt beim Betrachter schon bei dieser kleinen Auswahl an Nano-Produkten zur Vermutung weiterer Risikobereiche und weiterer möglicher Folgenverantwortlicher.

Tab. 1: Die Unbegrenztheit potenzieller Risiken und Folgenverantwortungen

Nanoprodukte potenzielle Risikobereiche potenzielle Verantwortliche für Folgen
Kosmetika (z. B. Sonnencremes) Toxizität ... Hersteller, Vertreiber, Konsumenten …
Antibakterielle Oberflächen Wechselwirkung mit dem Immunsystem (Bio-Interaktivität) ... Forschung, Entwicklung, Gesetzgeber ...
Bio-Sensoren (z. B. Implantate, Lab on a Chip) Privacy, menschliches Selbstverständnis ... Entwickler, Klinik-Anwender, Gesetzgeber ...
Nanohalbleiter Technologie, Elektronik (Nano)-Digital-Divide, Entsorgung ... Hersteller, Vertreiber, Gesetzgeber ...
Lebensmittel (Verpackung, functional food) Wahrnehmung, Bio-Interaktivität ... Hersteller, Vertreiber, Verbraucherschutz, Konsument ...
Nicht-detektierbare Sprengstoffe Unsichtbare Tötung ... Forschung, Entwicklung, Politik, Gesetzgeber, Militär ...
Fälschlich als „Nano“ gekennzeichnete Produkte (z. B. „MagicNano“) Gesundheits-, Innovationsgefährdung ... Hersteller, Gesetzgeber, Konsument ...

Quelle: Eigene modifizierte Darstellung nach Lösch et al. 2009, S. 27

Die folgende Zusammenschau zeigt an ausgewählten Ereignissen der Regulierungsdebatte zur Nanotechnologie (zwischen 2004 und 2008), wie die irritierende Unbegrenztheit potenzieller Risiken und potenzieller Folgenverantwortungen diskursiv verhandelt wurde und welche Folgen dies für die Entwicklung von Governancemaßnahmen zur Regulierung der Nanotechnologie hatte.

4     Diskursereignisse und Diskurseffekte

2004 problematisierte der Bericht „Nanotechnologie: Kleine Teile – Große Zukunft?“ der Schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft (Swiss Re) die Unkalkulierbarkeit von Risiken einer Vielzahl nanotechnologischer Produkte:

„Seit einiger Zeit haben nanotechnologisch hergestellte Produkte ohne besondere Kennzeichnung durch den Gesetzgeber ihren Weg in die Läden gefunden; häufig ohne vom Konsumenten als solche erkannt zu werden. [...] Nach einer relativ kurzen Forschungs- und Entwicklungsphase ist eine Vielzahl von neuen Nanoprodukten schnell im Markt eingeführt worden. Zu schnell? [...] Nun liegt es an allen beteiligten Parteien, Erfahrungen zu sammeln und Daten zu analysieren, um die langfristigen Eigenschaften und die generelle Zuverlässigkeit dieser Produkte sowie ihre Wirkung auf Verbraucher und Umwelt zu ermitteln [...] Die Assekuranz ist besorgt [...], weil das Ausmass dieser potentiellen Schäden falsch oder gar nicht eingeschätzt werden kann. [...] Risiko- und versicherungstechnisch wirklich neu ist die Nanotechnologie [...] wegen der Unvorhersehbarkeit der Risiken [...]. Die Versicherungsindustrie ist [...] bestrebt, Risiken zu erkennen, zu analysieren und zu bemessen [....] Dabei ist sie aber angewiesen auf den Wissensaustausch und Risikodialog mit allen Vertretern der Risikogemeinschaft.“ (SwissRe 2004, S. 6 und S. 48)

Einschlägige STS-Forschungen zur Nanotechnologie sprechen der Problematisierung von SwissRe eine besondere historische Bedeutung für die Emergenz der Governance-Agenda der Nanotechnologie zu. Erst durch die Problematisierung der Unkalkulierbarkeit und damit einhergehenden Nichtversicherbarkeit seitens eines der weltgrößten Rückversicherer sei das enorme Nichtwissen und die Vielzahl ungeklärter Fragen über potenzielle Gesundheits- und Umweltschäden von Nanoprodukten und Nanopartikeln zum Thema einer breiten gesellschaftlichen Debatte, v. a. in Politik und in der Wirtschaft geworden (z. B. Rip/Ameron 2010).[5] Gerade die Problematisierung der Unkalkulierbarkeit vieler vermutbarer Risiken mache die Nanotechnologie zu einem finanziellen Risiko der Wirtschaft und damit zu einem legitimatorischen Risiko von Politik und Regulierung (ebd.).

Analysiert man das Schlüsselzitat aus dem SwissRe-Bericht, indem man die zwei oben dargestellten Risikosemantiken als Heuristik nutzt (vgl. Kap. 2), so zeigt sich: Im Dokument wird nicht nur eine Unmöglichkeit der Risikokalkulation (als Schadenskalkül) bei vielen nanotechnischen Produkten problematisiert; das Problem ist ebenso die Unzurechenbarkeit potenziell unerwünschter Folgen auf verantwortliche Entscheider (z. B. Entwickler, Hersteller oder Gesetzgeber). Zur Abhilfe wird eine – im weiteren Diskursverlauf – folgenträchtige Problemlösung durch SwissRe vorgeschlagen. Nach dieser werden alle an Nanotechnologie irgendwie Beteiligten zu einem gemeinsamen Wissensaustausch und Dialog über potenzielle Risiken aufgefordert. Die angesprochenen Akteure werden als „Risikogemeinschaft“ bezeichnet, auf deren Dialogergebnisse der Versicherer für seine versicherungstechnische Arbeit angewiesen sei. Offen und undefiniert bleibt jedoch, wer die adressierten „Vertreter der Risikogemeinschaft“ bei einer derart unbegrenzten Technologie wie der Nanotechnologie alles sein können – Entwickler, Hersteller, Vertreiber, Gesetzgeber oder auch Konsumenten von Nanoprodukten?

Zwei Jahre später trat mit den Gesundheitsschädigungen, hervorgerufen durch das Oberflächenversiegelungs- und Badreinigungsspray MagicNano einer der in der SwissRe-Problematisierung nahegelegten Schadensfälle ein. Die Süddeutsche Zeitung berichtete:

„Nachdem sie ein neuartiges Putzmittel für das Bad ausprobiert hatten, sind [...] mehrere Menschen mit Atemnot, Husten, Brechreiz und Fieber ins Krankenhaus gekommen. [...] Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin warnt nun vor diesen Sprays.“ (SZ 2006a)

„Doch die Schuld liegt offenbar nicht bei den Nanopartikeln in dem Produkt. [...] Zurzeit kennt niemand die vollständige Rezeptur [...] Nicht einmal die Firma [...] weiß genau, was sie unter ihrem Namen an Penny verkauft hat.“ (SZ 2006b)

„Kein Experte kann abschätzen, welche Gefahren von der Nanotechnologie ausgehen. [...] Wir wissen nicht einmal, wo wir es überall mit Nanotechnologie zu tun haben. Die Gesellschaft muss entscheiden, ob sie bereit ist, dafür zu zahlen [...] Das BfR will die Bevölkerung in die Risikobewertung einbeziehen.“ (SZ 2006c)

Die Gesundheitsschädigungen durch MagicNano sind einer der wenigen, prominenten Schadensfälle mit einem nanotechnischen Produkt, der aber für wenige Tage sogar international Aufmerksamkeit erzeugen konnte (Weiss 2006). MagicNano ist aber mehr als ein Schadensfall. Die für den Fall zuständige Behörde, das BfR, hatte die Schadensursache trotz des in der Presse problematisierten Nichtwissens relativ schnell geklärt. Die Schäden waren durch eine neue Form der Substanzverwendung in Spraydosen statt in Pumpsprays und entsprechend unsachgemäßem Gebrauch im geschlossenen Raum entstanden. Stofflich gesehen hatten sie nichts mit Nanotechnologie zu tun, da das Produkt gar keine Nanopartikel enthielt (z. B. BfR 2006). Auf diskursiver Ebene hatte der Fall aber ganz viel mit Nanotechnologie zu tun. Denn durch MagicNano wurde nicht nur das vielseitige Nichtwissen über unerwünschte Folgen der Nanotechnologie, sondern auch die Unmöglichkeit von entsprechenden Verantwortungszurechnungen unübersehbar. Keiner der Beteiligten, die vom BfR im MagicNano-Fall zu einem Runden Tisch zwecks Wissensaustausch geladen wurden, wusste, was Nanotechnologie eigentlich genau ist und warum man bestimmte Produkte überhaupt als nanotechnische Produkte bezeichnet (vgl. auch Lösch et al. 2009, S. 80). Folglich wird die Entscheidungsverantwortung im zitierten Dokument auch ganz allgemein an die Gesellschaft adressiert und Maßnahmen der Partizipation angekündigt.

Analysiert mit Hilfe der Heuristik der zwei Risikosemantiken, zeigt sich in dem Fall eine Diskursordnung, in der die Gesamtbevölkerung der Seite potenzieller Folgenverantwortlicher zugerechnet wird. Gewissermaßen soll die Bevölkerung, wenn sie nanotechnische Produkte haben will, präventiv Verantwortungen für potenziell unerwünschte Folgen übernehmen. Die „Bevölkerung“ in Risikobewertungen mit einzubeziehen, entspricht heute der Normalität partizipativer Governanceverfahren. Prinzipiell sind die Inklusionsoptionen der Verfahren unbegrenzt. Eine „Risikogemeinschaft“ im Sinne der Forderung von SwissRe lässt sich schwer eingrenzen – was sich als Diskurseffekt ergibt, ist angesichts der sichtbar gewordenen Unbegrenztheit potenzieller Risiken und potenzieller Folgenverantwortlicher der Nanotechnologie eine Unbegrenztheit partizipativer Governance, die je nach Verfahrenstyp Verantwortungen unterschiedlich verteilen und neu verteilen kann.

In zeitlicher Hinsicht korreliert der MagicNano-Fall mit der Etablierung selbstregulatorischer und partizipatorischer Governanceverfahren zur Nanotechnologie. Ihre Einführung wird als Lösung des Regulierungsdilemmas begründet, welches aufgrund des umfassenden Nichtwissens zur Nanotechnologie entsteht (vgl. Lösch et al. 2009, S. 53ff.). Durch „Codes of Good Practice“ (CGP), wie z. B. den 2008 in Kraft getretenen „Code of Conduct for Responsible Nanosiences and Nanotechnological Research“ der Europäischen Kommission (2008), soll quasi rechtsförmig eine verantwortliche und vorsorgliche Nanotechnologieentwicklung abgesichert werden. Der mit der Deutschen Nanokommission (Phase 1: 2006–2008) verbundene Nanodialog am Bundesumweltministerium (ab 2006) sollte in einer seiner Arbeitsgruppen unter Inklusion unterschiedlichster Stakeholder aus Wissenschaft, Industrie, NGOs einen deutschen Nano-Code erarbeiten.[6] Der Initiator des Nanodialogs Uwe Lahl begründete ihn folgendermaßen:

„Durch die regelmäßigen Gespräche mit Administration, Umwelt- und Verbraucherverbänden würden die Unternehmen frühzeitiger als bisher auf sensible Bereiche und Themen aufmerksam. [...] Durch verbindliche Absprachen im Rahmen der Eigenverantwortung wird der Umwelt- und Verbraucherschutz gewährleistet. Umwelt- und Verbraucherverbände erhalten aktuelle Informationen über Produkte und Verfahren. Sie können im Dialog ihre Kritik, Bedenken und offenen Fragen anbringen und damit Einfluss auf die Selbstregulierung der Wirtschaft nehmen. Auf aktuelle Vorkommnisse oder neue wissenschaftliche Ergebnisse kann zeitnah reagiert werden. [...] Durch den CGP entsteht ein geringer Regelungsbedarf für Administration und Legislative in einer Zeit, wo Regelungen mangels konkreten Wissens schwierig zu konzipieren wären.“ (Lahl 2006, S. 50–52)

Codes of Good Practice und die mit ihnen verbundenen partizipativen Verfahren zur Selbstregulierung der Nanotechnologie durch prozessbegleitende Wissenserhebungen im Dialog unterschiedlicher Akteure werden in einschlägigen STS-Forschungen zur antizipativen Governance der Nanotechnologie als Lerneffekte der Regulierung begrüßt; die Nanotechnologie gilt hier als Modellfall reflexiver Technologiegovernance (z. B. Barben et al. 2008; Guston 2010).

Mit Hilfe der Heuristik der zwei Risikosemantiken zeigt sich in den Begründungen dieser Governancemaßnahmen folgende Diskursordnung: Nichtwissen wird als gegenwärtig noch nicht, aber zukünftig vielleicht doch kalkulierbares Risiko (im Sinne des Schadenskalküls) kommuniziert. Dieser zukünftigen Kalkulierbarmachung wird der Wissensaustausch zwischen vielfältigsten Akteuren der Gesellschaft vorausgesetzt. Begründet wird dies darüber: Alle potenziell Beteiligten könnten etwas wissen, das sich für die Kalkulation von Risiken als relevant herausstellen kann. Aufgrund der Zurechnungssemantik von Folgenverantwortungen und der Unbegrenztheit der Nanotechnologie lassen sich perspektivisch alle Akteure der Gesellschaft als potenzielle Folgenverantwortliche – eben als „Stakeholder“ der Nanotechnologie – adressieren. Qua Partizipation im Verfahren werden sie zu potenziellen Verantwortlichen. Fortlaufende Inklusionen können das Resultat der Dialoge sein; ihre Plausibilität wird, wie exemplarisch an der SwissRe-Problematisierung und dem MagicNano-Fall gezeigt, durch die Diskursordnungen der Regulierungsdebatten zur Nanotechnologie hergestellt.

5     Diskursrisiken der Risikodiskurse

Die Diskursanalyse der Regulierungsdebatte zur Nanotechnologie mit Hilfe der Heuristik der zwei Risikosemantiken (Schadenskalkül und Verantwortungszurechnung) macht eine Dynamik der Thematisierungen des Nichtwissens der Nanotechnologie als potenzielle Risiken mit potenziellen Folgenverantwortlichen sichtbar. Deren institutionelle Effekte sind die selbstregulativen und partizipativen Governancemaßnahmen zu Nanotechnologie. Diese werden durch die Formationen der Diskurse plausibilisiert und erscheinen als notwendig und wünschenswert.

Die risikoförmige Kommunikation des mit der Nanotechnologie verbundenen Nichtwissens ist durchaus ambivalent: Einerseits ist sie eine kommunikative „Vergesellschaftungsbedingung“ (vgl. Lösch 2014) für neue und emergierende Technologien, die in ihrer Frühphase immer von immensem Nichtwissen auf unterschiedlichen Ebenen geprägt sind. Die Hoffnung auf zukünftige Kalkulierbarkeit von Risiken, die gegenwärtig nur vermutet werden können, ermöglicht und legitimiert Innovationsprozesse in regulatorisch unsicherem Terrain. Prozessbegleitende Maßnahmen partizipativer und selbstregulativer Governance versprechen Möglichkeiten der Zurechnung und Übernahme von Verantwortungen an und durch Personen und Organisationen. Andererseits sind diese diskursiven Verantwortungszurechnungen aufgrund der diskursiven Konstitution von Technologien – wie der Nanotechnologie – selbst unbegrenzt und nicht abschließbar. Indem ausgeschlossen wird, dass jemand von den Folgen einer solchen Technologie einfach nur „betroffen“ ist, da jeder irgendwie, irgendwann und irgendwo in der Rolle eines Stakeholders an Entscheidungen beteiligt sei kann, verwischt die Option der eindeutigen Verantwortungszurechnung gleichermaßen. Dies ist ein Risiko der „Risikodiskursivierung“ von Nichtwissen und kann in diesem Sinne als „Diskursrisiko“ bezeichnet werden.

Dadurch, dass Diskursformationen sichtbar gemacht werden, die Governancemaßnahmen plausibel erscheinen lassen und damit legitimieren, werden Maßnahmen einer selbstregulativen und partizipativen Governance neuer Technologien wieder verhandlungsfähig. Denn sie erweisen sich nicht als Notwendigkeit, sondern als Resultate kommunikativer Aushandlungsprozesse. Solches Diskursfolgenwissen ist für die TA bspw. relevant, wenn sie die Folgen von Governanceformen abschätzen oder auch mit diesem Wissen Governancemaßnahmen begründen und gestalten will, die einen verantwortlichen und verantworteten Umgang mit dem Nichtwissen zu neuen Technologien ermöglichen sollen.

Anmerkungen

[1]Im Fall Nanotechnologie kann sich das Nichtwissen auf so unterschiedliche Dimensionen wie z. B. die Variabilität der Nanotechnologie als gesellschaftlich-kommunikatives Phänomen, Standardisierungsgrenzen durch produktionsbedingte Unsicherheiten, die gesellschaftliche Wahrnehmung von Einzelfällen wie schadhafte Produkte, Wissensgrenzen durch produktintegrierte Nanotechnologien, Perspektivenabhängigkeiten von Regulierungszuständigkeiten beziehen (vgl. Lösch et al. 2009, S. 64).

[2]Zur Beharrlichkeit und Problematik der verengenden Behandlung von Nichtwissen als Risiken in Technikdebatten vgl. z. B. Böschen/Wehling 2012.

[3]Eine ausführlichere Darstellung dieser Fallanalyse findet sich in Lösch 2012.

[4]Als Folgeeffekt dieser Ausdifferenzierung der Governance lässt sich heute die EU-Programmatik von „Responsible Research and Innovation“ (Schomberg 2013) interpretieren, deren wesentlicher Grundbaustein die partizipatorische und verantwortliche Einbindung möglichst aller Akteure der Gesellschaft ist.

[5]Zuvor war diese Problematik nur ein Thema der Expertendebatten der Toxikologie (z. B. Kurath 2010).

[6]Vgl. hierzu auch die am ITAS derzeit laufende Dissertation von Simon Pfersdorf.

Literatur

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BfR – Bundesinstitut für Risikobewertung, 2006: Nanopartikel waren nicht die Ursache für die Gesundheitsprobleme durch Versiegelungssprays! Produkte enthielten keine ultrafeinen Partikel. Pressemitteilung 26.05.2006, Berlin

Böschen, S.; Wehling, P., 2012: Neue Wissensarten: Risiko und Nichtwissen. In: Maasen, S.; Kaiser, M.; Reinhart, M. et al. (Hg.): Handbuch Wissenschaftssoziologie. Wiesbaden, S. 317–328

EU-Kommission, 2008: Commission Recommendation of 07/02/2008 on a Code of Conduct for Responsible Nanosciences and Nanotechnological Research. Brüssel, 07/02/2008, C(2008) 424 final

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Kontakt

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