Diskurslinguistik und Risikoforschung am Beispiel politischer Debatten zur Atomenergie

Schwerpunkt: Risikodiskurse/Diskursrisiken. Sprachliche Formierungen von Technologierisiken und ihre Folgen

Diskurslinguistik und Risikoforschung am Beispiel politischer Debatten zur Atomenergie

von Ekkehard Felder und Katharina Jacob, Universität Heidelberg

In dem vorliegenden Aufsatz wird der Frage nachgegangen, welchen Beitrag die linguistische Diskursanalyse im Bereich der soziologischen Risikoforschung leisten kann. Sprache ist das Medium für die Genese und den Transfer von Wissen. Sie fungiert dabei zugleich als Resonanzkörper komplexer Wissensbestände und der damit einhergehenden Kontroverse um den angemessenen Umgang mit Wissen. Wie Diskursakteure durch sprachliche Perspektivierungen Sachverhalte konstituieren, verknüpfen und bewerten, wird exemplarisch an Ausschnitten der politischen Debatte zur Atomenergie gezeigt. Die sich dabei auf der sprachlichen Oberfläche entfaltende Faktizitätsherstellung innerhalb der Diskursgemeinschaft wird an der für die Debatte paradigmatischen Kontroverse um Risiken veranschaulicht. Wenn sich in Sprache riskantes Wissen sedimentiert, dann kann die Diskurslinguistik induktiv erschlossene Deutungsangebote liefern, indem sie Diskursverläufe systematisch zu erfassen und zu beschreiben vermag. Diese Interpretationsangebote sind zentrale Grundlage für die soziologische und interdisziplinär ausgerichtete Risikoforschung.

1     Einleitung: Sprache als Schlüssel zu Risiken

Die Differenzierung technischen Wissens ist unmittelbar an das menschliche Bedürfnis geknüpft, die Lebensumstände zu verbessern. Mit der Erdöl- und Erdgasförderung, die durch die Fracking-Technologie vorangetrieben wird, gehen beispielsweise Hoffnungen auf einen boomenden Energiemarkt einher. Die Steuerung des Energiesystems über Smart Grid unterliegt der grundlegenden Überzeugung, durch ein intelligentes Energiesystem eine nachhaltige Energiewirtschaft zu betreiben. Indem der Mensch die Aussicht hat, neue Herausforderungen zu beherrschen, wähnt er sich in Sicherheit, die durch die gesellschaftliche Pluralität und technische Komplexität zugleich mit Unsicherheit verbunden ist. In diesem Kontext spielt die Risikobewertung eine ganz zentrale Rolle, da das Zusammenspiel von Vergangenem und Zukünftigem eingeschätzt und Sicheres gegen Unsicheres abgewogen wird. Die Sprache ist dabei das Medium für die Genese und den Transfer von Wissen (Felder 2009). Sie fungiert zugleich als Resonanzkörper komplexer Wissensbestände und der mit ihnen einhergehenden Kontroverse um den angemessenen Umgang mit Wissen.

Der vorliegende Aufsatz geht der Frage nach, welchen Beitrag die linguistische Diskursanalyse im Bereich der soziologischen Risikoforschung (Klinke et al. 2007; Luhmann 1991; Renn 1984) leisten kann. Der Diskurs um das Risiko neuer Technologien ist nicht nur an die Debatte um alternative Energiegewinnung, -nutzung und -verteilung geknüpft, wie die einleitenden Worte zu zeigen versucht haben. Die politische Debatte zur Atomenergie ist ein Paradebeispiel, wenn es darum geht, einer paradigmatischen Kontroverse um Risiken im Energiebereich nachzugehen. Vor der Darstellung der Analyseergebnisse wird der Zusammenhang zwischen Sprache und Wissen linguistisch reflektiert und die Methode der pragma-semiotischen Textarbeit vorgestellt, um Formen der sprachlichen Faktizitätsherstellung und diskursiven Agonalität zu erläutern (Felder/Müller 2009; Felder 2012; Felder 2013).

2     Sprachliche Gebundenheit von Wissen im diskursiven Aushandlungsprozess

Einen Großteil unseres Wissens nehmen wir in Diskurszusammenhängen wahr. Diskurse sind Text- und Gesprächsnetze zu einem Thema (Felder 2012, S. 121). Wissen wird diskursiv hergestellt und ist in seinen sprachlich gebundenen Darstellungsformen perspektiven- und interessengeleitet (Köller 2004; Felder/Müller 2009). Bestimmte Wissensformate sind je nach Adressatengruppierung (Kühn 1995) und deren Vorwissen mitunter nur vorübergehend, eingeschränkt oder gar nicht gültig und nicht für alle Menschen von gleicher Relevanz. Das Erkenntnisinteresse der Linguistischen Diskursanalyse (LDA) besteht darin, die Wechselwirkung zwischen sprachlicher Perspektivierung der Wissensbestände und der damit einhergehenden Regulationsversuche in Gesellschaften offenzulegen, um politische Machtkämpfe, die Wirksamkeit und mediale Rezeption gesetzlicher Regelungen wie auch semantische Deutungskämpfe um kollektive Einstellungen und Wahrnehmungen – also sprachliche Konfliktverläufe – zu verdeutlichen. Ausgehend von den sprachlichen Aushandlungsprozessen können agonale Zentren des Diskurses ermittelt werden. Unter agonalen Zentren verstehen wir „einen sich in Sprachspielen manifestierenden Wettkampf um strittige Akzeptanz von Ereignisdeutungen, Handlungsoptionen, Geltungsansprüchen, Orientierungswissen und Werten in Gesellschaften. Im Fokus der Aufmerksamkeit stehen kompetitive Sprachspiele zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Diskursakteuren.“ (Felder 2013, S. 21)[1]

In diesem Wissenskontext ist – entgegen der alltagssprachlichen synonymen Verwendungsweise von Daten und Fakten – folgende begriffliche Unterscheidung hilfreich (Felder 2013, S. 14). Ein Blick auf die Infinitive facere (lat. ›machen‹) und dare (lat. ›geben‹), die den Verbalabstrakta Faktum und Datum (lat. ›Gegebenes‹) zugrunde liegen, stellen Wissen in den epistemologisch schwierigen Zusammenhang von (Vor)Gegebenem (Daten) und Gemachtem (Fakten). Damit wird zugleich deutlich, dass Wissen aus intersubjektiv unstrittig Gegebenem – also Daten als nach allgemein akzeptierten Kriterien gewonnenen, oft gemessenen Größen – besteht sowie aus Gedeutetem – also aus beobachteten Ereignissen sowie anschließend abstrahierten und damit hergestellten Tatsachen als Fakten mit breitem Gültigkeitsanspruch. Streng genommen sind Daten ebenfalls vom Menschen gemacht, und zwar auf der Basis konventionalisierter Intersubjektivität. Heuristisch ist dessen ungeachtet die folgende Trennung nützlich: Fakten sind von Diskursakteuren sinnvoll Gemachtes und von daher prinzipiell von anderen Diskursbeteiligten bestreitbar (z. B. Der Mensch beeinflusst das Klima), Daten dahingegen sind unstrittige, allseits akzeptierte Fakten (z. B. Ein Atom besteht aus einer Hülle und einem Kern. Die Atomhülle hat einen Radius von etwa 10-10 m, der Radius des Atomkerns beträgt etwa 10-14 m). So lässt sich zusammenfassen: „Individualisierte Wissensbestände bestehen aus intersubjektiv unstrittig Vorgegebenem (Daten) und aus durch Deutung gewonnenem Gemachtem (Fakten).“ (Felder 2013, S. 14)

3     Beschreibung und Deutung politischer Risiken im Paradigma der pragma-semiotischen Textarbeit

Der Untersuchungsansatz der pragma-semiotischen Textarbeit stellt ein Verfahren der Linguistischen Diskursanalyse (LDA) dar. Sie folgt in ihrem Selbstverständnis einer hermeneutisch verstandenen Diskurslinguistik, die unter konsequenter Fokussierung der Textoberfläche als Ausgangspunkt linguistischer Analysen korpuslinguistische Verfahren subsidiär heranzieht. In thematischen Korpora sollen Handlungsspezifika von Diskursakteuren an der Sprachoberfläche in Form von rekurrent vorkommenden sprachlichen Mitteln nachgewiesen werden, die mit Typen von Sprachhandlungen korrelieren. Dabei interessieren in erster Linie die folgenden Handlungstypen als Kategorien mittlerer Abstraktion:

  1. Diskursakteure setzten einen Sachverhalt sprachlich fest (Sachverhaltskonstituierung als Sachverhaltsklassifizierung),
  2. Diskursakteure verorten den festgesetzten Sachverhalt in Relation zu anderen Sachverhalten (Sachverhaltsverknüpfung) und
  3. Diskursakteure bewerten den Sachverhalt in der Regel explizit oder implizit (Sachverhaltsbewertung).

Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht die Intention, auf der Basis eines großen thematischen (digitalisierten) Textkorpus eine linguistische Analysetechnik der Themenspezifikation zu präsentieren. In der hier exemplifizierten Vorgehensweise wird der Diskurs sprachwissenschaftlich untersucht, indem – ausgehend vom Diskursthema (hier: Atomenergie) – zentrale Subthemen des Diskurses ermittelt (hier exemplarisch: Risiko) und diese wiederum hinsichtlich zentraler Streitpunkte analysiert werden. Solche Streitpunkte werden hier als agonale Zentren (im Sinne diskursiver Wettkämpfe um Geltungsansprüche) bezeichnet und Praktiken ihrer Ermittlung im Folgenden erklärt. Agonale Zentren werden durch grundlegende und umstrittene handlungsleitende Konzepte (Felder 2006, S. 18) modelliert. Sie lassen sich in einem bestimmten Diskurs nur herausarbeiten, wenn die Manifestation der sprachlichen Mittel auf der Textoberfläche aufgezeigt werden kann (Felder 2009, 2012).

4     Politische Kontroversen um Risiken im Bereich der Atomenergie

4.1   Vom Risikobegriff zur linguistischen Fragestellung

Im Rahmen der hier vorliegenden Studie[2] wurde das Korpus mithilfe der Suchsyntax *risik*|*risk* quantitativ und qualitativ gesichtet und analysiert, und zwar auf der Einwort-, Mehrwort-, Satz- und Textebene. Grammatische, semantische und pragmatische Beobachtungen (z. B. Genitivkonstruktionen wie Abschaltung der Hochrisikoreaktoren, Kompositagefüge wie Risikotechnologie, Sprachhandlungen des Aufforderns wie Schutz vor Atomrisiken!) fließen dabei ebenso in die Analyseergebnisse ein wie korpuslinguistische Verfahren (z. B. die Erstellung und Auswertung von Wortlisten, Konkordanzen, Cluster und Kookkurrenzen). Für eine Zuspitzung auf das Subthema Risiko wird die Arbeit mit einem Wörterbuch (hier: der Eintrag zu Risiko im Universalwörterbuch des Dudenverlags[3]) und die Auseinandersetzung mit interdisziplinärer Fachliteratur (hier: Luhmanns Zeit-, Sach- und die Sozialdimension des Risikobegriffs, 1991, S. 59) vorangestellt. Die zentralen Komponenten aus dem Wörterbucheintrag und der soziologischen Abhandlung werden nun für eine linguistische Analyse transformiert:

  1. Risiken treten mit Ereignissen ein.
    Linguistisch transformiert (LT): Wie werden diese Ereignisse über die sprachliche Sachverhaltskonstituierung perspektiviert? Welches implizite und explizite Wissen geht damit einher?
  2. Risiken, die mit den Ereignissen in Verbindung gebracht werden, haben in der Vergangenheit bereits angelegte Ursachen und potenzielle zukünftige Folgen.
    LT: Mit welchen sprachlichen Mitteln wird eine Verbindung zwischen diesen Ursachen, Ereignissen und Folgen hergestellt? Welchen Einfluss haben diese sprachlichen Realisierungen auf die Sachverhaltsverknüpfung?
  3. Die Ursachen, Ereignisse und Folgen von Risiken unterliegen kognitiven und sprachlichen Formen des Einschätzens und Bewertens.
    LT: Die Einschätzungen und Bewertungen sind an Individuen und Gruppen gebunden. Wie lassen sich die in der (1) Sachverhaltskonstituierung und (2) Sachverhaltsverknüpfung sprachlich realisierten Formen des impliziten Einschätzens und Bewertens mit der sprachlich realisierten Form der expliziten Sachverhaltsbewertung in Verhältnis setzen? Wie versuchen Diskursakteure ihre Wissensbestände zwischen „intersubjektiv unstrittig Vorgegebenem (Daten)“ und „durch Deutung gewonnenem Gemachtem (Fakten)“ (Felder 2013, S. 14) dominant zu setzen?

Die aus der linguistischen Transformation abgeleiteten Fragen dienen nun als Hilfestellung bei der quantitativen und qualitativen Analyse.[4] Ihr liegt ein Korpus zugrunde (Jacob in Vorb.), welches ca. 4.000 politische Dokumente (z. B. Protokolle, Berichte, Gesetze des Deutschen Bundestages) aus den Jahren 1983 bis 2013 enthält, in denen es um atomare und erneuerbare Energien geht.

4.2   Energiepolitische Debatte zu Risiken der Atomenergie

Die politische Debatte zu Risiken der Atomenergie zeichnet sich dadurch aus, dass die Politiker die Risiken sehr häufig nennen, in seltenen Fällen aber nur benennen.[5] Sie verwenden zwar die Ausdrücke Risiko und Risiken in energiepolitischen Reden oder Dokumenten, von nur wenigen Belegen lässt sich jedoch ableiten, was jeder Politiker bzw. jede Politikerin unter Risiken der Atomenergie bzw. Risiken der Kernenergie[6] versteht. Mit dem Thema gehen also Präsuppositionen (Wissensvoraussetzungen) einher, mit denen rhetorisch operiert wird:

Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Welche Überlegung steckt eigentlich hinter dem Ausstieg? Ich höre davon, aber ich kenne keine tatsächlichen wissenschaftlichen, technischen oder rechtlichen Erkenntnisse, die ein Abweichen von der bisherigen Risikobewertung […] begründen. Da steht, dass die Kernenergie und das ihr innewohnende Risiko ein sozial adäquat hinnehmbares Restrisiko ist. Was sich verändert hat, sind nicht Tatsachen, sind nicht rechtliche Bewertungen, sind nicht technische Voraussetzungen, sondern Sie, Herr Trittin, haben die Reaktor-Sicherheitskommission und die Strahlenschutzkommission personell verändert, damit Sie jetzt Leute haben, die Ihnen das Risiko anders bewerten, als es diejenigen bewertet haben, die in aller Welt anerkannte Fachleute waren. (Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages, 23.2.2000)

Der Beleg veranschaulicht einerseits, wie Inhalte verschleiert werden, die mit der politischen Debatte zur Atomenergie einhergehen: Die Umgebung der verwendeten Ausdrücke Risiko und Restrisiko macht nicht transparent, was genau unter Risiko als sozial adäquat hinnehmbares Restrisiko zu verstehen ist. Um linguistisch zu erfassen, was die Diskursakteure unter den Ausdrücken verstehen, muss die Suchanfrage eingegrenzt, Belege quantitativ herausgefiltert und der gesamte Abschnitt, in dem die Belege auftreten, qualitativ analysiert werden.[7] Andererseits zeigt der Beleg beispielhaft, in welcher Weise Politikerinnen und Politiker Faktizität herzustellen bemüht sind. Für den Abgeordneten Gehb haben sich die wissenschaftlichen, technischen und rechtlichen Fakten nicht geändert. Er bemängelt die interessengeleitete Umwertung der Risiken, die Bundesminister Trittin seiner Ansicht nach vorzunehmen versucht. Gehb spricht ein diskursives Phänomen an, welches für die politischen Debatten zur Atomenergie musterhaft ist: Die Politiker und Politikerinnen generieren unterschiedliche Fakten und verleihen ihnen Geltung.

Um diesem Phänomen aus linguistischer Sicht genauer nachzugehen, ist es lohnenswert, die verschiedenen Risiken, die von den Diskursakteuren mit der Atomenergie in Verbindung gebracht werden, zu unterscheiden. Auf der Grundlage der 50 ausgewählten politischen Dokumente (Erläuterung siehe Anm. 6) lassen sich handlungsleitende Konzepte in Form von Daten und Fakten formulieren. Die Politiker und Politikerinnen unterschiedlicher Couleur sind sich über das Datum der potenziellen radioaktiven Kontaminationsgefahr einig (in Abb. 1: innerer Kreis). Es besteht Konsens darüber, dass radioaktive Strahlung eine Bedrohung für den Menschen und seine Umwelt darstellt (das ist das Datum). Uneinig sind sich die politischen Akteure hingegen über die potenziellen Gefahren, die sich aus der Atomenergie ergeben. Sie werden unterschiedlich gedeutet, sprachlich perspektiviert und als handlungsleitende Konzepte dominant gesetzt. Auf diese Weise gelangen sprachlich hergestellte Fakten in der politischen Debatte zur Atomenergie in Wettstreit (s. Abb. 1: äußere Kreise).

Abb. 1: Handlungsleitende Konzepte in Form von Daten und Fakten

Handlungsleitende Konzepte in Form von Daten und Fakten

Quelle: Eigene Darstellung

Davon ausgehend lässt sich ein übergeordnetes agonales Zentrum ableiten, das sich aus den im Schaubild dargestellten handlungsleitenden Konzepten speist: Während die Befürworter der Atomenergie dem Argumentationsschema ›Wir gehen die potenzielle Gefahr des Datums ein, weil wir die potenziellen Gefahren der Fakten minimieren‹ (übergeordnetes handlungsleitendes Konzept 1) folgen, argumentieren die Gegner der Atomenergie entgegengesetzt nach dem Schema ›Wir gehen die potenzielle Gefahr des Datums nicht ein, weil die potenziellen Gefahren der Fakten und folglich die potenzielle Gefahr des Datums zu hoch ist‹ (übergeordnetes handlungsleitendes Konzept 2).[8] In dieser übergeordneten agonalen Argumentation steht beispielsweise das handlungsleitende Konzept ›Die Kernenergie ist eine hinnehmbare potenzielle Gefahr, weil sie sozial vertretbar ist‹ (beispielsweise in der befürwortenden Formulierung, dass die Kernenergie und das ihr innewohnende Risiko ein sozial adäquat hinnehmbares Restrisiko ist) dem handlungsleitenden Konzept ›Die Kernenergie ist eine nicht zu akzeptierende potenzielle Gefahr, weil sie gesellschaftlich nicht vertretbar ist‹ (beispielsweise in der gegnerischen Formulierung wir halten sie [die Atomenergie] aber auch deshalb nicht mehr für vertretbar, weil es eine klare gesellschaftliche Mehrheit gegen die weitere Nutzung der Atomenergie gibt) agonal gegenüber.

Ein linguistisch auffälliges Phänomen ist bei diesen beiden agonal zueinander stehenden Argumentationsweisen das mit positiven Konnotationen besetzte Hochwertkonzept ›Klimaschutz‹, das dazu dient, die soeben vorgestellten Argumentationsweisen weiter zu stützen oder zu entkräften. Das handlungsleitende Konzept ›Klimaschutz‹ wird von den Diskursakteuren als so unstrittig angesehen, dass sich alle widerstreitenden Diskursprotagonisten rhetorisch – von diesem Konzept ausgehend – auf das von ihnen favorisierte (im Gesamtdiskurs aber umstrittene) Konzept zubewegen – und zwar in der Hoffnung, dass der Nimbus des Unstrittigen, das dem Konzept ›Klimaschutz‹ anhaftet, sich auf ihr handlungsleitendes Konzept übertragen lässt. An den folgenden Ausschnitten aus zwei Plenarprotokollen des Deutschen Bundestages soll dies veranschaulicht werden:

Engelsberger (CDU/CSU): Ich fasse zusammen. Der einseitige Ausstieg aus der Kernenergie wäre für uns mit höchsten wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Risiken verbunden, ohne daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch größere Sicherheit erlangen würde. Zu fordern ist deshalb nicht der einseitige Ausstieg aus der Kernenergie – bei dem uns niemand folgen würde –, sondern die Durchsetzung höchster internationaler Sicherheitsstandards. Wenn uns Wissenschaft und Technik neue Energiequellen anbieten, die mit weniger Risiko behaftet sind als die Kernenergie, so werden wir wie in der Vergangenheit auch künftig an der Spitze des umwelt- und energiepolitischen Fortschritts marschieren. (Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages, 3.10.1986)

Michaele Hustedt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): [Es] wird versucht, die berechtigten, wachsenden Ängste vor der Klimakatastrophe schamlos auszunutzen, um die fehlende Akzeptanz für die Atomkraft in der Bevölkerung zurückzugewinnen. Nicht mit uns, meine Damen und Herren! […] Sie behaupten, daß die Atomkraft in Deutschland hochgradig sicher sei. Das Risiko scheint aber doch zumindest in den Augen derjenigen, die dafür geradestehen müßten, nicht kontrollierbar zu sein. Es findet sich nämlich kein Versicherer, der bereit wäre, das tatsächliche Risiko abzudecken. (Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages, 26.4.1995)

Des Weiteren ist in obigen Belegen zu beobachten, dass der Abgeordnete Engelsberger den Ausdruck Risiko für zwei verschiedene Sachverhaltsfestsetzungen verwendet; bei der ersten Benennung für die Bezeichnung des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Wagnisses, welches durch den Ausstieg aus der Kernenergie eingegangen wird, und bei der zweiten Benennung für das Risiko, welches mit der Kernenergie einhergeht. Auf diese Weise werden zwei Sachverhalte über den gleichen Ausdruck verknüpft und bewertet. Während Engelsberger die Kernenergie mit dem Argument der Klimaverträglichkeit stützt und höhere Sicherheitsstandards fordert, verfolgt Abgeordnete Hustedt eine ebenso musterhafte Argumentation der Debatte, nur eben aus gegnerischer Sicht. Sie kritisiert die Sachverhaltsverknüpfung zwischen der Atomenergie und der Klimaverträglichkeit der Befürworter und negiert das Argument der Sicherheit, weil es nicht das der Gesellschaft sei.

5     Resümee: Diskurslinguistik und Risikoforschung

Wenn sich in Sprache riskantes Wissen sedimentiert, dann liefert die Diskurslinguistik induktiv erschlossene Deutungsangebote, indem sie Diskursverläufe systematisch zu erfassen und zu beschreiben vermag. Ziel des vorliegenden Beitrages war es, die Potenziale dieser linguistischen Herangehensweise vorzustellen, die Ergebnisse haben daher nur exemplarischen Charakter. Zum einen wurden dazu theoretische und terminologische Überlegungen angestellt. Die Unterscheidung zwischen Daten und Fakten fungiert dabei als heuristisches Werkzeug, um Konsens und Dissens linguistisch genauer fassen zu können. Die Sprachhandlungstypen der Sachverhaltskonstituierung, -verknüpfung und -bewertung sollten dazu dienen, diskursive und divergent perspektivierende Aushandlungsprozesse zu präzisieren. Zum anderen wurde die pragma-semiotische Textarbeit als methodischer Ansatz vorgestellt, um in großen Textkorpora durch korpuslinguistische und hermeneutische Verfahrensweisen einen Weg aufzuzeigen, von der sprachlichen Oberfläche Interpretationen diskursiver Muster abzuleiten. An der politischen Debatte um Risiken der Kernenergie wurde gezeigt, welche Erkenntnisse eine linguistische Diskursanalyse erbringen kann: Sie deckt akteursspezifische sprachliche Aushandlungsprozesse auf und objektiviert in großen Textkorpora agonale Zentren als induktiv erschlossene Deutungsrahmen eines Diskurses.

Anmerkungen

[1]Die folgenden Ausführungen zur Agonalität sind sinngemäß und in Teilen schon in Felder 2013 publiziert.

[2]Es handelt sich um eine Vorstudie, die im Rahmen einer an der Universität Heidelberg entstehenden Dissertation (Jacob in Vorb.) durchgeführt wurde.

[3]Siehe DUDEN (2011): Deutsches Universalwörterbuch. 7., überarbeitete und erweiterte Auflage. Mannheim (Artikel „Risiko“).

[4]Die computergestützten Analyseschritte erfolgten mit der Software AntConc (Laurence Anthony, 2011: AntConc 3.2.4w (Windows). Faculty of Science and Engineering. Waseda University, Japan. Als Freeware erhältlich unter http://www.antlab.sci.waseda.ac.jp/software.html, Stand: 14.4.2014).

[5]Im Folgenden werden Ausdrücke auf der sprachlichen Oberfläche kursiv (z. B. Risiko) und Konzepte als mentale Repräsentationen sprachlicher Ausdrücke in einfachen romanischen Anführungszeichen (z. B. ›Potenzielle Gefahr‹) gesetzt. Wenn es um den Ausdruck, das Konzept und den Sachverhalt in der Welt geht, wird keine spezielle Notation (z. B. Risiko) vorgenommen.

[6]Die Suchanfrage erfolgte zum einen mit der Syntax *risik* der *atom* (72 Belege) und *risik* der *kern* (89 Belege). Zum anderen wurde das Korpus nach Belegen befragt, bei denen *atomenergie* bzw. *kernenergie* und *Risiko* im Abstand von 1–10 Wörtern links und 1–10 Wörtern rechts vorkommen.

[7]Die Suchanfrage *atomenergie* (und *Risiko* im Abstand 1–10 Wörtern links und 1–10 Wörtern rechts) ergab 15 Belege, die Suchanfrage *kernenergie* (und *Risiko* im Abstand 1–10 Wörtern links und 1–10 Wörtern rechts) ergab 35 Belege.

[8]Zur terminologischen Differenzierung zwischen Datum und Faktum siehe Kapitel 2 in diesem Aufsatz.

Literatur

Felder, E., 2006: Semantische Kämpfe in Wissensdomänen: Eine Einführung in Benennungs-, Bedeutungs- und Sachverhaltsfixierungs-Konkurrenzen. In: Felder, E. (Hg.): Semantische Kämpfe. Macht und Sprache in den Wissenschaften. Berlin, S. 13–46

Felder, E., 2009: Sprache – das Tor zur Welt!? Perspektiven und Tendenzen in sprachlichen Äußerungen. In: Felder, E. (Hg.): Sprache. Im Auftrag der Universitätsgesellschaft Heidelberg. Berlin, S. 13–57

Felder, E.; Müller, M. (Hg.), 2009: Wissen durch Sprache. Theorie, Praxis und Erkenntnisinteresse des Forschungsnetzwerks »Sprache und Wissen«. Berlin

Felder, E., 2012: Pragma-semiotische Textarbeit und der hermeneutische Nutzen von Korpusanalysen für die linguistische Mediendiskursanalyse. In: Felder, E.; Müller, M.; Vogel, F. (Hg.): Korpuspragmatik. Thematische Korpora als Basis diskurslinguistischer Analysen. Berlin, S. 115–174

Felder, E., 2013: Faktizitätsherstellung mittels handlungsleitender Konzepte und agonaler Zentren. Der diskursive Wettkampf um Geltungsansprüche. In: Felder, E. (Hg.): Faktizitätsherstellung in Diskursen. Die Macht des Deklarativen. Berlin, S. 13–28

Jacob, K. (in Vorb.): Linguistik des Entscheidens. Sprachliche Muster und Variationen in Entscheidensprozessen am Beispiel des politischen Diskurses um erneuerbare Energien unter diskurslinguistischen und funktional-pragmatischen Gesichtspunkten (Arbeitstitel einer an der Universität Heidelberg entstehenden Dissertationsschrift)

Klinke, A.; Dreyer, M.; Schweizer, P.-J. et al., 2007: Risiko – Über den gesellschaftlichen Umgang mit Unsicherheit. München

Köller, W., 2004: Sprache und Perspektivität. Zur Struktur von Objektivierungsformen in Bildern, im Denken und in der Sprache. Berlin

Kühn, P., 1995: Mehrfachadressierung. Untersuchungen zur adressatenspezifischen Polyvalenz sprachlichen Handelns. Tübingen

Luhmann, N., 1991: Soziologie des Risikos. Berlin

Renn, O., 1984: Risikowahrnehmung der Kernenergie. Frankfurt a. M.

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