Technikrisiken und wissenssoziologische Diskursforschung

Schwerpunkt: Risikodiskurse/Diskursrisiken. Sprachliche Formierungen von Technologierisiken und ihre Folgen

Technikrisiken und wissenssoziologische Diskursforschung

von Reiner Keller, Universität Augsburg

„Risikodiskurse“ sind Auseinandersetzungen um die Existenz, Kontrolle, Akzeptanz oder Ablehnung von katastrophischen Technologiepotenzialen und Umwelteffekten menschlicher Produktions- und Konsumoptionsweisen. Sie bilden seit Längerem eine Hauptkonfliktlinie gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Risiken und Nicht-Risiken sind folgenreiche diskursive Konstruktionen – je nachdem, wie sie definiert werden, fühlen sich Menschen sicher oder unsicher, werden Technologien und Wirtschaftszweige ausgebaut oder eingestellt, soziokulturelle und technische Entwicklungspfade von Gesellschaften in die eine oder die andere Richtung hin ausgerichtet. Der vorliegende Beitrag erläutert zunächst das Diskurs- und Wissensverständnis der wissenssoziologischen Diskursforschung. Im Anschluss daran wird eine knappe Bilanz der risikosoziologischen Forschung formuliert und spezifischer auf die Erträge der Risikodiskursforschung fokussiert. Ein kurzer Ausblick entwickelt Vorschläge, wie eine solche Forschung stärker wissenssoziologisch akzentuiert und dadurch mit neuen Impulsen versehen werden kann.

1     Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit

Als allgemeines soziologisches Theorieprogramm und als spezielle Soziologie beschäftigt sich die Wissenssoziologie mit der Frage, wie und welche soziohistorisch und soziokulturell veränderlichen Wissensbestände gesellschaftlich in unterschiedlichsten Bereichen, auf verschiedenen Erfahrungsebenen erzeugt und zueinander in Beziehung gesetzt werden (etwa als Verhältnis von religiösen Kosmologien und wissenschaftlichen Weltbildern).[1] Mitte der 1960er Jahre führten Peter Berger und Thomas Luckmann in ihrem Klassiker „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ etliche Diskussionsstränge zusammen und formulierten als zeitgemäße Ausgangsfrage der Wissenssoziologie:

„Wie ist es möglich, daß subjektiv gemeinter Sinn zu objektiver Faktizität wird? Oder, in der Terminologie Webers und Durkheims: Wie ist es möglich, daß menschliches Handeln (Weber) eine Welt von Sachen hervorbringt? So meinen wir denn, daß erst die Erforschung der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit – der ‚Realität sui generis‘ – zu ihrem Verständnis führt. Das, glauben wir, ist die Aufgabe der Wissenssoziologie.“ (Berger/Luckmann 1980, S. 20 [1966])

Wissenssoziologische Diskursforschung – und spezifischer die Wissenssoziologische Diskursanalyse (WDA) – interessiert sich dafür, wie Diskurse „Wissen“ konstituieren, und welche Voraussetzungen und Folgen das hat. Der Begriff „Wissen“ bezieht sich dabei nicht nur auf ein positives Tatsachen- oder Faktenwissen, auf das also, was als bewiesen, evident, bewährt und wirklich gilt. Wissen ist vielmehr ein allgemeiner Ausdruck dafür, etwas als „wirklich“ zu behandeln und „bestimmbare Eigenschaften“ anzunehmen. Das schließt religiöse Glaubensvorstellungen bis hin zum Hexenglauben ebenso ein wie politische Ideologien, aber auch Ideen- oder Normordnungen, wissenschaftliche Wissensproduktionen, interaktiv stabilisierte Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsroutinen, und vieles andere mehr. Die wissenssoziologische Diskursforschung beschäftigt sich dann spezifischer damit, wie Wissen in und zwischen Diskursen konstituiert wird, und welche Effekte das hat. Der Diskursbegriff wird hier nicht im Sinne der Diskursethik von Jürgen Habermas verstanden, die damit spezifisch organisierte Argumentationsprozesse meint und Programmen der Konfliktmediation zugrunde liegt (Keller/Poferl 2000). Vielmehr bezeichnet er im Anschluss an Michel Foucault strukturierte, in unterschiedlichen Graden und Formen institutionalisierte Praktiken des Symbolgebrauchs, in denen soziale Akteure die Wirklichkeit der Welt als Wissen konstituieren – immer als mehr oder weniger umstrittenes Wirklichkeits- und Wissensverhältnis, das in komplexen Verhältnissen von Stabilisation, Ereignisbezug und Veränderung eingelassen ist. Diskursiv prozessiertes Wissen hat also soziale Grundlagen und Folgen, die sich sehr unterschiedlich darstellen können. Deutungsmuster, Klassifikationen, Legitimationsfiguren, Argumenttypen, Phänomenstrukturen, narrative Muster, anerkannte und nicht anerkannte Prüfformen sind Gestalten, in denen das Wissen in Diskursen vorliegt, die spezifische Aussagen über die Wirklichkeit der Wirklichkeit – etwa über die Interessen oder das Wesen von Menschen oder Organisationen, die Tatsächlichkeit oder Fiktion von Risikoeinschätzungen, die Gefährdung oder Robustheit soziotechnischer und sozioökologischer Verhältnisse – auf Dauer stellen und auch verändern. Gegenwärtig erleben unsere Gesellschaften einen starken Wandel ihrer Diskursordnungen, der vor allem durch die Möglichkeiten des Internet befördert wird, die Selbstermächtigung von Sprechern in Diskursen zu befördern.[2]

Wenn in diesem Sinne im Anschluss an Poferl (2004) von der „diskursiven Konstruktion von Wirklichkeit“ gesprochen werden kann, dann verbinden sich damit zwei Traditionen der sozialwissenschaftlichen Wissensanalyse, die man grob vereinfachend einerseits als die Foucaultsche Tradition bezeichnen kann, andererseits als diejenige der interpretativen Soziologie. Diskurse sind, so Foucault, historisch emergierende und veränderliche Praktiken, welche die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen, und sie sind an Dispositive (Infrastrukturen) der Aussageproduktion und der Weltintervention gekoppelt: Forschungszentren, Think Tanks, theologische Schulen, Massenmedien, aber auch soziotechnische Infrastrukturen, Gesetze, technische Verfahren, Materialitäten unterschiedlichster Art. Sie können auf ihre Binnenstrukturierungen hin untersucht werden, auf die Gegenstände, die sie bilden, ebenso wie auf die Formen, in denen sie vollzogen werden, oder im Hinblick auf die Effekte, die sie hervorrufen. Sie sind Einsätze in gesellschaftlichen Wahrheits- und Machtspielen, im Kampf um die Definitionshoheit und Deutungsmacht bei konkreten Ereignissen. Darin trifft sich die Foucaultsche Perspektive mit der interpretativen Soziologie:[3] Wenn Menschen Situationen als wirklich definieren, dann sind die Folgen dieser Definition wirklich, ganz unabhängig davon, ob die ursprüngliche Definition „richtig“ oder „falsch“ gewesen sein mag. So formulierten William und Dorothy Thomas in den 1920er Jahren ihr berühmtes „Theorem“ (zit. nach Thomas 1965, S. 113f.). Mit George Herbert Mead und anderen lässt sich zudem vom „Diskursuniversum“ sprechen, dem Horizont der in einem Kollektiv erzeugten und geteilten Bedeutungen, die der sozialen Strukturierung des individuellen Bewusstseins zugrunde liegen. Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch eine Vielzahl überlagernder, verflochtener, konkurrierender, hierarchisierter und mehr oder weniger spezialisierter Diskursuniversen aus, deren komplexe Verwobenheit Gegenstand der Diskursforschung sein kann.

Die Wissenssoziologische Diskursanalyse folgt keiner vorab entwickelten Diskurstheorie, sondern formuliert eine Heuristik und Methodologie zur sozialwissenschaftlichen Analyse gesellschaftlicher Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken, sei es in Gestalt konkurrierender Motivvokabularien, subjektiver Selbst-Verständnisse oder Existenzformen, Verlaufskurven umwelt-, risiko- und technikbezogener Kontroversen, deren dispositiven Grundlagen und Folgen, den Arenen und Akteuren ihres Auftretens. Diskurse sind soziale Prozesse der Relationierung unterschiedlichster Wissenselemente, in denen Äußerungen über die Wirklichkeit auf Dauer gestellt, mit Legitimationen versehen und an Voraussetzungen sowie Folgen gekoppelt werden. Diskurse und Diskursarenen bilden die in Wissensgesellschaften zentralen Formen und Orte der Konstitution und Transformation der Wirklichkeit der Welt. Das lässt sich gerade an der Risikothematik sehr deutlich illustrieren.

2     Soziologie des Risikos und der Risikodiskurse

Die Soziologie begann Anfang der 1980er Jahre, sich mit dem Thema „technisch-ökologische Risiken“ zu beschäftigen. Den Hintergrund dafür bildeten die umwelt- und technologiepolitischen Konflikte des vorangegangenen Jahrzehnts.[4] Heute wird der Risikobegriff in erster Linie mit den Arbeiten von Ulrich Beck (1986; 1988) verknüpft. Becks Thesen hatten eine implizite wissenssoziologische Dimension: Nicht die tatsächlichen Fakten, sondern die gesellschaftliche Dynamik von Risikowahrnehmungen, Risikokonflikten, Definitionsverhältnissen, Nichtwissen und Subpolitiken kennzeichnen das Zeitalter der Risikogesellschaft. Im selben Jahr 1986 stellte auch Niklas Luhmann seine systemtheoretisch-konstruktivistische Perspektive auf „Ökologische Kommunikation“ vor, die er wenig später um eine „Soziologie des Risikos“ ergänzte (Luhmann 2004; Luhmann 1991). Ökologische Kommunikation ist Kommunikation über Umweltgefährdungen, die in den gesellschaftlichen Teilsystemen je unterschiedliche Resonanzen erzeugt. „Risiko“ ist ein gesellschaftliches Deutungsmuster, das auf den Zusammenhang von Entscheidung und Folgen verweist, während „Gefahr“ auf der Seite der Nichtentscheider beobachtet wird.[5]

Die verschiedenen Positionen verband ein gemeinsames Element, nämlich die Betonung der Definitionsabhängigkeit von Risiken in umwelt- und technologiepolitischen Konflikten: „Risiko ist ein Konstrukt“ (Krohn/Krücken 1993; Bayerische Rück 1993; Bechmann 1993). Das gilt bis heute als wichtiger Beitrag der soziologischen Risikoforschung zur gesellschaftlichen Risikodebatte (Renn 2014, S. 148ff.). Folgerichtig sprach Lau (1989) schon Ende der 1980er Jahre von „Risikodiskursen“, von gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Bestimmung von Risiken, Wahrscheinlichkeiten, Schadenserfassungen oder -verteilungen. Die soziologische Risikodiskursforschung war und ist daran interessiert, gesellschaftliche Risikokonflikte in ihren Verläufen, Mechanismen und Folgen zu beobachten. Risiko-, Umwelt- und Technikdiskurse zwischen Massenmedien und politischen Arenen, in gesellschaftlichen Spezialarenen oder auch im internationalen Vergleich[6] wurden zu einem anhaltenden Gebiet sozialwissenschaftlicher Forschung, das gleichwohl wenig kumulierend voranschreitet und auch das Thema „technische Risiken“ nur bedingt anschneidet. Etwas stärker auf Risikoargumentationen fokussiert die in Frankreich verankerte Soziologie der Kontroversen, die darauf zielt, empirisch gesättigt typische Verlaufsmuster von argumentativ ausgetragenen Kontroversen zu diagnostizieren (Chateauraynaud/Torny 1999; Chateauraynaud 2011; Keller 2003). Auch weitere soziologische Studien zu systemisch-organisatorisch diagnostizierten Katastrophenpotenzialen (Perrow 1988), zur Risikogenese (z. B. Böschen 2000), zur institutionellen Techniksteuerung und Wissensproduktion (z. B. Jasanoff 2006; Jasanoff 2007) oder zum Nichtwissen (z. B. Wehling 2006) trugen zur Risikodiskursforschung bei, selbst wenn sie den Diskursbegriff wenig nutzten.

Risikodiskurse entzünden sich an katastrophischen Ereignissen und an Technikentwicklungen. Solche Phänomene bieten Gelegenheiten zur gesellschaftlichen Selbstverständigung über grundlegende Strukturierungen symbolisch-institutioneller und materieller Ordnungen. Wissenssoziologisch interessant ist weniger die Frage, was sie im Tatsachenkern „wirklich“ sind oder nicht sind, sondern im Sinne des Thomas-Theorems die Analyse der gesellschaftlichen Folgen, die sich aus ihren Definitionen ergeben. Aus den sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zu Risikodiskursen lassen sich in der Zusammenschau durchaus weitreichende Veränderungen gesellschaftlicher Struktur- und Handlungszusammenhänge ableiten. So haben diese Diskursformationen sicherlich ein neues kollektives Motivvokabular, eine neue Grammatik der Verantwortlichkeit gesellschaftlich etabliert. Deren Merkmale bestehen darin, dass

Die andauernd hohe Zahl von Diskursstudien zu Technologie-, Umwelt-, Katastrophen- und Risikodebatten sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass von ihnen (und auch von der Risikosoziologie insgesamt) im letzten Jahrzehnt nur noch wenige Impulse in die breitere sozialwissenschaftliche Diskussion getragen wurden.[7] Bezogen auf den Risikobegriff hat die, an Michel Foucault anschließende Gouvernmentalitätsforschung, die vor allem Biopolitiken (etwa die Konstruktion von gesundheitlichen Risikopopulationen) in den Blick nahm, zweifellos sichtbarere Spuren hinterlassen. Auch Analysen von bspw. terrorismusbezogenen Politiken der Sicherheit, der Angst und der Kontrolle haben kulturdiagnostisch breitere Resonanz erfahren.

3     Wissensverhältnisse und Wissenspolitiken im Feld der Technikrisiken

Die Genese des wahrscheinlichkeitsbasierten Risikoverständnisses, wie es zunächst ökonomischen und versicherungstechnischen Kalkülen zugrunde lag, lässt sich rückverfolgen in die Entwicklung der Versicherungswirtschaft und Statistik. Ihr liegen ein spezifischer moderner Handlungszusammenhang und ein entsprechendes Erfahrungswissen zugrunde. Ein Risiko eingehen, bedeutet demnach eine auf Grundlage menschlichen Entscheidens eingegangene Handlungsverkettung, die positive (gewollte) wie auch negative (ungewollte) Folgen (für den Entscheider/die Entscheiderin) mit sich bringen kann, über deren Ausmaß und Verteilung ein gewisses Erfahrungswissen (und eine daraus ableitbare statistische Verteilungskurve) bestehen. In diesem Sinne kann das statistisch gefasste Risikokalkül als eine „moderne Technologie“ der nach-magischen, nach-religiösen Zukunftskontrolle verstanden werden, die gesellschaftlich neue Handlungsspielräume eröffnete. Unlängst hat Ortwin Renn (2014) im Sinne mathematischer Risikorationalität und aufklärerischer Absicht erneut zwischen wichtigen bzw. tatsächlichen und „vermeintlichen“ Risiken unterschieden; auch die Risikokommunikationsforschung bearbeitet seit Langem ein entsprechendes gesellschaftliches Auseinanderfallen von „Angst und Grund“. Wie schon Beck in der „Risikogesellschaft“ argumentierte, entzündet sich deren Dynamik jedoch weniger an wissenschaftlich kalkulierten Risikobemessungen, als vielmehr an dem Verweis auf ungewisse Zukunft und dennoch mögliche Schäden. Das mathematische Risikokalkül stößt angesichts der Entwicklung komplexer technischer Systeme, Stoffe und Produktionsformen an Grenzen. Spezifisch für die umweltkatastrophischen und technologischen Risiken der Gegenwart sind demnach Erschütterungen in verschiedenen Dimensionen des Risikobegriffs. Während primäre positive Folgen bekannt (oder zumindest versprochen) sind, gilt dies für mögliche negative Effekte nur in Teilen: Aufgrund der weiten Verstreuung von Stoffeinbringungen, ungesehener und ungewusster Zusammenhangseffekte sind Schäden nicht mehr raum-zeitlich eindeutig lokalisierbar und stehen in ihrem Ausmaß unter Katastrophenverdacht. Angesichts des prinzipiell uneinholbaren Nichtwissens, von ungewissen Nebenfolgen und strukturell mangelndem Erfahrungswissens lassen sich Vor- und Nachteile nicht mehr gegeneinander verrechnen – zumindest nicht mehr in dem Sinne, dass damit eine „objektiv eindeutige“ und konsensuelle Risikoabschätzung möglich wäre. Unterschiedliche Kontrolldiskurse haben gleichwohl unter den Stichworten der Nachhaltigkeit, der Anpassung oder der Vulnerabilität/Resilienz usw. dazu Gegenbilder entwickelt. Risikokonflikte und -diskurse sind die Formen, in denen Auseinandersetzungen über die Risikowirklichkeit der Gegenwart als Wissenskonflikte ausgetragen werden. Die wissenssoziologische Analyse kann hier bspw. zeigen, dass Konflikte um Technikrisiken keineswegs per se Hindernisse, sondern im Gegenteil vielleicht sogar Beförderer von gesellschaftlichen und technischen Entwicklungen sind.[8]

Für die (wissenssoziologische) Diskursforschung besteht hier ein breites Forschungsfeld, das von ihr dann weiter erschlossen werden kann, wenn sie in der Lage ist, eine komplexe Wissensanalyse vorzunehmen, die nicht einfach die Rekonstruktion von Medienberichterstattungen oder politischen Debatten einerseits zum Gegenstand hat, und sich andererseits auch nicht auf die Analysen der Wissenschafts- und Technikproduktion im Sinne der Science & Technology Studies reduziert. Stattdessen geht es um die Untersuchung der komplexen diskursiven Verwicklungen und Hierarchisierungen von Wissensansprüchen, Evidenzerzeugungen, Verfahren der Wissensproduktion und -kritik, der Prüfung, Anerkennung oder Ablehnung von „gültigem“ Wissen, der Verbindung von Faktenwissen, Zukunftsszenarien und normativen Ordnungen, der Erzeugung und Destabilisierung von Unverfügbarkeiten, der Ordnung und Unordnung von legitimen Sprecherpositionen, der Einrichtung von Verfahren der Bestätigung und Widerlegung, der Erkenntnisapparate und -mittel u. a. mehr, die in gesellschaftlichen Wissensverhältnissen enthalten sind. Das wissenssoziologische Instrumentarium bietet insofern Möglichkeiten, dem (Risiko-)Wissen durch die Gesellschaft zu folgen, also die komplexen diskursiven Vermittlungen und Verflechtungen der unterschiedlichsten Wissensformen, -technologien und -praktiken in den Blick zu nehmen, die unsere Gesellschaften bei dem riskanten Versuch erzeugen, ihr eigenes Weiterbestehen zu sichern.

Anmerkungen

[1] Wissenssoziologische Perspektiven spielen bereits in der Entstehungsphase der Disziplin bei allen Klassikern eine wichtige Rolle. Vgl. zum Überblick Knoblauch 2010.

[2] Vgl. zu den Analysebegriffen der WDA Keller 2011.

[3] Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen Keller 2012.

[4] Hier kann nicht auf die Breite der Diskussion eingegangen werden. In dieser Zeit wurden v. a. einflussreiche risikotheoretische Positionen formuliert, etwa die Cultural Theory (vgl. Douglas/Wildavsky 1982; Keller/Poferl 1998; zur aktuellen Anwendung auf die Klimadebatte Hulme 2014). Zu den ersten risikosoziologischen Schriften zählt Lagadec (1981) mit seinen vergleichenden Fallstudien zu Umwelt- und Technologiekonflikten. Zur Geschichte des Risikobegriffs vgl. bspw. Bonß (1995).

[5] In Frankreich, wo trotz Lagadec (1981) die Thematik zunächst wenig Echo fand, entwarf Bruno Latour dann eine weitere einflussreiche Perspektive (Latour 1995; Latour 2001; vgl. auch Callon et al. 2001).

[6] Vgl. z. B. Litfin 1994, Hajer 1995, Viehöver 1997, Gottweis 1998, Keller 1998, Weingart et al. 2002, Beck/Kropp 2011, Hulme 2014.

[7] Insoweit hat sich die Lage seit Grundmann (1999) wohl nicht wesentlich verändert.

[8] Vgl. etwa zur Entwicklung der Abfallbehandlung Keller 1998. In diesem Sinne könnte man allgemeiner (und sicherlich riskant) die These formulieren, dass der gegenwärtige ökonomische Erfolg der Bundesrepublik u. a. nicht trotz, sondern gerade wegen der jahrzehntelangen Konfliktkultur im Bereich technischer Risiken auftreten kann.

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