Die Unterscheidung von Nichtwissen

Schwerpunktthema: Problemorientierte Forschung

Die Unterscheidung von Nichtwissen

von Klaus P. Japp, Universität Bielefeld

Im folgenden Beitrag wird vermittels der Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen auf die ambivalente Position von Nichtwissen zwischen der Sicherung wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion und riskantem Entscheiden eingegangen. Weiter soll gezeigt werden, dass es sich bei dieser Ambivalenz um nichts weiter als um das Resultat systeminterner Operationen handelt und nicht etwa um externe Sachverhalte, auf die ein "halbierter Konstruktivismus" sich letztlich doch verlässt. Schließlich wird gezeigt (re-entry), dass der Risikobegriff diejenige "Schnittstelle" markiert, an der die moderne Gesellschaft zwischen Erleben und Handeln oszilliert und dass sie auch diese Lage lediglich ihren eigenen Operationen verdankt und nicht einer Gesamteinsicht in die bessere Option.

I. Wissen und Konsens

In der wissenssoziologischen Tradition wird Nichtwissen (äquivalent: Unwissen, Ignoranz) weithin als eine Art Abweichung von wahrem Wissen, z.B. als interessengesteuerte Ideologie, begriffen. Dahinter steckt die ehrwürdige Annahme, dass soziale Interaktion auf Konsens, auf geteiltes Wissen, gegründet sei (s. etwa Smithson 1985). Versuche, diese naive Position eines einzig wahren Wissens zu revidieren, sind bekanntermaßen halbherzig geblieben, insofern letztlich an der, in diesen Hinsichten essentiellen, Unterscheidung von Konstruktion und Realität, also an der Unterscheidung von konstruierter Realität und nichtkonstruierter Realität festgehalten wurde. Diese Unterscheidung führt immer zur Abwertung von Nichtwissen, denn durch alle wissenssoziologischen Relativierungen hindurch, verschafft sich doch immer wieder die Qualität einer zu begreifenden, zu wissenden Realität sui generis Geltung. Wenn aber weder wahres Wissen noch Konsens weiterhin als Fundamente sozialer Interaktion begriffen werden können, dann kann Nichtwissen nicht einfach implizit abgewertet werden, sondern es sollte explizit bezeichnet und beschrieben werden können [1] . Diese Möglichkeit ergibt sich, wenn Nichtwissen als (buchstäblich) andere Seite des Wissens [2] , als andere Seite einer Unterscheidung also, verstanden wird. Nichtwissen kann dann (von Wissen) unterschieden und - eigenständig - bezeichnet werden.

Wissen (oder Erkennen) wird als Anwendungsfall von Beobachtungsoperationen fixiert, genauso wie dies in der Handlungsperspektive der Fall ist. Dies legt operative Relevanz von Nichtwissen nicht nur für erkennende, sondern für kommunikative Operationen insgesamt, also auch für soziales Handeln nahe: Einheit kann im Risiko gesehen werden, aber gerade dies setzt die Differenz von spezifischem und unspezifischem Nichtwissen voraus. Im spezifischen Nichtwissen setzt sich eine Wissenschaft fest, die mit Problemlösungen entlang bereits bekannter Lösungen operiert, die neues Nichtwissen erzeugen, mithin den Schatten des Risikos nicht loswerden können. Im unspezifischen Nichtwissen setzen sich Handlungen oder Entscheidungen fest, die dessen operativen Ausdruck der Ignoranz (March/Olsen 1995: 199ff.) für gesteigerte Risikobereitschaft nutzen und dessen reflexiven Ausdruck für die Beobachtung der eigenen Handlungsfolgen nutzen ("monitoring": ebda.: 206). Nichtwissen erweist sich als produktiv für Beobachtungsoperationen sowohl als Erkennen als auch als Handeln [3] - und nicht etwa als zu reduzierender Sekundärhorizont. Oder anders formuliert: Vom Nichtwissen scheinen Struktureffekte für Erkennen und Handeln auszugehen, ohne die man irgendwie doch bei normativ konsentiertem Handeln (inklusive erreichbaren Zwecken) und szientifisch kontrollierter Erkenntnis (inklusive verlässlichen Problemlösungen) ankommen würde - in einer Gesellschaft, die beides nur noch in auffällig begrenztem Maße zulässt.

II. Konstruktion

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Nichtwissen (hier im Kontext ökologischer Gefahren) Zurechnungen von mehrdeutigen Gefährdungslagen auf eindeutige Handlungsoptionen auslöst, die als Zurechnungen prinzipiell kontingent sind, also das Moment der Konstruktion unauflöslich enthalten. Zu der Vorstellung, dass Kommunikation über Gefahren als Kommunikation von Nichtwissen aufgefasst werden könnte und man es daraufhin mit Zurechnungsprozessen zu tun bekommt, gibt es prinzipiell zwei Theorien. Zum einen die von Ulrich Beck vertretene Theorie "reflexiver Modernisierung" (Beck 1986/1988) und zum andern die von Niklas Luhmann vertretene konstruktivistische Systemtheorie (Luhmann 1997). Beck geht - trotz aller Zugeständnisse an das Moment der "Konstruktion" - von einem realistischen Gefahrenbegriff aus (Adams 1995: 195), während Luhmann einen konstruktivistischen Gefahrenbegriff ausgearbeitet hat (Luhmann 1990/1991a). Ein realistischer Gefahrenbegriff transformiert technisch-ökologische Risiken durch Verweis auf Schadensentgrenzung (Kernenergie/Gentechnik), Marktexpansion (Asbest/Bhopal) und Aggregationseffekte (Klima/Ressourcenübernutzung) in globale Gefahren (Beck 1986/1988; Beck/Giddens/Lash 1996). Die Folge besteht in einem wissenschaftspolitisch normativen Primat der "ökologischen Frage" (Beck et al. 1996) [4] . Die Theorie "reflexiver Modernisierung" teilt mit dem mainstream der soziologischen (Risiko-)Theorien (Clarke 1992; Hilgartner 1992; Renn 1992; Wildavsky 1995) die Prämisse, dass die Welt einerseits konstruiert werde, andererseits aber aus objektivierbaren Sachverhalten bestehe, die letztlich allein der Wissenschaft zugänglich sind [5] . Dieser "halbierte Konstruktivismus" lebt von der eigentümlichen, aber auch eigentümlich resistenten, Annahme, dass "unabhängig" gegebene Sachverhalte (Gefahren/Risiken) zugleich kontingenten Konstruktionsaktivitäten unterliegen. Man muss dann nur noch herausfinden, welche Konstruktionen die Sachverhalte "treffen". "Aber welche gesellschaftliche Beobachtung der ökologischen Probleme ist die "richtige"? Welche soziale Konstruktion der Probleme soll zwischen der Konstruktion und der Wirklichkeit der Probleme unterscheiden können? Die Antwort ist: die Wissenschaft" (van den Daele 1996: 422).

Dieser Unterstellung einer quasi konkurrenzfreien Beobachtbarkeit von ökologischen Gefahren und ihren politischen Konsequenzen durch autoritativ geltende Wissenschaft soll nicht einfach die Gegenposition polykontexturaler Beobachtungsverhältnisse entgegengehalten werden [6] . Vielmehr soll hervorgehoben werden, dass die scheinbar externe Position der "halbierten Konstruktion" immer schon interne Operation der ökologischen Kommunikation ist, deren selbstgenerierte Eigenwerte wie Risikoaversion (eher Beck 1986; Jänicke 1986 u.a.) oder Risikobereitschaft (eher Wildavsky 1989; LaPorte 1981 u.a.) sie nur noch verstärkt ohne das selbst, aufgrund der "externen" Beobachterfiktion, noch sehen zu können [7] . Auf dieser Grundlage kann dann auch nicht mehr gesehen werden, dass die Zurechnung schädlicher Wirkungen auf sicher erkannte Ursachen oder auf den unsicheren Risiko/Gefahr-Komplex eine auch anders mögliche (kontingente) Entscheidung darstellt und nicht etwa rationalen versus nicht-rationalen Umgang mit autoritativ geltendem Wissen anzeigt. Und dies schließlich hat Auswirkungen auf die Möglichkeiten des verwendeten Begriffs von Nichtwissen. Dieser ist eigentlich nur noch als immer vorläufig ungelöstes Informationsproblem, als spezifisches Nichtwissen im Kontext von Wissenschaft zu denken. Der Gegenbegriff, unspezifisches Nichtwissen, kann von der Position eines halbierten Konstruktivismus nicht, oder nur in der Form der "beliebigen Konstruktion", erreicht werden.

Demgegenüber wird im folgenden behauptet, dass die wissenschaftliche Spezifikation von Nichtwissen in zunehmendem Maße durch Zurechnung auf Risiko [8] , auf offene Zukunft, entwertet wird und dass dies zugleich den Gegenbegriff zu spezifischem Nichtwissen aufblendet: Spezifisches Nichtwissen verweist als wissenschaftliches Problem auf die Gegenseite sicheren Wissens der Wissenschaft und als Risiko auf die Gegenseite unspezifischen Nichtwissens, auf das, was in der Gesellschaft als (mögliche) Katastrophe kommuniziert wird. Längst ist auch spezifisches Nichtwissen aus der Nische wissenschaftlicher Problemlösungen heraus- und in den Universalkontext riskanter Zeitbindungen eingetreten.

III. Theorien

Empirisch gestützte Studien (Fowlkes/Miller 1987; Stallings 1995) zu technologisch-ökologischen Störfällen legen es nahe, zwischen gesichertem (wissenschaftlichem) Wissen [9] , spezifischem Nichtwissen [10] und unspezifischem Nichtwissen [11] zu unterscheiden. Es fragt sich, welche Theorien welche Beobachtungsmöglichkeiten dieser Formen thematisieren. Zwei solcher Zugriffe auf das Problem der Beobachtung von Nichtwissen sollen im folgenden diskutiert werden.

- Merton (1987) stellt die Differenz von gesichertem wissenschaftlichem Wissen und spezifischem Nichtwissen ("specified ignorance") zentral. Es geht ihm dabei um die Entwicklung der Wissenschaft und insofern um die Trennung von "nützlichem Nichtwissen" von einer "manifestly dysfunctional kind". Spezifiziertes Nichtwissen dient der Transformation von Nichtwissen in Wissen. Wissenschaftliche Erkenntnisprozesse "... repeatedly adopt the cognitively consequential practice of specifying this or that piece of ignorance derived from having acquired the added degree of knowledge that made it possible to identify definite portions of the still unknown. In workaday science, it is not enough to confess one's ignorance; the point is to specify it. That, of course, amounts to instituting, or finding, a new, worthy, and soluble scientific problem" (Merton 1987: 8). Die Produktion von Erkenntnis wird verstanden als simultane Produktion von spezifizierbarem und von spezifiziertem Nichtwissen. Kriterien für diese Spezifikationen liegen in den jeweiligen paradigmatischen Programmen. Merton demonstriert dieses Konzept an der Entwicklung der Theorie abweichenden Verhaltens: Jede wissenschaftliche Problemlösung (z.B. Antworten auf die Frage nach dem Ursprung abweichenden Verhaltens) generiert anschlussfähige Probleme, spezifizierbares Nichtwissen (z.B. im Hinblick auf die Weitergabe von abweichendem Verhalten).

Die Spezifikation des Nichtwissens dirigiert die Problemsuche als Voraussetzung für wissenschaftliche Problemlösungen. Nichtwissen ist hier temporärer Natur und als solches Antriebsmoment der Normalproduktion von wissenschaftlicher Erkenntnis [12] .

- Luhmann diskutiert die Konstitution von Nichtwissen im Kontext der rekursiven Vernetzung von selbstreferentiellen Beobachtungen und jeweils mitproduzierten unmarked spaces (1990: 68ff.). Die Beobachtung kann sich selbst nicht beobachten. Das allein führt aber nicht weit genug, insofern lediglich ein Verweis auf konstitutionell mitproduziertes Nichtwissen (unmarked spaces) erkennbar wird. Im vorliegenden Zusammenhang ist aber der Unterschied zwischen spezifiziertem und unspezifiziertem Nichtwissen von Interesse. Diese Unterscheidung erlaubt es wiederum, zwischen möglichem Erkenntnisgewinn und Risiko zu unterscheiden. Im einen Fall kommt es zu Kontingenzeinschränkung, im andern zu ihrer wie immer relativen Entgrenzung.

Aber auch spezifiziertes Nichtwissen (in wissenschaftlicher Form) impliziert Risikobelastungen (s. bereits Weinberg 1972), in der Mehrheit aller Fälle dürfte das so sein. Man kann das am Dissens der Experten im Hinblick auf mögliche "Wahrheitsrisiken" dokumentieren. In diesem Zusammenhang kann allerdings unterstellt werden, dass spezifiziertes Nichtwissen (Kontingenzlimitation) allenfalls zu Risikoabwägungen führt, während unspezifiziertes Nichtwissen (Kontingenzentgrenzung) zu katastrophischen Risikokonstruktionen führt, die kategorische Vermeidungsimperative nach sich ziehen. Im BSE-Fall kann dies beobachtet werden: Die Betroffenen (kontinentale Öffentlichkeit) rechnen auf nichtspezifiziertes Nichtwissen zu und koppeln dieses mit Katastrophenrisiken - entsprechend die Risikoaversion. Die Entscheider (britische Politik) rechnen auf spezifiziertes Nichtwissen zu und verbinden dieses mit pragmatischer Risikoabwägung - entsprechend die Risikobereitschaft. Die einen investieren mehr, die andern weniger Vertrauen in die Kapazitäten wissenschaftlicher Unsicherheitsabsorption: "Derselbe Sachverhalt" und verschiedene Beobachter. Daraus folgt ein weiteres Mal, dass auch die Differenz zwischen Erkenntnis- und Risikoperspektive keine objektiven Sachverhalte repräsentiert, sondern operatives Resultat divergierender Beobachter ist. Das sieht man besonders gut an dem Umstand, dass spezifisches Nichtwissen für den einen Beobachter (Merton) Anlass zur Bemühung um sichere Erkenntnis ist, für den andern (Luhmann) aber Anlass zur (natürlich auch sicheren!) Reflexion über Risiken. Jedenfalls kann man wohl kaum sagen, dass die Erkenntnisorientierung "wahr" sei, die Risikoorientierung dagegen "falsch".

Der hier interessierenden Form des Wissens: des ökologischen Wissens, steht also notwendigerweise ein ökologisches Nichtwissen als unmarked space (genau: der Unterscheidung von Wissen und spezifischem Nichtwissen), als nicht in der Form zu lösender Probleme spezifiziertes Nichtwissen gegenüber (Luhmann 1992a/1995). Zur weiteren Plausibilisierung dieser Argumentation kann man Unterschiede zwischen sozialen und ökologischen Kausalitäten heranziehen, die im einen Fall allenfalls schwer (Arbeitslosigkeit), im andern Fall aber gar nicht beherrschbar erscheinen (Treibhauseffekt) [13] . Ein Wiedereintritt (re-entry) der Unterscheidung von Gesellschaft und Umwelt auf der Seite der Umwelt würde keine zusätzliche Information erbringen, würde gar keine Kommunikation auslösen. Der re-entry macht nur sichtbar, dass die Umwelt der Gesellschaft von sich aus keine anschlußfähige Kommunikation ermöglicht [14] . Auf der Seite der Gesellschaft indiziert der re-entry ökologisches Wissen als "ökologische Beschreibung der Gesellschaft" im Doppelsinn der Bedeutung (Japp/Krohn 1996), also die Implikation, dass die Umwelt nur als systeminternes Konstrukt Anschlüsse generiert, "als solche" sich aber der (soziologischen) Beobachtung entzieht.

IV. Re-entries 

Im Normalfall der wissenschaftlichen Informationsgewinnung wie auch der alltäglichen Verwendung von Wissen wird unterstellt, dass es sich um Wissen über die Welt handelt und dass auch die Produktion dieses Wissens zu dieser einen Welt gehört. Re-entries (Luhmann 1993) zeigen demgegenüber, dass Wissen nichts weiter als das Ergebnis gesellschaftsinterner Operationen ist. So kann die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen zwar in Kommunikation und d.h. in andere Unterscheidungen und insbesondere in sich selbst eingeführt werden, aber nicht in irgendetwas anderes - geschweige denn in "die Welt". Die Fremdreferenz des Wissens ist ein Resultat systeminterner Operationen - die Form des re-entry macht das sichtbar durch die Anwendung einer Unterscheidung (Beobachtung) auf sich selbst. Über die selbstreferentielle Fundierung allen Wissens über die Welt hinaus, zeigen re-entries, dass Informationen (z.B. darüber, ob es sich im Zweifelsfall um gesichertes Wissen oder um Risiken handelt) selbst wieder auf Operationen beruhen, die weniger auf Informationen als auf die Rekursivität der je (system-) eigenen Operationen rekurrieren.

Der konstruktivistischen Wissenstheorie zufolge muss jede wissensgenerierende Kommunikation einen Komplementärbereich abdunkeln, um sich selbst erzeugen zu können und gerade dies nicht mit beobachten zu können. Gleichwohl kann dieser Komplementärbereich noch instruktiv sein, wenn er - durch re-entry auf der Seite des Wissens - als für den Wissenserwerb spezifiziertes Nichtwissen unterschieden und bezeichenbar, also erzeugt, wird. Entscheidend ist deshalb die Differenz von Wiedereintritt in Risiko (1) und Wiedereintritt in Wissenschaft (2) [15] :

1. Wissen/Nichtwissen 2. Wissen/Nichtwissen
Wissen/Nichtwissen Wissen/Nichtwissen
- hier wird der re-entry dirigiert durch die Unsicherheit generierende Unterscheidung von Vergangenheit und Zukunft [16] : Risiko - hier wird der re-entry dirigiert durch die provisorische Sicherheit generierende Unterscheidung von Problem und Problemlösung: Erkenntnis

Der re-entry auf der Seite des Wissens vereinheitlicht die Unterscheidung gleichsam als Erkenntnisproblem, während der re-entry auf der Seite des Nichtwissens immer erneut den Joker einer offenen Zukunft einspielt: Also Nichtwissen als unmarked space, trotz aller Bemühung um Kalkulation, reproduziert und dies nicht etwa wegen noch rückständigen Wissens, sondern trotz allen Wissens, eben in Abhängigkeit von einer anderen Unterscheidung, von anderen Beobachtern [17] - aber keineswegs beliebig, wie der "halbe Konstruktivismus" meint. Die ökologische Kommunikation der Gesellschaft operiert mit re-entries, um die Einheit der Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen zu entparadoxieren. Es ergeben sich Erkenntnisperspektiven und Risikoperspektiven, wobei zu beachten ist, dass die letzteren nicht etwa "auch noch hinzukommen", sondern die ersteren gleichsam konstitutiv "ergänzen": Wenn Problem und Problemlösung so weit auseinandergezogen werden, dass die Problemlösung nur noch in der offenen Zukunft imaginiert werden kann, also zum Entscheidungsproblem wird, haben wir es mit einem anderen, irreduziblen Unterscheidungskontext, mit einem anderen Beobachter zu tun. Und dieses Auswechseln der relevanten Unterscheidungen zeigt nichts Geringeres an, als den Übergang der gesellschaftlich-kommunikativ vollzogenen Relevanzzurechnung von Wissenschaft auf Risiko, von methodisch lösbaren auf nur noch entscheidbare Probleme.

Egal ob der re-entry auf der Seite des Wissens oder auf der des Nichtwissens erfolgt: Er dokumentiert die irreduzible Operationsabhängigkeit auch des "sicheren Wissens". Insofern ist auch für sicher gehaltenes Wissen von Kontingenz infiziert und die Risikoformel erweist sich als Spaltprodukt: Spezifisches Nichtwissen kommt in der Welt nicht vor, aber als Resultat der Erkenntnisoperationen eines sozialen Systems wird es real und verzweigt in Wissen oder Risiko - und auch dies kann man vor der Operation nicht wissen. Re-entries verweisen in unserem Falle auf die Unauflöslichkeit von Nichtwissen (Zeitdimension), auf die Unerreichbarkeit von Rationalität (Sachdimension) und die Unauflöslichkeit von Dissens (Sozialdimension) in Risikofragen. Sie verweisen auf strukturelle Intransparenz, der operationsabhängige Eigenwerte (Wissen/Risiken) abgerungen werden.

V. Erleben und Handeln

Risiko bezeichnet die latente Einheit von spezifischem und unspezifischem Nichtwissen. Die konstitutive Einbettung allein, insbesondere ökologischen Wissens in operativ miterzeugtes Nichtwissen, begünstigt Wissen als Provisorium und eine politische Kultur nichtüberzeugter Verständigungen (Luhmann 1991). Diese Logik des Provisorischen, die durch die unhintergehbare Koproduktion von unmarked spaces generiert wird, manifestiert sich als Problemlösungseffekt in der Zeitdimension gesellschaftlichen Nichtwissens [18] . Vor allem wäre hier an die Sequenzialität provisorischer Verständigungen in der Politik zu denken, aber natürlich auch an andere Formen der Temporalisierung von Komplexität, die offensichtlich eher mit spezifischem Nichtwissen als mit Wissen zusammenhängen [19] . Bei diesen Kommunikationsanschlüssen handelt es sich im Kern um riskantes Entscheiden, das spezifisches Nichtwissen nicht als Anlass zur Bemühung um (positive) Erkenntnis nimmt, sondern als Anlass zur Besorgnis um zukünftige Folgen: Wenn man so will, geht es um die "Schnittstelle" zwischen Wissenschaft und Risiko und wie bereits betont, ist diese kein allgemein zugänglicher Sachverhalt, sondern Effekt verschiedener (im Unterschied zum "halben Konstruktivismus" nicht hierarchisierbarer) Beobachtungsoperationen. Dies dokumentiert sich darin, dass im Risikofall die Unsicherheiten spezifischen Nichtwissens durch Entscheiden, im Erkenntnisfall durch Anwendung von Methoden und durch Bildung von Hypothesen verarbeitet werden und die Gesellschaft gleichsam abwartet, ob Tempo (Risiko) oder methodisches Problemlösen "günstiger" ist.

Alles in allem begnügt sich die Gesellschaft keineswegs mit einer Kategorie von Nichtwissen, das über paradigmatische Spezifikationen in die Wissenschaft hinein aufgelöst werden könnte (Beck 1988; Wildavsky 1989). Vielmehr temporalisiert sie über die entscheidungskonstitutive Differenz von Vergangenheit und Zukunft Nichtwissen, das für Risikooperationen maßgeblich ist. Es ist maßgeblich in dem zweifachen Sinne, als es in der Form von Unsicherheit neutralisierender Ignoranz (March/Olsen 1995: 229) Präferenzen für exploratives Handeln - also Risikobereitschaft - stabilisiert (Brunsson 1985) und in der Form von Unsicherheit akzentuierender Intransparenz zugleich Präferenzen für die Kontrolle der eigenen Handlungsfolgen mitstabilisiert (ibid: 199). Insgesamt führt der re-entry von Wissen und Nichtwissen aus der Dimension erkennender Operationen heraus und in die klassische Differenz von Erleben und Handeln hinein. Zugleich führt er vor die Frage, ob die moderne Gesellschaft sich eher auf Erkennen ("Wissensgesellschaft") oder auf Handeln ("Risikogesellschaft") stützen kann. Offenbar ist - wegen der Struktureffekte von Nichtwissen und nicht aufgrund höherer Einsicht - nur ein Oszillieren (mit systemspezifischen re-entries) vorstellbar und wenn es gut geht, dann bekanntermaßen ohne Rationalität, ohne Konsens und ohne Erfolgsgarantie.

Anmerkungen

[1] So auch die Forderung von Smithson (1985).

[2] *1Womöglich als "Grund".

[3] Manche sprechen von einer "Ressource".

[4] Die konstruktivistische Gegenposition ist von Luhmann (1986) als "Ökologische Kommunikation" eingeführt worden.

[5] Dies gilt auch für die "social constructionists", die eine "Umweltsoziologie" herausarbeiten und sich dabei wesentlich auf "claims making activities" als Einheiten der Konstruktion beziehen (Hannigan 1995; Stallings 1995).

[6] Diese könnte etwa lauten: "Vielmehr ist jede Nachricht mittlerweile eine, die von einer anderen Stelle aus als eine über ein mögliches Risiko thematisiert werden kann (...). Die Vorstellung von der Kompossibilität der Funktionssysteme der Gesellschaft wird unter hohen Druck gesetzt. Die darauf reagierende Semantik ist die einer Sich-selbst-gefährdenden-Gesellschaft." (Fuchs 1992: 135; Herv.i.O.)

[7] Dazu müsste diese Konzeption über den "autologischen Schluss" verfügen können.

[8] Spezifikation erfolgt dann als Entscheidungsproblem.

[9] Häufig mit Normalisierungsrhetorik der Entscheider- oder "Verursacherperspektive" verbunden. Jedenfalls Wissen, an dessen Geltung eine Mehrheit von Beobachtern keine Zweifel hegt. Als Indikator dient etwa "funktionierende Kausalität", die täglich vorausgesetzt werden muss.

[10] Häufig mit Expertendissens verbunden.

[11] Häufig mit (aggressiven) Betroffenenansprüchen verbunden.

[12] Weinberg (1972) diskutiert eine für moderne "Risikogesellschaften" besonders wichtige Form spezifischen Nichtwissens, die aber nicht über die hier zentralen Unterscheidungen von wissenschaftlich gesichertem Wissen und spezifischem Nichtwissen einerseits und der von spezifischem Nichtwissen und unspezifischem Nichtwissen andererseits hinausführt: In Fällen niedrigwahrscheinlicher Schäden, aber extrem hoher Beweiskosten (atomare Niedrigstrahlung, Eintreten einer Kernschmelze) spricht Weinberg von "metascientific questions", die die Gesellschaft als "praktisch vernachlässigbare Restrisiken" toleriert. Es mag aber Beobachter geben, die das ganz anders sehen. Wie noch zu zeigen ist, hängt das von spezifischen "Katastrophenschwellen" ab.

[13] Ökologische Katastrophen "sprengen die an Dingen und an Kausalitäten orientierten Realitätsvorstellungen des Einzelmenschen und der kommunikativen (sprachlichen) Praxis der Gesellschaft. Sie können nicht mehr in handhabbares, nicht mehr in anschlussfähiges Wissen überführt werden, auch wenn es Berechnungen, Halbwertzeiten etc. gibt" (Luhmann 1992a: 167).

[14] Dies ist gleichsam die Dimension, in der sich keine Unterscheidungen unterbringen lassen: der unmarked space. Wie kann man sich dann vorstellen, dass dieser re-entry dennoch bewirkt wird? Zum Beispiel, wenn Soziologen die Umwelt der Gesellschaft thematisieren und die dabei entstehende Differenz auf ökologisches Wissen projizieren - so als ob es um ein Wissenskontinuum ginge. Das Ergebnis wird manchmal "dialektisch", manchmal "interdisziplinär" genannt (s. etwa Gramling/Freudenburg 1996). Wir gehen davon aus, dass es keinen operativen Kontakt zwischen Gesellschaft und ihrer Umwelt gibt, also auch kein Wissenskontinuum. All dies ist nur gesellschaftsintern möglich und deshalb unvermeidlich konstruktiv. Der Status von re-entries wird in diesem Zusammenhang deutlich: Re-entries entparadoxieren die Einheit (Gesellschaft) einer Differenz (Gesellschaft/Umwelt) durch den Wiedereintritt der Differenz in eine ihrer Seiten als Einheit: Diese entfaltet ihre Differenziertheit im eigenen Operationskontext.

[15] Es ist klar, dass diese re-entries kommunikativ vollzogen werden müssen. Wissen und erst recht Nichtwissen kann sich nicht mitteilen.

[16] Die Differenz zwischen beherrschbarer und unbeherrschbarer Komplexität ist demgegenüber zwar wichtig, aber sekundär, denn sie hängt von der Unterscheidung zwischen Vergangenheit und Zukunft ab: Nur Komplexitäten, die nicht stillhalten, sind unbeherrschbar. Aber auch dies bleibt eine Sache des Unterscheidens, nicht der zweifelsfreien Feststellung. Deshalb zeigen wissenschaftliche Fakten vor allem, dass "science has simply removed the issue from the realm of risk; it has not solved the problem of how to proceed in the absence of agreed facts" (Adams 1995: 203).

[17] "Zur Ausdifferenzierung eines besonderen Funktionssystems Wissenschaft kann es nur kommen, wenn das relevante Nichtwissen spezifiziert wird. Nur so wird Nichtwissen zum Anlass der Bemühung um Wissen. Also muss, um Wissensbemühung in Gang zu bringen, unspezifiziertes Nichtwissen von spezifiziertem Nichtwissen unterschieden werden" (Luhmann 1995: 177). Erst diese Bifurkation macht einen gleichsam forschungsbetriebsmäßigen und einen risikobezogenen Zugriff auf Nichtwissen unterscheidbar. "Uncertainty as defined by Knight is inescapable. It is the realm not of calculation but of judgement. There are problems where the odds are known, or knowable with a bit more research, but these are trivial in comparison with the problems posed by uncertainty. Blake's picture of Newton concentrating on making precise measurements with a pair of callipers while surrounded by the mysterious 'sea of time and space' is an apt metaphor for the contribution that science is capable of making to the resolution of controversies rooted in uncertainty. Newton's approach can only deal with risk as narrowly defined by Knight and the Royal Society - as quantifiable probability" (Adams 1995: 26; Herv.i.O.).

[18] Von daher wäre noch einmal zu fragen, ob Nichtwissen das Zentralmedium moderner (ökologischer) Kommunikation ist und nicht etwa Wissen: "Ist eigentlich die allgemein geteilte Annahme noch berechtigt, dass mehr Kommunikation, mehr Reflexion, mehr Wissen, mehr Lernen, mehr Beteiligung - dass mehr von alledem etwas Gutes oder jedenfalls nichts Schlechtes bewirken würde?" (Luhmann 1991: 90)

[19] "Dem entspricht der moderne Typus des Experten, das heißt des Fachmanns, dem man Fragen stellen kann, die er nicht beantworten kann, und den man ebenfalls auf den Modus der Unsicherheit zurückführen kann. Und dem entspricht ebenfalls die moderne Figur der Katastrophe, das heißt des Falles, den man auf keinen Fall will, und für den man weder Wahrscheinlichkeitsrechnungen noch Risikokalkulationen noch Expertengutachten akzeptiert" (Luhmann 1992b: 141).

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