Bewertung - ein vernachlässigter Aspekt nachhaltiger Mobilität

Schwerpunktthema: Nachhaltige Mobilität

Bewertung - ein vernachlässigter Aspekt nachhaltiger Mobilität

[1]

von Marcus Steierwald und Marita Nehring, Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg

Im Gefolge der Nachhaltigkeitsdebatte steht die Frage nach dem Status, also nach Stand und Entwicklung einer Nachhaltigkeit, die einem Sektor oder einem Gemeinwesen zugemessen werden kann. Dabei wird die Debatte unserer Beobachtung nach stark auf Ökonomien konzentriert, d. h. auf das nachhaltige Wirtschaften einer Region, die in der Verantwortung einer politischen Instanz stehen. Die Akademie für Technikfolgenabschätzung hat diesem Thema mehrere Projekte gewidmet, v. a. der Untersuchung von Indikatoren der Nachhaltigkeit.
Im Bereich Verkehr und Mobilität fehlt leider eine eigene Nachhaltigkeitsforschung. Das mag daran liegen, dass Verkehr in Administration und Politik und auch in Teilen der Forschung immer noch fehlinterpretiert wird. "Verkehr" - so der Hauptsatz unserer Arbeit - "ist aber nicht Technik oder Ökonomie, sondern Mobilitätsverhalten, das sich der Technik zur Umsetzung bedient und ökonomisch resp. ökologisch messbare Spuren hinterlässt und partiell ökonomisch begründbar ist."

Nachhaltigkeit und diskursiver Prozess

Verkehrswissenschaftler sind es gewohnt, dass die Veröffentlichungen anderer Disziplinen über ihr Sujet häufig den Charakter von Mutmaßungen und "Grenzwissenschaften" oder Volkserziehung und Moralischer Anstalt haben. Die Diskussion um die Nachhaltigkeit verstärkt diesen Trend jedoch. Dabei wird deutlich, dass dem Grundgedanken der Nachhaltigkeit auf zweierlei Weise nicht genüge getan wird:

Die in der Recherche zu unserem Projekt gesichteten Arbeiten haben sehr deutlich gezeigt, dass der Komplex Ökologie x Ökonomie meist als Platzhalter der Nachhaltigkeit herhalten muss (B). Als Erklärung für diesen unbefriedigenden Zustand kann zum einen die längere Entwicklungs- und Erfahrungsgeschichte von ökonomischer Kriterienbildung dienen, zum anderen die Hoffnung von Ökologen, durch die Hintertür Nachhaltigkeit werde die Ökologie Einzug halten. Abseits dieser Spekulation ist festzuhalten, dass die Kriterien bzw. Indikatoren der Nachhaltigkeit im Sektor Verkehr und Mobilität ungenügend erforscht sind. Immerhin danken wir einem schweizerischen Institut die präziseste Aussage zu sozialen Kriterien: "...müssen noch bestimmt werden".

Aspekt (A) ist von großer Bedeutung für die Frage nach Umfang und Reichweite der Nachhaltigkeit. U. E. ist nicht vorstellbar, dass in unserem Sektor das künstliche Kapital keine tragende Rolle spielen sollte. Know How, physische Netze, Telematik und Mobilitätsteilhabe - kurz: Zugang und Fähigkeit - sind nicht nur elementare Bauteile und Regler des Systems, sondern zugleich auch Platzhalter für Vermögen und Rechte.

Wesentliche Voraussetzung zur Wahrung von Rechten ist die Partizipation an Entscheidungen, die die Rechtswahrnehmung regeln. Und wesentlicher Teil der Nachhaltigkeit in ihrem sozialen Aspekt ist die Möglichkeit zur Partizipation.

Diese Möglichkeit ist eigenständige Forderung eines auf Entscheidungsteilhabe gründenden Demokratieverständnisses und wird durch die Vermutung unterstützt, mit der personalen Einflussmöglichkeit werde Nachhaltigkeit in die Entscheidungsfindung diffundieren, da sich größere Gruppen von Individuen bei Entscheidungen mit großer zeitlicher Reichweite eher nachhaltig orientierten.

Bewertung und Diskurs sind Teil der Partizipation [3] . Bewertung und Diskurs sind in der Gestalt von Bewertungsverfahren und Bürgerbeteiligung auch Teil der Verkehrsplanung. Bewertung und Partizipation sind hier jedoch getrennt zwischen Administration und Bürgerschaft. Somit besteht das zentrale Problem bei der Übertragung von Elementen der Nachhaltigkeit auf Verkehrsplanungsprozesse in der Aufhebung dieser Trennung.

Voraussetzung der Integration von Bewertung und Partizipation ist nicht nur die normative Verankerung des Prozesses, sondern vor allem die Befähigung der Partizipierenden zum Umgang mit Kriterien und Verfahren. Diese Überlegung führt zwangsläufig zur Betrachtung der in der Verkehrsplanung gängigen Verfahren und zur kritischen Auseinandersetzung mit den dort vorausgesetzten Abstraktionsfähigkeiten und modellhaften Abstraktionen.

Grundlagen des Bewertungsansatzes - Verfahren und Ansätze

Bewertungen ökonomischer Provenienz fußen auf Kosten-Nutzen-Analysen, deren schlichte Aussage lautet: "Eine Planung ist realisierungswürdig, wenn gegenüber dem Nichtstun die Summe ihrer Vorteile größer ist als die Summe ihrer Nachteile." Es liegt auf der Hand, dass die Nutzen- und Kostenmessung den interessantesten Teil der Forschung darstellen und unmittelbare Auswirkungen auf die Partizipationsfähigkeit haben.

Den Kosten-Nutzen-Untersuchungen ist eines gemein: Sie alle verwenden ein Werturteilsfundament, das von den folgenden drei Grundannahmen ausgeht:

Unter Konsumentensouveränität wird die Fähigkeit eines Individuums verstanden, Qualitätsänderungen in Geldeinheiten auszudrücken, womit unterstellt wird, dass so die optimalen Nachfragemengen zustande kommen. Die Zahlungsbereitschaft (Substituierbarkeit von Gütern und Nutzen durch Geld) gibt an, wie viel ein Individuum für die Bereitstellung von (öffentlichen) Gütern zu zahlen bereit ist aus seinem gegebenen Einkommen. Und der Verteilungsaspekt (vgl. Endres, Holm-Müller 1998, S. 18ff) berücksichtigt, dass Kosten und Nutzen auf Betroffene unterschiedlich verteilt sind, es also "Gewinner" und "Verlierer" geben kann. Volkswirtschaftliche Gesamtrechungsansätze gehen dabei davon aus, dass die Verlierer aus dem Nutzengewinn der Gewinner zu entschädigen sind.

Diese Grundannahmen sind vielfältig kritisiert worden. Der Mensch als souveränes Individuum nimmt eine zentrale Stellung ein. Das ökonomische Weltbild ist ein anthropozentriertes (vgl. Renn, Klinke 2000, S. 3-11), in dem nur den Dingen (Elementen) ein Wert zu gemessen wird, die für den Menschen (die Menschheit) momentan einen Wert darstellen. Dabei bleiben die Bereiche außer Acht, deren Wert zur Zeit nicht wichtig ist bzw. nicht von allen Subjekten anerkannt wird, und deren Abstraktionsanspruch so hoch ist, dass eine konkrete Wertzumessung nicht erfolgen kann, bzw. über deren Bedeutung für den Menschen heute keine genauen Informationen vorliegen. So sind die Wirkungsbeziehungen in Ökosystemen so komplex, das häufig nicht erkennbar ist, welche Rolle ein einzelnes System spielt, so dass letztendlich eine Wertzumessung unterbleibt oder unvollständig sein muss. Endres und Holm-Müller listen einige der gängigen Kritikpunkte auf (vgl. Endres, Holm-Müller 1998, S. 18ff).

Bei der Nutzenmessung finden direkte und indirekte Verfahren Verwendung. Die indirekten Verfahren orientieren sich an erkennbaren Marktpreisen (Immobilienpreise o. ä.) und den Einflüssen, die die Preise zustande kommen lassen. Mit direkten Verfahren wird versucht, Preise, die Wertschätzungen abbilden, durch Befragungen direkt bei den Betroffenen zu evaluieren.

Tab. 1: Verfahren zur Nutzenmessung

Indirekte Verfahren Direkte Verfahren
Analyse von Daten aus der Unternehmensrechnung Befragungen
Analyse von individuellen Vermeidungsaufwendungen Kontingente Bewertungsmethode
Transportkostenansatz Marktsimulation
Hedonischer Preisansatz  

Die Analyse von Daten aus der Unternehmensrechnung ist für Verkehrsplanungsaufgaben insofern geeignet, als dass die Transportaufwendungen (Zeit und Geld) zur Zeit wieder an Bedeutung gewinnen. Diese Methode bemüht sich darum, die höheren Kosten eines Unternehmens, die durch eine Verschlechterung der Marktchancen in Folge einer Verschlechterung der Verkehrsabläufe entstehen, als den Wert zu interpretieren, der für die Verbesserung der Abläufe zu investieren wäre.

Bei der Analyse von individuellen Vermeidungsaufwendungen werden die Aufwendungen überprüft, die Betroffene zur Vermeidung oder Behebung von Schäden gezahlt haben, wie beispielsweise die Kosten für Lärmschutz durch neue Fenster.

Über den Transportkostenansatz werden die Aufwendungen, die notwendig sind, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, als Eintrittspreise interpretiert. So werden Nachfragefunktionen gebildet, auf deren Basis dann auch abgeschätzt wird, ob es möglich ist, über die reinen Zufahrtskosten hinaus für die Nutzung eines Sees noch einen Eintrittspreis zu erheben, der dann für die Abwendung von Schäden oder Verbesserung von Qualitäten zu verwenden ist.

Die Analyse von Marktpreisdivergenzen oder der hedonische Preisansatz prüft, inwieweit Marktpreise für Güter von anderen Faktoren als den ihnen immanenten mitbestimmt werden. Bei den Preisen für Immobilien und Mieten spielen häufig nicht nur die Lage, das Alter und die Ausstattung von Gebäuden oder Wohnungen ein Rolle, sondern auch Lärmbelästigung, z. B. durch Verkehr. Es wird versucht, den Marktpreis in seine separaten Bestandteile zu zerlegen, so dass dann neben anderen Preisdifferenzen auch eine Ruhedifferenz ermittelt werden kann, die wesentlich vom Verkehrslärm abhängig ist.

Die direkten Verfahren bedienen sich der Befragungsmethoden zur Preisermittlung. Das am häufigsten angewendete Verfahren ist der kontingente Bewertungsansatz. Dabei werden unter sehr genau vorgegebenen Bedingungen Befragungen durchgeführt, z. B. danach, wie viel jemand für eine Abwendung eines Schadens zu zahlen bereit sei. Ein zweites direktes Verfahren ist das der Marktsimulation. Bei Gütern, für die es keine Preise aus Angebot und Nachfrage gibt, wird experimentell ermittelt, wie hoch die Wertschätzung bei ausgewählten Personen ist.

Fundamentalkritik

Die Probleme, die die Anwendung der genannten Verfahren aufwirft, sind vielfältig. Bei den direkten Verfahren sind es vor allem Abstraktionsprobleme. Bei den indirekten Verfahren besteht das Problem, dass der Mensch vor allem im Zusammenhang mit emotional bestimmten Aktivitäten wie Verkehr kein homo oeconomicus ist und es daher schwer fällt, Entscheidungen für oder gegen eine Fahrt, z. B. zu einer Freizeiteinrichtung oder der Umzug in eine andere Wohnung, auf die finanziellen Faktoren zurückzuführen.

Im Zusammenhang mit verkehrlichem (und planerischem) Handeln konzentriert sich die Fundamentalkritik an den ökonomisch basierten Verfahren auf folgende Probleme: 

Neben diesen rein modelltheoretischen Kritikpunkten der Bewertungsmethoden werden den Bewertungsverfahren weitere Schwächen unterstellt. Im Zentrum dieser Kritik steht die Nicht-Integrativität der Verfahren und die mangelhafte Zieldiskussion:

Auch Endres und Holm-Müller kommen zu einer eindeutigen Aussage über Bewertungsverfahren: 

Es sollte an dieser Stelle betont werden, dass es uns nicht um eine disziplinäre "Schelte" oder um eine Disqualifizierung von Modellen anderer Disziplinen geht, sondern um die Frage nach der Eignung von Methoden und Verfahren und um die Erklärung des Phänomens, dass die bestehenden Bewertungsverfahren im Verkehrswesen von einer breiten Fachöffentlichkeit als unvollständig angesehen werden.

Lösungsmöglichkeiten

Lösungen müssen auf die Bedeutung der Bewertungsverfahren als Instrument der Entscheidung zugeschnitten sein. Es ist an dieser Stelle zu betonen, was ein Bewertungsverfahren als Entscheidungsvorbereitung leisten sollte: 

Vor diesem Hintergrund kann auch die "Entwicklung eines Verfahrens zur Aufstellung umweltorientierter Fernverkehrskonzepte als Beitrag zur Bundesverkehrswegeplanung" (UBA 1999) verstanden werden. Die Autoren schlagen eine Ergänzung des bestehenden Verfahrens vor, indem sie Opportunitätskosten einführen, die die bisher nur unvollständig erfassten Umweltkosten ergänzen. Damit wird aber nur eine der Anforderungsebenen, die die Tabelle 3 weiter unten darstellt (S. 88), abgedeckt. Andere zu berücksichtigende Punkte werden auch in diesem Ansatz nicht integriert. Und auch die Schattenpreisberechnung der Opportunitätskosten unterliegt der vorgenannten Kritik der üblichen Bewertungsmethoden. Damit bleiben die Ergänzungen und Weiterentwicklungen zur Bundesverkehrswegeplanung weiterhin nur Stückwerk. Wir verweisen aber ausdrücklich auf die vielversprechenden Ansätze der Planungsgruppe im Bundesverkehrsministerium (Gehrung 2000).

Integrierter Ansatz

Die Integration des Planungszusammenhangs ist wesentliche Aufgabe der Bewertungsverfahren. "Integration" meint im eigentlichen Sinne jedoch nicht eine modellhafte Verkürzung der Zusammenhänge, sondern eine Zusammenfassung der im Lösungsraum verorteten Entscheidungselemente, von denen eine Gruppe die örtlichen Gegebenheiten sind. Das Problem dieser Integration ist die Systemabgrenzung, d. h. die Entscheidung, welche Elemente von Belang sind und welche nicht. Bildhaft gesprochen ist also Integration der Versuch, die explodierten Stücke des Raumganzen auf eine handhabbare Menge von Kriterien implodieren zu lassen. Der Raum wird also als System verstanden, in dem Interaktionen zwischen verschiedenen Elementen stattfinden. Elemente können dabei soziale Systeme, Wirtschaftssysteme, Ökosysteme oder anderes sein.

Wenn Planung als Ausgleich von Ungleichgewichten verstanden werden soll, so ist noch weiter zu gehen, z. B. unterscheidet Fliedner den Raum in Gleichgewichts- und Nichtgleichgewichtssysteme (vgl. Fliedner 1993, S. 19, 55, 96 und 162). Der Unterschied zwischen Raum als Gleichgewichts- und Nichtgleichgewichtssystem ergibt sich aus der Beziehung zwischen dem Menschen / der Gesellschaft und der Umwelt, also den Systemen bzw. Subsystemen. Im ersten Fall geht es um zwei zwar in Beziehung stehender, aber generell unabhängiger Systeme, die sich gegenseitig beeinflussen, letztendlich aber ihre Strukturen beibehalten - sich also im Gleichgewicht befinden. Im anderen Fall geht es um die "Symbiose" beider Systeme, die nicht unabhängig von einander existieren können und gegenseitiger Einflussnahme unterliegen und so ihre jeweiligen Strukturen verändern. "Die Pluralität von Raumkonzepten ist [...] eine Konsequenz der hochgradig voneinander differenzierenden gesellschaftlichen Teilsysteme" (Klüter 1986). Eventuell lassen sich diese Teilsysteme auf einer gemeinsamen teilräumlichen Ebene stärker miteinander integrieren, so dass die Beteiligten dieselbe Vorstellung vom Raum und den Zielen haben. Darauf kann eine situative Bewertung abzielen, die zur Auflösung dieser engen Zusammenhänge vor allem die örtlichen Gegebenheiten und Ziele ins Zentrum der Betrachtung stellt.

Die Zeit und damit der Prozesscharakter von Vorgängen rückt bei einer derartigen Betrachtung wesentlich in den Vordergrund. Gerade das system- und prozesshafte und damit das "Ungleichgewichtige" der zukünftigen Entwicklung macht Planung in allen Belangen zu einer spannenden, aber eben auch komplexen Aufgabe. Entwicklung findet immer im Zeitverlauf statt. Es stellt sich die Frage, wie Planung damit umzugehen hat: Soll Planung nur reagieren? Soll sie steuern? Auf welche Weise ist Steuerung möglich? Zumkeller stellt für den Prozess der Verkehrsplanung heraus, dass die Planung gern von idealisierten Gleichgewichtszuständen ausgeht, die realen Vorgängen diesem aber nicht entsprechen (vgl. Zumkeller 1999, S. 17f). Für die Planung muss also davon ausgegangen werden, dass die Ausgangslage kein in sich stabiles Gleichgewicht darstellt, dass es schleichend exogene Veränderungen der Rahmenbedingungen gibt und dass es sowohl kurzfristige Veränderungen gibt, ebenso wie langfristige Adaptionsprozesse (vgl. ebenda). Zumkeller fasst das wie folgt zusammen: "Im Ergebnis bedeutet dies, dass Verkehrsplanung kein Nullsummenspiel ist und einer Entwicklungsdynamik unterliegt". Damit wird die Nichtgleichgewichtsthese gestützt.

Wichtig bleiben aber auch dabei immer die Rückkopplungen mit den aktuellen (sich verändernden) Bedingungen und damit das Einarbeiten von Veränderungen, Rückkopplungen und Neubewertungen in die Planungsmethodik, wie sie auch Albers fordert mit einer "Erfassung der Veränderungskräfte" (vgl. Albers 1990, S. 213). Auch innerhalb einzelner Systeme bestehen Austauschbeziehungen. So können verschiedene Verkehrsarten Wechselwirkungen aufweisen und der Ausbau eines Nahverkehrssystems kann Wirkungen unterschiedlicher Art auf das System des MIV aufweisen (Intermodalität).

Ein integrierter Planungsansatz (vgl. Beckmann 2000) muss nun versuchen, diese Komplexität zu erfassen und die für den jeweiligen Planfall wesentlichen Elemente zu identifizieren. Dabei sollten die örtlichen situativen Bedingungen im Vordergrund stehen und die Auswahl oder Festlegung der wesentlichen Elemente muss begründet werden.

Situative Bewertung

Die Kritik an den bestehenden Verfahren richtet sich vor allem auf zwei Aspekte: Die Statik der Kriteriensätze und die Nicht-Prüfung der Stimmigkeit der Maßnahme zu den örtlich geltenden und angestrebten Zielen. Diese Kritik ist auch Folge der missbräuchlichen Verwendung der Bewertungsverfahren als Entscheidungsinstrument.

In der Vielzahl der möglichen Kriterien, deren wichtigste Einordnung die nachfolgende Tabelle 2 angibt, sind insbesondere die Arten III und IV nur schwer in statische Verfahren einbeziehbar und werden daher auch - wie beschrieben - nicht einbezogen.

Tab. 2: Typisierung der Bewertungskriterien 

Kriterienart Einheit Beispiel
I quantitativ & monetarisierbar Währungseinheit Stückkosten
II quantitativ & nicht/schwer -monetarisierbar Anzahl Unfalltote, Verletzte
III qualitativ monetarisierbar Gewinn- / Verlustrechnung Attraktivierung, Modernisierung
IV qualitativ & nicht/schwer-monetarisierbar Punkte, Tendenzen Landschaftsbeeinträchtigung

Darstellung und Diskussion der örtlich angestrebten Ziele und deren Konkretisierung in örtlich bezogenen Kriterien finden auch in der Praxis der Genehmigungsverfahren in dem Sinne nur "statisch" statt, als z. B. die Bürgerbeteiligung ein Verwaltungsakt mit klar umrissener Vorgehensweise ist. Diese "Administrierung" von Planungsschritten, die eigentlich der Prüfung des verfahrenstechnischen Ablaufs dienen sollen, rührt auch daher, dass die öffentliche Diskussion von Planungsvorhaben erst zu einem Zeitpunkt geschieht, an dem die Aufgabe bereits sehr weit detailliert und "baureif" ist. Von Planern wie Bürgern werden dieseBeteiligungsverfahren daher auch landläufig als Pflichtübung disqualifiziert und als Informationsverfahren verstanden.

Die hier vorgeschlagene Situative Bewertung zeigt drei Elemente, die die beschriebenen Defizite und Schwächen mindern sollen: 

  1. Die Diskussion und Niederlegung der örtlichen Ziele, also im Sinne der Transparenz eine wiederholte Diskussion und Bekräftigung jener Beschlüsse, die das mit der Maßnahme zu behebende Defizit benennen und die Auswahl der Maßnahme vor Ort vornehmen. 
  2. Die Festlegung der örtlich relevanten Kriterien, d. h. die Fundierung der Entscheidung mit Hilfe von örtlich wichtigen Kriterien. 
  3. Die Prüfung der Stimmigkeit der Schritte 1. und 2. als Voraussetzung für den Eingang des Projekts in die weitere Auswahl zur Sicherung der Effizienz.

Nach der Erfahrungen der Akademie für Technikfolgenabschätzung können die Schritte 1. und 2., um einerseits offen, andererseits nachvollziehbar zu sein, nur in einem diskursiven, moderierten Prozess stattfinden, wie es etwa Planungszelle oder Runder Tisch sind. Die einfachste Form wäre die Einladung der Entscheidungsbeteiligten - ob nun delegiert oder spontan - zu einem moderierten Kurzbewertungsverfahren, das die folgenden Schritte zeigt (Abb. 1):

Abb. 1: Ablauf eines Kurzbewertungsverfahrens zur Fundierung der Planungen

Abb. 1: Ablauf eines Kurzbewertungsverfahrens zur Fundierung der Planungen 

Soll das Verfahren Relevanz haben, muss der Zugang zum Entscheidergremium ebenfalls so weit geregelt sein, dass Transparenz entsteht. Der Zugang muss andererseits soweit offen sein, dass alle örtlich relevanten Gruppen teilnehmen könnten. Die Frage "was sind relevante Gruppen?" ist bei der Diskussion um die Popularklage untersucht worden; den dort vorgesehenen Teilnehmerkreis wird man für weitere Gruppen öffnen müssen. Es sei denn, es könnte eine direkte Delegation oder Wahl der Vertreter durch die Bürgerschaft erfolgen - ein Procedere, das angesichts der geringen Häufigkeit und der Bedeutung solcher Verfahren durchaus angebracht sein kann.

Es versteht sich von selbst, dass Beteiligtenauswahl und Moderation Ansatzpunkte für Fälschungen sind, d. h. von scheinbar offenen Verfahren, die in Wirklichkeit abgesprochene Präjudizierungen sind. Das Verfahren vertraut an dieser Stelle auf die Möglichkeit, schwer zu monetarisierende und schwer zu quantifizierende Kriterien durch einen moderierten Prozess quasi in das Votum "diffundieren" zu lassen. Fundierung und Transparenz sind hier also Ergebnis einer bewussten Destabilisierung und Öffnung der bisherigen Planungs- und Entscheidungswege.

Das Votum zur Maßnahme ist als erstes Ergebnis des Verfahrens die Bekräftigung der Maßnahmenfestlegung. Das Verfahren verlangt den Beteiligten also im Wesentlichen ein nochmaliges Nachdenken über Sinn und Inhalt der Maßnahme ab. Dies ist angesichts der Planungsvor- und Nachlaufzeiten, die in der Bundesrepublik beobachtet werden können, gewiss keine überflüssige Übung. Es wird interessant sein, die Brüche in den Argumentationen zu beobachten, die sich durch die zeitliche Differenz zwischen den ersten Beschlüssen zur Problemanalyse und dem Beschluss zum Maßnahmenvotum eröffnen. Es versteht sich von selbst, dass die Situative Bewertung nur dann den Zweck des "Nach-Denkens" erfüllen kann, wenn sie zeitlich ganz nahe an die Prüfung durch die höhere Ebene gerückt ist.

Das Votum zu den örtlich relevanten Kriterien bereitet die Ergänzung der standardisierten Bewertungen durch die höhere Ebene vor. Mit diesem Schritt erfolgt ein Input, durch den das standardisierte Verfahren zu einem teil-standardisierten wird und durch den jene qualitativen Kriterien mehr Relevanz erfahren (können), die bereits heute durch die verschiedenen Ergänzungsvorschläge zu den bestehenden Verfahren vorbereitet worden sind.

Das Verfahren der Situativen Bewertung stößt dort an seine Grenzen, wo eine Maßnahme so deutlich überregional bedeutsam ist, dass eine Messung des Nutzens zugunsten der beplanten Region kaum diskutierbare Vorteile (also Zielentsprechungen im eigentlichen Sinne) ergeben kann. Beispiel für solche Maßnahmen ist der Ausbau des Hochgeschwindigkeitsnetzes der Deutschen Bahn, bei dem die Region zwischen Coburg und Leipzig maximale Nachteile erleidet. Hier wird auch über den Anwendungsbereich des Verfahrens nachzudenken sein, der sicherlich nicht mehr nach dem Kriterium "Maßnahmenumfang" im Sinne von Kosten festgelegt werden kann.

Es ist zu verdeutlichen, dass nicht an eine Revolution des Verfahrensganges, sondern an eine Revolution des Verfahrensinhalts auf dem Weg vor der Prüfung auf der höheren Ebene gedacht ist, die eine Ergänzung des bestehenden Procedere ist: Als "effizient" kann in der Prüfung nur eine solche Maßnahme gelten, die Ergebnis des beschriebenen örtlichen bzw. regionalen Entscheidungsganges der Fundierung und Transparenz ist.

Wichtigste Voraussetzung der Erzeugung "effizienter" Maßnahmen durch die situative Bewertung ist ein Kriterienkatalog, aus dem die örtlich/regional relevanten Kriterien ausgewählt werden können, wobei eine weitere Ergänzung des Katalogs grundsätzlich möglich sein muss. Ein Beispiel für einen solchen offenen Katalog zeigt die unten folgende Tabelle 3.

Tab. 3: Kriterienkatalog für ein effizientes Bewertungsverfahren 

Anforderungsebenen örtliche Gegebenheiten Beispiel-Kriterien und -Merkmale
  • technische und rechtliche Anforderungen
  • Vorhandene Grundlagen
  • Streckendaten(Netz, Auslastung etc.)
  • Prognosen
  • reibungsloser Ablauf
  • Sicherheitsgesichtspunkte
  • Betriebskosten, laufende Kosten
  • ökonomische Anforderungen
  • Lage und Verteilung der Gewerbegebiete, der Siedlungsgebiete
  • Anbindung an Verkehrsachsen
  • Verbesserung der Standortqualität
  • Erreichbarkeitskriterien
  • Veränderung der Flächenbedeutung
  • ökologische Anforderungen
  • Lage und Ausstattung von Schutzräumen
  • Ausgleichsflächen
  • Landschaftspläne etc.
  • Störwirkungen
  • Rückbaubarkeit
  • Trennwirkungen
  • Kleinklima, Emissionen
  • sozioökonomische Anforderungen
  • Verteilung der Bevölkerung
  • Strukturdaten
  • allgemeine Ausstattung mit Infrastruktur
  • Stellung im zentralörtlichen System
  • Lärm
  • Flächenverfügbarkeit
  • Wohnumfeld
  • Erreichbarkeit
  • Kontakte im Nahbereich
  • Raumwirksamkeit
  • Einbindung in den Gesamtraum
  • Flächennutzungsplanung, Regionalplan, LEP
  • Siedlungswirkung
  • zentrale Orte-Struktur
  • Funktionsverbindung
  • Nachhaltigkeit

Aus den unterschiedlichen Sachebenen der Planung ergeben sich die Anspruchsebenen und aus den örtlichen Gegebenheiten die zusätzlichen Kriterien, die vor Ort bestimmt werden müssen. Drei der Sachebenen (ökonomisch, ökologisch, sozial- oder sozioökonomisch) ergeben sich aus den drei Säulen der Nachhaltigkeit. Die vierte Ebene ergibt sich aus den technischen und rechtlichen Anforderungen, die an die Verkehrsinfrastruktur zu stellen sind. Die Kriterien und Merkmale sind das Ergebnis eines gesellschaftlichen Diskurses, der auch in Form von Runden Tischen oder ähnlichen Methoden gefunden wird, die eben durch das tägliche Umgehen mit den Gegebenheiten im Raum, und je nach Maßstabsebene der Planung (lokal, regional, ...) festzulegen sind, und die auf diese Weise der Situativen Bewertung zugrunde liegen.

Konsens unter den Beteiligten muss somit diese Aussage sein: Planung als solche muss sich grundlegend ändern, da es nicht mehr allein um die gestalterische Raumordnung geht, sondern um eine differenziertere, flexiblere, sensiblere und auf den Dialog zwischen allen Beteiligten gestützte Planung (vgl. Albers 1990, S. 228). Ziel muss es also sein, die Komplexität der Zusammenhänge auf die einfache, konkrete Aufgabe zu beziehen.

Die Reduktion der Komplexität wird zweifelsohne den zentralen Kritikpunkt einer Situativen Bewertung bilden. Zum einen kann die Gefahr gesehen werden, dass die Reduktion wieder zu einer Abstimmung über Begriffe führt, deren unterschiedliche Interpretation und Wertzumessung - d. h. deren unterschiedliche Bedeutung - missachtet wird. Zum anderen kann auf die mangelhafte Einübung diskursiver Verfahren in der staatsbürgerlichen Erziehung in Deutschland verwiesen werden.

Offene Fragen

Die Situative Bewertung ist ein bewusst einfaches Verfahren, das die bestehende Ordnung nicht ablösen will, sondern durch eine Ergänzung eine Verfestigung der Maßnahmenwidmung und eine verbesserte Stringenz im Sinne der drei Zwecke Fundierung, Transparenz und Effizienz erreichen will. Es wird jedoch zunächst zu fragen sein, welche Situation Ausgangspunkt der Situativen Bewertung ist, d. h., welche Orte bestimmen über den rein topographischen Bezug der Maßnahme hinaus die Örtlichkeit, die Situativität. Der einfachste Ansatzpunkt, das rechtliche "Betroffensein" durch die Maßnahme, greift hier eventuell zu kurz.

Aus den Diskussionen der letzten Wochen folgern wir folgende weitere Fragen:

Nach den Diskussionen des letzten Jahres (vgl. Diskussionsmitschnitte bei Martens und Brenner 2000) müssen wir dieses ernüchternde Fazit ziehen: Das planende bundesdeutsche und das örtliche Gemeinwesen sind nicht bereit, sich diesem Wagnis der Offenheit zu stellen.

Dies liegt zum einen daran, dass die Diskussion an sich eine hochgradig spezialisierte Fachdiskussion ist. In der Bundesrepublik entscheiden rund 30 Experten aus Wissenschaft und Ministerien über die Gestaltung von Bewertungsverfahren mit Auswirkung auf 80 Millionen Einwohner. Zum anderen liegt dies daran, dass eine Bereitschaft zur Abgabe von Entscheidungsbefugnissen nicht wirklich besteht. Auch unter einer Bundesregierung mit grüner Beteiligung hat die Offenheit gegenüber Mitsprache durch Bürger nicht erkennbar zugenommen. Im Gegenteil schien uns das Selbstverständnis von CSU-Politikern mehr Beteiligung zuzulassen, was sich in den bayerischen Gesetzen zu Bürgerbegehren augenfällig dokumentiert. Unsere Hoffnung ist, dass partizipative Elemente jenseits der Ideologien auch durch Forschungen wie die unsere in Zukunft in Planungen Einzug halten werden.

Bewertung und Partizipation existieren in der Verkehrsplanung nur als Provisorien, deren deutliche Schwächen der Fachwelt bekannt sind. Solange eine Partizipation nicht über die Einflussnahme der EU - neuere Programme der EU schreiben sie zwingend vor - durchgesetzt wird, gilt auch im Verkehrswesen: Provisorien sind die Lücke, die sie ausfüllen sollten. Und sie sind haltbar.

Anmerkungen

[1] Aus dem Projekt "Bewertung verkehrlicher Infrastruktur". Unter Mitarbeit von Sabine Martens, Jens Brenner und Monika Herrmann. Der Langtext zu Bewertungsverfahren findet sich bei Martens und Brenner 2000.

[2] Vgl. Gorissen 1997, S. 15 ff.

[3] Zur Partizipation verweisen wir auf die umfangreiche Forschungs- und Entwicklungstätigkeit im Bereich 3 (Prof. O. Renn u. a.) der Akademie für Technikfolgenabschätzung.

Literatur

Albers, G. , 1990: Stadtplanung heute. In: Th. Sieverts (Hrsg.): Zukunftsaufgaben der Stadtplanung, Düsseldorf.

Beckmann, K. , 2000: Bewertungsverfahren - Erfordernis eines Methoden-Mix. In: Martens, Brenner (s. dort)

Bickel, P.; Friedrich, R. , 1995: Was kostet uns die Mobilität? Externe Kosten des Verkehrs. Heidelberg.

Endres, A.; Holm-Müller, K. , 1998: Die Bewertung von Umweltschäden. Theorie und Praxis sozioökonomischer Verfahren. Stuttgart, Berlin, Köln.

Fliedner, D. , 1993: Sozialgeographie. Lehrbuch Allgemeine Geographie. Berlin, New York.

Gehrung, P. , 2000: Bewertungsverfahren BVWP. In: S. Martens und J. Brenner 2000 (s. dort)

Gorissen, N. , 1997: Konzept für eine nachhaltige Mobilität in Deutschland. In: Protokolldienst der evang. Akademie Nr.35, S.15 ff., Bad Boll.

Klüter, H. , 1986: Raum als Element sozialer Kommunikation. Geographisches Institut. Giessen.

Martens, S.; Brenner, J. (Hrsg.), 2000: Rechenstift gegen Argumente? Workshopbericht Bewertungsverfahren. SchrR Arbeitsberichte der Akademie für Technikfolgenabschätzung, Stuttgart.

Renn, O.; Klinke, A. , 2000: Umweltbewertung aus ethischer und ökonomischer Sicht. In: TA-Informationen 2/2000, S. 3-11. Stuttgart.

UBA / Umweltbundesamt, 1999: Berichte 4/1999. In: A. Gühnemann u. a.: Entwicklung eines Verfahrens zur Aufstellung umweltorientierter Fernverkehrskonzepte als Beitrag zur Bundesverkehrswegeplanung. Berlin: Erich Schmidt Verlag

Zumkeller, D. , 2000: Verhaltensänderungen im Verkehr. SchrR Arbeitsberichte der Akademie für Technikfolgenabschätzung, Nr. 147, Stuttgart.

Kontakt

Dr.-Ing. Marcus Steierwald
Akademie für Technikfolgenabschätzung
Themenbereich Verkehr und Raumstruktur
Industriestraße 5, 70565 Stuttgart-Vaihingen
Tel.: + 49 711 9063-107