Hightech statt Gehstock – (Wie) wollen wir altern? Ein Interview mit den Charakteren Martina Mareke, Ray de Grey und Friedrich Müller

Interview

Hightech statt Gehstock – (Wie) wollen wir altern?

Ein Interview mit den Charakteren Martina Mareke, Ray de Grey und Friedrich Müller

Erdacht von Karsten Bolz, Claudia Brändle, Johannes Hirsch und Martin Sand, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruhe[*]

„Hightech statt Gehstock – (Wie) wollen wir altern?“ – so der Titel eines öffentlichen Themenabends, der am 13. April 2016 im Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe stattfand. Die Frage nach dem Altern stellten wir den fiktiven Personen Martina Mareke, Ray de Grey und Friedrich Müller. Es war beabsichtigt, dass diese Charaktere extremere Positionen vertreten als es in der jeweiligen Wissenschaftscommunity üblich ist, um ein kontroverses Spannungsfeld zu eröffnen.

Die Veranstaltung war Teil der Reihe „technik.kontrovers“[1], bei der das ITAS gesellschaftlich brisante Technikthemen präsentiert, zu denen am Institut geforscht wird. Ziel der Veranstaltungsreihe sind Austausch über und Diskussion jüngster Technikentwicklungen mit Bürgerinnen und Bürgern. Die Veranstaltungsreihe „technik.kontrovers“ ist damit ein Instrument für die Wissenschaftskommunikation[2] und Bürgerpartizipation, bei dem durch unkonventionelle Formate ein Wissensaustausch in beide Richtungen ermöglicht werden soll.

Der Themenabend „Hightech statt Gehstock – (Wie) wollen wir altern?“ beschäftigte sich mit Handlungs- und Gestaltungsoptionen im Zuge des demografischen Wandels – wir leben immer länger. Diese prinzipiell erfreuliche Entwicklung bringt jedoch Herausforderungen mit sich, da Altern auch mit einem Nachlassen körperlicher und mentaler Fitness einhergeht. Jüngste technische Entwicklungen bspw. im Bereich der Assistenzsysteme versprechen Unterstützung für ältere Menschen. Doch die Gedankenspiele gehen weiter: Vielleicht ermöglichen es zukünftige Technologien, Alterungsprozesse im Körper zu verzögern oder komplett zu stoppen. Doch inwiefern sind diese Optionen gesellschaftlich wünschenswert? Als Input für die Diskussion mit dem Publikum führten wir eine Diskussion mit drei ausgedachten Charakteren. Indem jeder unserer Darsteller eine Extremposition spielte, sollte ein Spannungsdreieck aufgespannt werden, das als Grundlage für die anschließende Diskussion diente. Für das Schauspiel schlüpften drei unserer Nachwuchswissenschaftler in Rollen frei erfundener Figuren. Diese waren:

Ähnlichkeiten mit echten Personen sind natürlich rein zufälliger Natur. Um dem Leser diese untypische Art der Wissenschaftskommunikation, die bei der Veranstaltung sehr positiv aufgenommen wurde, näher zu bringen und die Gestaltungs- und Bewertungsmöglichkeiten der Technikentwicklung in Bezug auf das Altern darzulegen, werden wir im Folgenden die Inhalte der fiktiven Diskussion des „technik.kontrovers“-Themenabends in Interviewform wiedergeben.

Das Interview

Assistenzsysteme als Lösung der Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft

Moderator: Assistenzsysteme beginnen bereits heute eine wichtige Rolle in unserer älter werdenden Gesellschaft zu spielen. Herr Müller, Sie verweisen in Ihren Vorträgen immer wieder auf die Notwendigkeit assistiver Technologien und sehen diese als Lösung der Herausforderungen einer älter werdenden Gesellschaft. Beispielsweise seien umfassende Ansätze wie Ambient Assisted Living notwendig, um mittels Sensorik den Menschen das Leben im Alter zu erleichtern. Neben bereits eingesetzten Technologien zur Kommunikationsunterstützung sei der Einzug der Robotik in der Pflege unumgänglich und deshalb fordern Sie auch eine Intensivierung der Aktivitäten auf diesem Gebiet. Diese Position wird nicht von allen geteilt. So beispielsweise auch nicht von unserem Gast Herrn de Grey. Herr de Grey können Sie vielleicht kurz darlegen, was Sie bei dieser Forderung als problematisch erachten?

de Grey: Wenn ich es richtig sehe, sind die Assistenzsysteme, die Herr Müller entwickeln möchte, nur eine Art der Symptombekämpfung. Sie möchten viel Geld ausgeben, um Menschen die spätere Lebensphase bequemer zu gestalten. Aber das eigentliche Problem, das Altern selbst, bleibt unberührt. So lange es das Altern, also den biologischen Grundmechanismus gibt, treten als Nebenprodukt des zellulären Verfalls ungeliebte Begleiterscheinungen des Alterns auf, gegen die Herr Müllers Assistenztechnologien völlig machtlos sind.

Müller: Werter Kollege, es freut mich, dass Sie auch die Entwicklung der technischen Assistenzen für den Alltag wahrgenommen haben. Auch wenn in der Medizin komplexe IT-Systeme in den OPs im Einsatz sind, haben wir im Bereich der Pflege noch Raum, neben Rufanlagen weitere Technologien zu implementieren. In den eigentlichen Altersprozess hat noch niemand erfolgreich eingegriffen!

Moderator: Frau Mareke, Sie beschäftigen Sich mit dem Pflegebedarf im Alter. Was ist Ihre Meinung zu diesen Positionen?

Mareke: Bitte nicht noch mehr Technologien in der Pflege! Das bringt weder den Pflegenden noch den pflegebedürftigen Menschen etwas. Es gibt so viele Technologien auf dem Markt, von denen sich bisher keine einzige durchgesetzt hat. Die Erfahrung zeigt, dass sich niemand eine Sensormatte neben das Bett legen würde. Die meisten älteren Menschen nutzen noch nicht einmal den Hausnotruf, den sie von ihren Angehörigen aufgedrückt bekommen haben. Wenn wir die Situation von Menschen, die altersbedingt Einschränkungen haben, wirklich verbessern wollen, müssen wir uns etwas anderes ausdenken, als immer neue Technologien zu entwickeln, die niemandem nutzen.

Müller: Bei ihrer Technikfeindseligkeit wundert mich ja nicht, wenn meine Kollegen immer wieder darauf hinweisen, dass der Bereich Pflege, was den Einsatz von IuK-Technologien angeht, anderen Branchen ungefähr 15 Jahre hinterher hänge. Es stellt sich die Frage, ob die fehlende Akzeptanz nicht auch daran liegt, dass die Generation, die heute auf Hilfe angewiesen ist, wenig bis keine Berührungspunkte mit Technologien in ihren bisherigen Leben hatte.

de Grey: Anstatt das Problem des Alterns an der Wurzel anzupacken, wollen Sie nur die Symptome bekämpfen. In den Vereinigten Staaten widmet man sich schon seit Beginn des letzten Jahrhunderts mit zunehmendem Erfolg der Biogerontologie, also der Erforschung der grundlegenden, biologischen Prozesse des Alterns. Wir müssen in Europa mehr finanzielle Ressourcen freimachen, um den biologischen Code des Alterns zu entschlüsseln, anstatt unser Geld in die Entwicklung von Assistenzsystem zu stecken, die das Altern erleichtern, aber doch nicht aufhalten. Ich plädiere für eine Erweiterung der Grundlagenforschung in der Biogerontologie, um in den Alterungsprozess selbst einzugreifen und die Lebenserwartung der Menschen radikal zu verlängern.

Müller: Mir stellt sich bei Ihren Ausführungen die Frage: Welche wissenschaftlichen Fortschritte hat die Gesellschaft für Gerontologie eigentlich schon erbracht? Die sind doch überschaubar, oder nicht? Auch wenn viele Forschungsprojekte versucht haben, bestehende Probleme zu passenden Nägeln für ihren neuen Hammer zu machen, gab es hierbei auch Erfolge. Seit einigen Jahren versucht die Technologieentwicklung zuerst die Anknüpfpunkte für Hilfebedarf zu finden und anschließend die noch vorhandenen Ressourcen zu unterstützen.

de Grey: Ja, das muss ich zugeben: Die Biogerontologie steckt in den Kinderschuhen und ihre Erfolge, in den Altersprozess einzugreifen sind überschaubar. Dennoch müssen sie das ins rechte Verhältnis zu ihren eigenen Fortschritten setzen. Was Sie erreichen, ist eine Steigerung der Qualität in den letzten Lebensjahren. Der Preis dafür ist hoch, denn der Fokus auf die Entwicklung von Assistenzsystemen lenkt von einer wichtigeren Aufgabe ab! Die Betroffen wollen erst gar nicht in die Abhängigkeit einer solchen Technologie geraten. Und dafür gibt es nur ein Heilmittel und das ist jedwede Beeinträchtigung durch Altern vorzubeugen. Zu den Erfolgen der Biogerontologie gehört beispielsweise, dass sie in den vergangenen Jahren die Frage beantworten konnte, warum Krebszellen sich unendlich teilen können, also unsterblich sind. Obwohl wir noch weit davon entfernt sind, das Mysterium des Alterns zu lösen, hat diese Art der Forschung jedenfalls größere Schritte in Richtung menschlicher Unsterblichkeit getan als ihre Oberflächenbehandlungen.

Mareke: Ehrlich gesagt gruselt es mich, wenn ich mir Ihre Ausführungen anhöre, das klingt wie ein dystopischer Science-Fiction-Film. Das schaue ich mir zwar gerne im Kino an, aber in der Realität könnte ich auf Krebszellen, die sich unendlich oft teilen, verzichten!

Altern als sozialer Prozess

Moderator: Diese Gelegenheit möchte ich nutzen, näher auf eine andere Perspektive des Älterwerdens einzugehen. Frau Mareke, Sie teilen die Haltung der beiden Herren in unserer Runde nicht. Sie betonen immer wieder, dass man zu allererst bei einem Umdenken in der Gesellschaft ansetzen sollte, um das Altern als wertvollen Teil des Lebens zu würdigen. Können Sie kurz darlegen, was genau Sie an den Positionen von Herr Müller und Herr de Grey stört?

Mareke: Gerne. Was mich stört, ist: Es geht bei beiden immer nur darum, an älteren Menschen in der einen oder anderen Form herumzudoktern – sei es, indem man sie mit Sensoren und Überwachungstechnologien ausstattet oder ihnen ihr „Alter“, wenn man so will, gleich ganz wegnehmen will. Aber ist es ein so schreckliches Schicksal, alt zu sein? Dieses Phänomen der Pathologisierung von Alter empfinde ich als sehr unangenehm und bedenklich, denn das Alter ist keine Krankheit, sondern ein natürlicher Teil des Lebens, und sollte daher auch als solcher behandelt werden.

de Grey: Ihre Vorschläge sind nett aber auch hochgradig naiv. Am Ende des Alterns stehen auch immer das Sterben und der Tod. Durch die Technologien und sozialen Mechanismen, die Sie forcieren, ermöglichen Sie den Menschen zusätzliche wertvolle Lebensjahre, die sie noch vor einigen Jahrzehnten nicht hätten genießen können. Aber das heißt auch, dass Sie damit die prinzipielle Endlichkeit menschlichen Lebens akzeptieren. Ich glaube, wir können den Tod besiegen, doch nicht mit Assistenzsystemen! Wenn wir jetzt in die Biogerontologie investieren, dann müssen wir morgen vielleicht keine Menschenleben mehr betrauern.

Mareke: Was Sie sagen, ist nicht falsch: Sicherlich – kein Mensch möchte wirklich sterben. Ich denke nur, ein ewiges oder sehr, sehr langes Leben – hunderte Jahre – ist nicht unbedingt die bessere Wahl. So wird z. B. in Simone de Beauvoirs „Alle Menschen sind sterblich“ eindrücklich die grundlegende Entfremdung mit der eigenen Umwelt beschrieben, die mit Unsterblichkeit einhergeht. Stellen Sie sich vor, sie wären 1492 geboren worden und müssten sich in unserer heutigen Welt zurechtfinden. Diese immer neue Anpassung an eine sich ständig verändernde Gesellschaft, kann auf Dauer ermüden und das Gefühl hervorrufen, aus der Zeit zu fallen. Tatsächlich zeigt meine Erfahrung mit sehr alten Menschen, dass sowohl das Gefühl, den Zugang zur Welt verloren zu haben und es „langsam Zeit wäre, zu gehen“ regelmäßig und durchaus nicht nur negativ angesprochen wird.

Müller: Frau Mareke, haben Sie nicht auch etwas den Zugang zur Welt verloren? Glauben Sie wirklich, man sollte sich als Mensch mit den Einschränkungen des Alterns abfinden und sich unnötigen Risiken aussetzen? Das erscheint mir äußerst bedenklich. Ich habe Sie doch auch mit einem Fahrradhelm in der Hand gesehen, auch Sie betreiben also „Risikominimierung“. Die Herdabschaltung kann das Risiko eines Wohnungsbrandes ganz besonders bei Menschen mit Demenz erheblich reduzieren. Ich sehe nicht, warum man bei bekannten Risikofaktoren – und Altern gehört da eben dazu – nicht auch entsprechende technische Maßnahmen ergreifen soll. Die Technik wäre ja da, warum sie also nicht nutzen?

Mareke: Weil sie meistens nicht viel nützt! Sicher, in einem gewissen Rahmen ist eine Auseinandersetzung mit Sicherheit und Risiko sinnvoll – aber nur, wenn dies keinen Verlust an Lebensqualität bedeutet. Mich stört der starke Fokus, der auf die Prävention von Unfällen gelegt wird und das in einem Maße, die meines Erachtens die Lebensqualität bereits einschränkt. Dabei wird das Hauptproblem älterer Menschen übersehen: Den Zugang zu sozialer Teilhabe. Hier sollten wir ansetzen. Abgesehen davon zweifle ich am Mehrwert dieser Produkte: Die Sensormatte erkennt zwar, ob jemand gestürzt ist, den Sturz selbst kann sie jedoch nicht verhindern. Unfälle und steigendes Risiko sind nun mal ein Teil des Alterns.

Moderator: Herr de Grey, Sie postulieren ja ein unendliches Leben. Doch welchen Mehrwert hat dies für alte Menschen, denen beispielsweise der Zugang zu sozialer Teilhabe fehlt wie Frau Mareke eben beschrieben hat?

de Grey: Natürlich wollen wir keine Gesellschaft, in der alle unsterblich sind, aber aufgrund körperlicher Gebrechen nicht mehr arbeiten können, ihre Orientierung verlieren oder in einem Zustand der Lethargie leben. Was wir wollen, ist eine unendliche Verlängerung der gesunden Lebensjahre! Stellen Sie sich doch einmal vor, wir könnten noch heute den Erfindungsreichtum eines Georg Büchner genießen oder die Genialität des jungen Goethe: Unsere Gesellschaft wäre um Vieles reicher. In Frau Marekes Konzeption ist das Altern wie ein Drache, an den sich unsere Gesellschaft gewöhnt hat. Anstatt ihn zu bekämpfen, sollen horrende Summen, moderne Technologien und soziale Maßnahmen eingesetzt werden, um ihn in Schach zu halten, anstatt zu versuchen, ihn zu besiegen.

Mareke: Es liegt vielleicht gar nicht in unserem Interesse „den Drachen“ zu besiegen! Können Sie sich eine Gesellschaft vorstellen, in der es kein Altern und Sterben mehr gibt? Abgesehen davon, ob wir eine solche Gesellschaft wollen, hätte das nicht auch praktische Probleme – Stichwort „Überbevölkerung“?

de Grey: Natürlich kann ich mir so eine Gesellschaft vorstellen! Das bereitet mir keine Alpträume. Mit den von Herr Müller vorgestellten technologischen und den von Ihnen vorgeschlagenen sozialen Interventionen greifen Sie ja schon in die Lebenserwartung der Menschen ein. Ein simples Assistenzsystem wie das Handy kann Leben retten und damit die durchschnittliche Lebenserwartung erhöhen. Das gleiche gilt für das betreute Wohnen. Warum also nicht gleich in den grundlegenden Prozess des Alterns eingreifen? Mir geht es nur darum, die vielen medizinischen und technologischen Interventionen, die schon jetzt einen Einfluss auf die Lebenserwartung haben, auf die Spitze zu treiben. Deutschland kämpft mit politischen und technischen Mitteln gegen das Rauchen, weil es Menschenleben fordert und unsere Krankenkassen belastet: Warum also nicht auch gegen das Altern?

Mareke: Weil Altern, im Gegensatz zum Rauchen, kein Übel und nicht die Geißel der Menschheit ist.

Das Altern abschaffen

Moderator: Vielen Dank für diese Vorlage Frau Mareke. Die Geißel der Menschheit – dies ist ein Begriff, den auch Sie, Herr de Grey, auf internationaler Bühne gerne benutzen. Denn genau darum geht es Ihnen, die Geißel der Menschheit, das Altern, abzuschaffen. Sie unterstützen die Entwicklung von Technologie, um in den Alterungsprozess einzugreifen und prophezeien den ewigen Jungbrunnen. Wenngleich bei Laborversuchen erfolgreich in die Lebenserwartung von Tieren, bspw. Fruchtfliegen eingegriffen wurde, so ist eine Übertragung auf den Menschen noch immer erfolglos. Trotzdem bemühen Sie militärische Metaphern und eine radikale Rhetorik und wecken damit Erwartungen, aber nicht selten auch Ängste in der Bevölkerung. Mich würde interessieren, was Sie, Herr Müller und Frau Mareke, zu dieser Zukunftsvision sagen?

Müller: Nun ja, erinnern wir uns an diesen Jungbrunnen und beziehen es auf die heutigen Schwimmbäder. Kennen Sie nicht die Bilder von übervölkerten Wiesen in den Schwimmbädern der bevölkerungsreichen Nationen, ganz klar schon jetzt eine Überpopulation… Sie sprechen von den genialen Köpfen vergangener Zeiten, überleben dann nicht auch alle Schurken?

de Grey: Ich bin überzeugt davon, dass niemand einen zu frühen Tod verdient. Die Leute, von denen Sie sprechen, Herr Müller, müssen mit längeren Haftstrafen oder anderen rechtlichen Maßnahmen rechnen. Wie bei allen neuen Technologien, brauchen auch die Technologien, die mir vorschweben, geeignete rechtliche Rahmenbedingungen. Stellen Sie sich vor, man hätte das Automobil ohne Straßenschilder oder Führerscheinpflicht eingeführt. Genauso muss das Verhalten in einer unsterblichen Gesellschaft reguliert werden. Das bedeutet vielleicht, dass nicht jeder so viele Kinder bekommen kann, wie er gerne möchte.

Mareke: Nochmal zur Wiederholung: Es liegt nicht in unserem Interesse, eine Welt ohne „Altern und Tod” zu erschaffen und zwar aus mehreren Gründen: 1. Bezweifle ich, dass dies überhaupt möglich ist und 2. profitieren nur privilegierte Menschen von diesen Technologien. Das führt zu sozialer Ungleichheit und einer zunehmenden Stigmatisierung und Marginalisierung von Menschen, die aus Kostengründen weiterhin altern werden. Schließlich brauchen wir 3. das Alter und den Tod als eine Grenze. Die Endlichkeit unseres Lebens ist es, die unserem Leben einen Sinn und Anreiz gibt, etwas zu erreichen und aus unserem Leben zu machen. Potenziell unendlich lange leben zu können, führt vermutlich zu Stagnation, Antriebslosigkeit und Langeweile.

de Grey: Offensichtlich sind Frau Mareke und Herr Müller die einzigen Menschen, die keine Angst vorm Tod haben und die es nicht kümmert, all der wundervollen Dinge beraubt zu werden, die das Leben einem so bietet. Sie wünschen sich also nicht, noch dieses oder jenes Buch zu lesen, reisen zu gehen oder eine neue Sprache zu lernen? Ich kenne viele ältere Menschen, die solche Wünsche noch haben und denen die Zeit zu knapp geworden ist. Und der Gedanke, dass sie einen geliebten Menschen verlieren, stört sie nicht? Soziale Ungleichheit ist ein Problem, da gebe ich ihnen Recht, aber es ist kein technologisches Problem. Wenn unsere Gesellschaft es will, dann lassen sich die Schwierigkeiten der Verteilungsgerechtigkeit überwinden. Und ein letztes noch: Solange Sie und die breite Öffentlichkeit an der Möglichkeit lebensverlängernder Technologien zweifeln, solange werden diese sich garantiert nicht realisieren. Was glauben Sie, wie viele Menschen an den Flugpionieren Wright gezweifelt haben, bis sie eines besser belehrt wurden?

Moderator: Auch wenn ich dieses sehr spannende Interview mit Ihnen gerne weiterführen würde, sind wir leider am Ende unserer Zeit angelangt. Ich möchte mich ganz herzlich bei Ihnen bedanken und Sie um ein kurzes Abschlussstatement bitten. Herr Müller...

Müller: Zufrieden nach Hause würde ich gehen, wenn Sie, Herr de Grey, von Ihren radikalen Ansichten abrücken würden, zumindest so lange bis es wissenschaftlich belegbare Erfolge gibt. Und auch für Sie, Frau Mareke, wäre es in meinen Augen an der Zeit, sich dem Zeitgeist zu öffnen und Technik ihren Platz in der Gesellschaft zuzugestehen. Technik soll nicht ersetzen, sondern unterstützen. Mich begleitet abschließend nur der Wunsch, dass die technischen Assistenzsysteme im gleichen Maße bezahlbarer werden, wie ich bedürftiger werde und ich so noch selbst Nutznießer meiner eigenen Arbeit werden kann.

Mareke: So wie Ihnen meine Position als „radikal altbacken” vorkommt, so empfinde ich Ihre als deutlich zu kurz gedacht. Ich gehe heute zufrieden nach Hause, wenn es mir gelungen ist, das Publikum davon zu überzeugen, dass man erst einmal beim sozialen, bei der Gemeinschaft ansetzen sollte, um Altern (wieder) als einen wertvollen Teil des Lebens anzuerkennen, bevor man sich irgendwelche technischen Lösungen für Probleme überlegt, die wir in einer rücksichtsvolleren Gesellschaft gar nicht erst hätten.

de Grey: Lang lebe die Unsterblichkeit!

Anmerkungen

[*] Wir danken dem gesamten technik.kontrovers-Team für die tolle Unterstützung und die Realisierung des Themenabends. Zudem sei anzumerken, dass alle Autoren gleichermaßen an dem Beitrag mitgewirkt haben.

[1] Weitere Informationen sind unter https://www.itas.kit.edu/veranstaltungen_2016_technikkontrovers.php zu finden.

[2] Siehe dazu auch Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis 25/1 (2016) mit dem Schwerpunktthema „Schlüsselideen, Akteure und Formate der Technikkommunikation“; https://www.tatup-journal.de/tatup161.php.