Das Reallabor als Partizipationskontinuum. Erfahrungen aus dem Quartier Zukunft und Reallabor 131 in Karlsruhe

Schwerpunkt: Reallabore als Orte der Nachhaltigkeitsforschung und Transformation

Das Reallabor als Partizipationskontinuum

Erfahrungen aus dem Quartier Zukunft und Reallabor 131 in Karlsruhe

von Sarah Meyer-Soylu, Oliver Parodi, Helena Trenks und Andreas Seebacher, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruhe

Der im Jahr 2012 gestartete Karlsruher Reallaborkomplex „Quartier Zukunft“ blickt auf eine entsprechend lange Partizipationstradition zurück, die im folgenden Artikel vorgestellt wird. Auf Basis eines Fünf-Stufen-Modells der Partizipation werden zunächst die verschiedenen Partizipationsintensitäten ausgewählter Formate im Reallabor nachgezeichnet und in einem zweiten Schritt ein Überblick über Verlauf und Qualität des Partizipationskontinuums „Quartier Zukunft“ gegeben. Den Abschluss bilden einige Schlussfolgerungen zur Gestaltung von Partizipation in Reallaboren und deren teils weitreichenden Implikationen.

The real world laboratory complex “District Future” has a long-standing tradition of participation, which will be presented in this paper. First, the participation intensity of different formats applied in the real world laboratory will be discussed, using a five-step-model of participation. Secondly, an overview will be given regarding the timeline and quality of the participatory continuum “District Future”. Finally, some conclusions will be presented on how to design participation in real word labs – with far-reaching implications.

1     Einleitung

Der in Karlsruhe aufgebaute Reallaborkomplex aus dem „Quartier Zukunft – Labor Stadt“ und dem „Reallabor 131: KIT findet Stadt“ war von Beginn an stark auf Partizipation ausgerichtet. Der aktive und ermächtigende Einbezug von BürgerInnen und anderen Akteuren in die nachhaltige Entwicklung des Stadtlebens war und ist erklärtes Ziel des Reallabors.[1] Seit seinem Start 2012 wurden eine Vielzahl partizipativer Prozesse angestoßen und durchgeführt, viele Impulse zur nachhaltigen Stadtentwicklung gesetzt und eine vielgestaltige und dauerhafte Brücke aus der Wissenschaft in die Bürgerschaft geschlagen. Gemeinsam wurde ein langer Weg der Partizipation zurückgelegt, der nicht immer so verlief wie gedacht, manchmal auf Holzwegen endete, auf dem aber auch Ungeahntes entdeckt wurde. Dieser Weg soll im Folgenden in einzelnen Stationen und als Ganzes nachgezeichnet und reflektiert werden. Dabei wird insbesondere das Augenmerk auf die folgenden drei Aspekte gelegt:

Ausgangspunkt sind hierfür die Erfahrungen aus den Beteiligungsprozessen des Quartier Zukunft, gespiegelt an einem etablierten fünfstufigen Partizipationsverständnis (Brinkmann et al. 2015; Stauffacher et al. 2008).

2     Der Karlsruher Reallaborkomplex

Das „Quartier Zukunft – Labor Stadt“ ist ein transdisziplinäres Stadtforschungs- und Entwicklungsprojekt mit dem Ziel, die Karlsruher Oststadt exemplarisch in einem offenen, dialogbasierten und langfristig angelegten Prozess in ein nachhaltiges Stadtquartier zu transformieren. Im Mittelpunkt steht hierbei das gemeinsame Wirken der Stadtgesellschaft, vor allem der BürgerInnen. Die Transformation soll in einem Schulterschluss von Wissenschaft, Bürgerschaft, Politik und Privatwirtschaft erfolgen (Parodi 2011; Parodi et al. 2015).

In den Städten Europas, so eine Grundannahme des Projekts, bedeutet nachhaltige Entwicklung eine Transformation im Bestand, sowohl auf räumlicher als auch auf sozialer Ebene – und nicht etwa den großflächigen Abriss und Neubau von Siedlungsstrukturen. Auf der Handlungsebene des Quartiers wird getestet, wie eine „dichte Nachhaltigkeit“, sowie die Entstehung einer „Kultur der Nachhaltigkeit“ (Banse et al. 2011) im Alltag gelingen können. Die wissenschaftlichen und gestaltenden Aktivitäten des Reallabors fußen auf einem umfassenden, integrativen Nachhaltigkeitsverständnis, dem „Integrativen Konzept nachhaltiger Entwicklung (IKoNE)“ (Kopfmüller et al. 2001; Seebacher et al. 2014). Das Quartier Zukunft soll Modellcharakter für andere Städte und Stadteile haben. Zu diesem Zweck wurde die Karlsruher Oststadt, stellvertretend für den heterogenen und dichten Stadtraum einer gewachsenen europäischen Großstadt, als Projektraum ausgewählt (Parodi et al. 2016a).

Das Reallabor eröffnet einen Experimentierraum, in dem in Projekten mit verschiedenen Partnern aus Bürgerschaft und Wissenschaft ein breites Themenspektrum bearbeitet wird. Diese Projekte sind als transdisziplinäre „Realexperimente“, bzw. „Nachhaltigkeitsexperimente“ (Parodi et al. in diesem Heft) angelegt, durch die nachhaltige Transformationsprozesse angestoßen und gleichzeitig beforscht werden können (Schneidewind 2014; Wagner/Grunwald 2015; Parodi et al. 2016b). Damit ist es eines der ersten Reallabore weltweit, das versucht, ein bestehendes Stadtquartier ganzheitlich und integrativ – sozial, ökologisch, ökonomisch und kulturell – im Sinne einer dichten Nachhaltigkeit weiterzuentwickeln.

Aufbauend auf den Aktivitäten und Erkenntnissen des Quartier Zukunft hat 2015 das vom MWK geförderte „Reallabor 131: KIT findet Stadt“ seine Arbeiten in der Karlsruher Oststadt aufgenommen. Das Reallabor 131 widmet sich, komplementär und eng verzahnt mit den Arbeiten des Quartier Zukunft, vertieft einzelnen Themen- und Bedürfnisfeldern der Karlsruher Stadtgesellschaft. Den partizipativen Ausgangspunkt des Reallabors bildet maßgeblich das im Herbst 2014 durchgeführte „BürgerForum Oststadt I Zukunft aus Bürgerhand“[2]. Ca. 300 BürgerInnen erarbeiteten Vorschläge zur nachhaltigen Gestaltung der Oststadt und hielten diese als „BürgerProgramm“[3] mit vier Themenschwerpunkten fest, die im Reallabor 131 seither in Form von transdisziplinären Experimenten bearbeitet werden: Mobilität, Raum und Soziales, Energie sowie Konsum.

In der ersten Phase der Experimente skizzierten interdisziplinäre Gruppen von KIT-WissenschaftlerInnen mögliche Experimente zu den Bürgervorschlägen der einzelnen Themenschwerpunkte. In der zweiten Phase findet gegenwärtig die Durchführung dieser Experimente statt, in die Praxisakteure aus der Bürgerschaft in unterschiedlichen Partizipationsformen und -intensitäten eingebunden sind. Die Experimente liegen in der Schnittmenge der formulierten Anliegen der Karlsruher Bürgerschaft und der Forschungskompetenzen des KIT. Unterstützt und begleitet werden die transdisziplinären Experimente von basalen wissenschaftlichen Arbeiten, die a) den Gebäudebestand der Karlsruher Oststadt erheben, b) eine begleitende Nachhaltigkeitsbewertung für Stadtquartiere erarbeiten und c) eine (interne) Begleitforschung zu den transdisziplinären Forschungsprozessen durchführen sowie d) Verbindungen zur Lehre herstellen.

Partizipativer Ort und lokales Zentrum für die Aktivitäten des Reallaborkomplexes stellt seit Juni 2015 der „Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft“ in der Karlsruher Oststadt dar. Als bauliche Infrastruktur, Quartiersbüro und „Nachhaltigkeitsladen“ fungiert er als Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Stadtgesellschaft.

3     Partizipationsverständnis im Reallabor

Der Begriff Partizipation leitet sich vom lateinischen Wort „participare“ ab und bedeutet übersetzt an etwas teilnehmen, teilhaben (s. a. Parodi et al. in diesem Heft). „Unter dem Begriff Partizipation versteht man Beteiligung, Teilhabe, Teilnahme, Mitwirkung, Mitbestimmung oder Einbezug. Gemeint ist damit verbindliche und kontinuierliche Einflussnahme der Betroffenen auf Planungs- und Entscheidungsprozesse. [...] In Stadtentwicklungsprozessen werden unter dem Begriff Partizipation alle Aspekte der aktiven Bevölkerungsbeteiligung zusammengefasst.“ (Hongler et al. 2008, S. 32).

Wegweisend in der Diskussion um die Intensität von Partizipation war der 1969 erschienene Artikel von Sherry Arnstein „A Ladder of Citizen Participation“ (Arnstein 1969). Sein Modell unterscheidet hier acht Stufen (veranschaulicht als Leitersprossen) der Partizipation, aufsteigend angeordnet nach dem Ausmaß an Entscheidungsmacht der BürgerInnen. Dieses Modell wurde im Laufe der Zeit oftmals re-interpretiert und angepasst.

Für die weitere Analyse greifen wir auf Brinkmanns Weiterentwicklung, das „Fünf-Stufen-Modell“ zurück (Abb. 1). Dabei folgen wir Selles Ergänzung, dass durch die veränderten kommunikativen Gestaltungsmöglichkeiten aktueller Partizipationsformate auch mehrere Stufen gleichzeitig vorliegen können, aber partizipative Formate der oberen Stufen nicht alle darunter mit einschließen müssen (Selle 2013). Partizipationsformate, die mehrere Stufen integrieren, bezeichnen wir als „Partizipationshybride“.

Abb. 1: Fünf-Stufen-Modell der Partizipation nach Brinkmann 2015 und Stauffacher 2008

Quelle: Eigene Darstellung

Selles Reformulierung der Stufen als „Schichten“ teilen wir dagegen nicht, da sich die „Stufen“-Metaphorik auch in partizipativen Prozessen sehr gut dazu eignet, die Intensität der Beteiligung zu beschreiben, bauen die Intensitäten doch irgendwie aufeinander auf – wenn auch nicht in der idealisierten Vorstellung einer linearen Leiter. Und auch der assoziativen Hierarchisierung einer unteren Stufe und einer höheren Stufe und einer damit verbundenen (möglichen) Entwicklung hin zu höheren Intensitäten der Partizipation folgen wir – wenn auch nicht in der idealisierten Vorstellung einer konsistenten, geradlinigen Treppe (Kap. 4, Abb. 2). Dies bestätigen auch die Auswertung der Partizipationsprozesse im Reallabor (Kap. 4).

Die im Reallabor anvisierte und realisierte Partizipation stellt das „Mitmachen“, eine kollaborative Gestaltung nachhaltigen Stadtlebens, in den Mittelpunkt. Der bereits im Konzept des Quartier Zukunft 2011 fixierte Ruf nach diversen Formen von „Scientific Public Partnerships“ und „Scientific Public Private Partnerships“ (Parodi 2011) geht seinem Anspruch nach weit über ein bloßes Informieren und Konsultieren der ansässigen Akteure (Stufe 1 und 2) hinaus. Die Experimente und anderen Aktivitäten des Quartier Zukunft zielen letztlich vor allem auf „Empowerment“ ab. Nicht nur Mit-machen, sondern auch Selber-machen ist das partizipative Leitmotiv des Reallabors. Akteure insbesondere aus Bürgerschaft und Zivilgesellschaft sollen zum selbständigen Handeln Richtung Nachhaltigkeit unterstützt und ermächtigt werden.

4     Partizipation als Kontinuum und Hybrid – Erfahrungen aus dem Reallabor

Seit dem Start des Quartier Zukunft im Jahre 2012 sind eine Vielzahl an Partizipationsprozessen angestoßen und weiterverfolgt worden. Einen komprimierten Überblick über die Vielfalt der partizipativen Veranstaltungen und Formate im „Partizipationskontinuum Quartier Zukunft“ gibt Abbildung 2, wobei die jeweiligen Intensitäten sowie die jeweils hauptsächlich anvisierte und realisierte Partizipationsstufe (Hauptstufe) und ggf. weitere erreichten Intensitäten (Nebenstufe) ausgewiesen sind. Die unzähligen informellen Treffen, Abstimmungsgespräche zwischen Akteuren oder projektbezogenen Gruppentreffen bleiben in Gänze unsichtbar, kontinuierliche Aktivitäten sind nur als Punkte dargestellt. Als „Partizipationskontinuum“ lässt sich das Reallabor Quartier Zukunft bezeichnen, weil:

Im Folgenden wird beispielhaft dargestellt, wie alle Stufen der Partizipation im Quartier Zukunft angesprochen wurden, und wie einige Partizipationshybride diese Stufen in besonderer Weise verbinden, bzw. gleichzeitig ansprechen.

Abb. 2a: Zeitstrahl der Partizipationsformate und -veranstaltungen im Reallabor Quartier Zukunft

Quelle: Eigene Darstellung

Abb. 2b: Zeitstrahl der Partizipationsformate und -veranstaltungen im Reallabor Quartier Zukunft (Forts.)

Quelle: Eigene Darstellung

Abb. 2c: Zeitstrahl der Partizipationsformate und -veranstaltungen im Reallabor Quartier Zukunft (Forts.)

Quelle: Eigene Darstellung

Abb. 2d: Zeitstrahl der Partizipationsformate und -veranstaltungen im Reallabor Quartier Zukunft (Forts.)

Quelle: Eigene Darstellung

Partizipationsformate nach aufsteigender Intensität
  1. Information: Den großflächigen, öffentlichen Auftakt des Quartier Zukunft markierte der „Oststadtbrief“ (2013), der als Postwurfsendung an alle 7.000 Haushalte der Oststadt verteilt wurde. So wurde im Projektgebiet über das Quartier Zukunft informiert. Im Mittelpunkt des Briefes stand der Aufruf „Mach mit!“. Seit 2013 wurden vom Team des Quartier Zukunft eine Vielzahl weiterer Informationsveranstaltungen und -gelegenheiten angeboten, z. B. der Themenabend „Diskurs interaktiv | Zukunft Urbane Mobilität“ (2014) oder Infostände bei öffentlichen Gelegenheiten.
  2. Konsultation: Ein 50 Jahre altes Lastenfahrrad wurde zum „Quartier-Zukunft-Mobil“ (2013) umgebaut, insbesondere um in den Straßen der Oststadt Meinungen, Anregungen und Anliegen der BewohnerInnen zur nachhaltigen Entwicklung der Oststadt einzuholen. Dieses dialogische Format zielt auf Kennenlernen und Austausch ab und verknüpft Information und Konsultation direkt miteinander. Eine ähnliche Funktion haben der regelmäßige, offene Stammtisch des Quartier Zukunft oder Workshops und Ideenwettbewerbe, wie z. B. „ImPuls | Oststadt“ (2014).
  3. Kooperation: BürgerInnen gestalteten zusammen mit dem Quartier Zukunft Events wie das Freiluftwohnzimmer (2014, 2016) oder lieferten Beiträge für die Mit-Mach-Ausstellung „Karlsruhe trifft die Welt“ (2015). Diese Veranstaltungen wurden zwar durch das Quartier Zukunft Team initiiert und weitgehend organisiert, hätten aber ohne die aktive Mitwirkung und Gestaltung der Bürger schlicht nicht stattgefunden. Das Quartier Zukunft gibt Anstoß und setzt den Rahmen, die Partizipateure gestalten diesen nach ihren Vorstellungen aus.[4]
  4. Kollaboration: Einen v. a. kollaborativen Charakter haben die mit Bürgergruppen durchgeführten Aktionen zum jährlichen Parking Day, die Kleidertauschpartys oder die transdisziplinären Projektseminare der Karlsruher Schule der Nachhaltigkeit (KSN), bei denen Studierende Praxisakteure bei Transformationsprozessen unterstützen, z. B. die Bürgerinitiative „Gemeinwohlökonomie“ im Sommersemester 2016.[5] Auch sind alle transdisziplinären Experimente des Reallabors 131 kollaborativ angelegt. Allerdings ist bis dato die Kollaboration in den einzelnen Experimenten unterschiedlich intensiv verwirklicht, bzw. funktioniert mitunter nicht wie angedacht.
  5. Empowerment und Ermächtigung: Die Übergabe der Entscheidungshoheit an die Praxisakteure erfolgte bislang vor allem bei der Bürgergruppe der „Oststadtnachbarn“ (seit 2014) und beim „ReparaturCafé Karlsruhe“. Letzteres wurde vom Team des Quartier Zukunft erstmals im Herbst 2013 initiiert und organisiert und findet inzwischen regelmäßig alle drei Monate in der Oststadt statt. Das ReparaturCafé hat sich mittlerweile fest etabliert, bereits einen Ableger in der Karlsruher Weststadt hervorgebracht und sich zu einem der größten ReparaturCafés in Deutschland entwickelt. Die etwa 20 bis 30 engagierten Reparateure entscheiden und agieren inzwischen selbstorgansiert, sie befinden sich gerade in der Vereinsgründung und werden so immer unabhängiger vom Quartier Zukunft. Die begleitende Forschung zum ReparaturCafé durch das Team des Quartier Zukunft läuft hingegen kontinuierlich weiter.
Partizipationshybride

Viele Veranstaltungen und Formate sprechen aber auch mehrere Stufen der Partizipation gleichzeitig an. Selbst jene Formate, die hauptsächlich auf Information ausgerichtet waren, boten oftmals im Geiste des „Mach mit!“ Gelegenheiten zu weitergehender Partizipation. So bot z. B. der Vortragsabend zur regionalen Ernährung („Da haben wir den Salat“ 2014) Möglichkeiten zum Netzwerken und den ansässigen regionalen Ernährungsinitiativen (SoLaWi, Slow Food u. a.) eine Bühne, um sich vor ca. 90 Teilnehmern bekanntzumachen. Größere Beteiligungsformate, wie die Bürgerversammlung und das BürgerForum (beide 2014), boten gar Beteiligung in Form von Information, Konsultation, Kooperation und Empowerment in einem. Sie sind typische Beispiele für Partizipationshybride.

Ein solch typisches Beispiel war das im Herbst 2014 ausgerichtete BürgerForum „Nachhaltige Oststadt | Zukunft aus Bürgerhand“. Dies war die zweite, groß angelegte, partizipative Veranstaltung des Reallabors. Sie wurde in Kooperation mit der Stadt Karlsruhe durchgeführt und von der Bertelsmann Stiftung unterstützt. Das BürgerForum gliederte sich in eine eintägige Auftaktwerkstatt, eine Ergebniswerkstatt (Abendveranstaltung) und eine dazwischen liegende fünfwöchige Onlinephase.[6] Die Bürger waren aufgerufen, sich im Vorfeld online für einen der insgesamt fünf Themenausschüsse zu entscheiden. Die Ausschüsse „Verträglich wirtschaften und arbeiten“, „Alltagsmobilität im Blick“, „Leben und Wohnen in der Oststadt“, „Stadtgesellschaft im Wandel“ und „Energie neu denken“ griffen dabei Probleme und Themen der Oststadt auf, die in den vorangegangenen konsultativen Veranstaltungen des Quartier Zukunft, insbesondere auf der Bürgerversammlung zur Sprache kamen und boten Raum zu deren Weiterentwicklung. Im Laufe des Verfahrens erstellten und priorisierten ca. 300 BürgerInnen ihre sog. Bürgervorschläge, stimmten (sich) über diese online ab und zeichneten ggf. mit Ihrem Namen dafür. Daraus entstand ein Bürgerprogramm, das der Stadtverwaltung, dem Gemeinderat und dem Quartier Zukunft-Team zur weiteren Umsetzung übergeben wurde. Auf der Ergebniswerkstatt wurde dann noch einmal über die Realisierbarkeit und Realisierung der einzelnen Bürgervorschläge mit Zuständigen der Stadtverwaltung eingehend diskutiert. Die Bürgervorschläge wurden in der Folge auch als Ausgangspunkt für die Inhalte und transdisziplinären Experimente des Reallabors 131 herangezogen.

Wege der Partizipation

Ebenso relevant wie die einzelnen Beteiligungsverfahren und -formate sind die Wege der Partizipation insgesamt, die bis dato im Quartier Zukunft begangen wurden. Dabei sind durchaus auch Holzwege und Sackgassen beschritten worden. Eine aus der Bürgerversammlung hervorgegangene Initiative zur bürgerschaftlichen Fassadenbegrünung startete hoffnungsvoll, verlor sich aber im Laufe des folgenden Jahres wieder im Privaten. Daran änderte weder die eigens zu diesem Thema ausgeschriebene und durchgeführte Masterarbeit noch die organisatorische und kommunikative Unterstützung durch das Quartier Zukunft Team etwas. Umwege nahm eine bereits auf dem Effekte-Workshop (2013) angedachte Idee, einen Abendmarkt mit regional erzeugten Nahrungsmitteln in der Oststadt zu etablieren. Gespräche mit engagierten BürgerInnen der SlowFood-Bewegung, dem Quartier Zukunft Team und der zuständigen Personen der Stadtverwaltung Karlsruhe blieben zunächst folgenlos, obwohl sich alle guten Willens zeigten. Die Idee schlummerte und wurde erst 2016 im Zuge der Neugestaltung der Innenstadt ohne Beihilfe des Quartier Zukunft auf dem Karlsruher Marktplatz realisiert.

Erfolgswege: Neben der Etablierung, Verbreitung und Emanzipierung des ReparaturCafés bietet die Gruppe der „Oststadtnachbarn“ ein gelungenes Beispiel von Aktivierung, langfristiger Partizipation und Empowerment. Gegründet hat sich diese Gruppe engagierter BürgerInnen auf der Bürgerversammlung im Frühjahr 2014. Seit nunmehr zweieinhalb Jahren veranstalten die rund 15 Engagierten monatlich an wechselnden öffentlichen Plätzen in der Oststadt ihr für alle offenes „Nachbarschaftspicknick“, beleben so den öffentlichen Raum und bringen die Anwohnerschaft zusammen, stärken das soziale Miteinander. Die Gruppe betreibt einen eigenen Internetblog[7], in dem sie über aktuelle Themen und die nächsten Picknicks informiert, sowie ein schwarzes Brett zur Nachbarschaftshilfe. Angestoßen durch den Wettbewerb „Dein NachhaltigkeitsExperiment“ des Quartier Zukunft bietet die Gruppe ab Oktober 2016 auch einmal pro Woche einen für alle offenen, generationenübergreifenden Oststadt-Treff mit wechselnden Veranstaltungen im Zukunftsraum an. Langfristig – so zumindest das Bestreben der Oststadtnachbarn – soll der Oststadttreff zu einem Stadtteilzentrum ausgebaut werden. Auch abseits ihrer Nachbarschafts-Mission begleiten die Oststadtnachbarn die Arbeiten und Aktionen des Quartier Zukunft sehr eng.

Ort der Partizipation

Als wesentlicher Kristallisationspunkt des Reallabors und zentrale Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Stadtgesellschaft dient der „Zukunftsraum für Nachhaltigkeit und Wissenschaft“, der im Juni 2015 in der Oststadt feierlich eröffnet wurde. Er ist Headquarter, Quartiersbüro, Wissenschaftsladen, Treffpunkt und Werkstatt für die Beteiligten aus Wissenschaft und Praxis und Forschungsbüro des Quartier Zukunft Teams. Hier finden Seminare, Workshops, Projekttreffen, Vorträge, Ausstellungen und auch der Quartier Zukunft Stammtisch statt, zudem werden Beratungsleistungen zu Energie (im Gebäudebereich) und Alltagsmobilität angeboten. Einige dieser Veranstaltungen werden vom Quartier Zukunft Team organisiert, aber ein immer größer werdender Anteil wird durch engagierte BürgerInnen selbst getragen. Beispielhaft erwähnt seien hier die wiederholten Kleidertauschparties sowie unabhängige Vortrags- und Diskussionsabende, z. B. „Utopien Leben“ der veganen Hochschulgruppe Karlsruhe.

Seit seiner Eröffnung wird der Zukunftsraum immer stärker Treffpunkt für aktive Bürgergruppen und Initiativen, welche sich Nachhaltiger Entwicklung in verschiedenen Bereichen verschrieben haben. Im Zukunftsraum hat sich der transdisziplinäre Experimentierraum des Reallabors verdichtet und materialisiert. Von hier aus können alle möglichen experimentellen „Testballons“ in die Oststadt starten. Im Zukunftsraum sind alle Stufen der Partizipation realisiert und verortet. Von vielfältigen Informationsangeboten (Stufe 1) und Möglichkeit des Austausches mit den Wissenschaftlern zu den regulären Öffnungszeiten (Stufe 2), über Kooperationsveranstaltungen wie gemeinsame Lehrveranstaltungen, kollaborative Projekttreffen (Stufe 3 und 4), bis zu Gruppen, die den Raum mit eigenen Ideen und Veranstaltungen bespielen (wie z. B. der „Kreativ Salon“ oder der „Oststadt-Treff“, Stufe 5). Der Zukunftsraum gibt der Transdisziplinarität und ernstgemeinten Partizipation des Reallabors einen stetig verfügbaren Ort, eine sichtbare Adresse, und mehr noch: ein Gesicht.

5     Partizipation im Reallaborkomplex – ein Zwischenfazit

Erfahrungen mit den Stufen der Partizipation

Betrachtet man die Vielzahl der oben beschriebenen Partizipationsformate, so lässt sich die Vorstellung von Partizipation als Stufen der Intensität im Reallabor durchaus nachzeichnen. Auch zeitlich lässt sich im Partizipationskontinuum die zeitliche Tendenz von niederstufiger zu höherstufiger Partizipation erkennen (Abb. 2). Dabei muss eine vielfältige, langfristige Partizipation aber nicht mehr unbedingt der Logik der Partizipationsstufen (Abb. 1) als strikte Abfolge folgen. Stufenkombinationen und -sprünge sind möglich.

Mit den Intensitätsstufen der Partizipation wurden darüber hinaus folgende Erfahrungen gemacht:

  1. Information ist stetig zu betreiben, auch als transparente Kommunikation über die Projektarbeit (Information zweiter Ordnung).
  2. Konsultation weckt unweigerlich Erwartungen seitens der Konsultierten, die z. T. den entsprechenden Partizipationsprozess weit übersteigen.
  3. Kooperation kann vielgestaltig realisiert werden, von einer stark hierarchischen bis zu einer engen, partnerschaftlichen Zusammenarbeit.
  4. Kollaboration ist schwer vereinbar mit dem Anspruch wissenschaftlicher Neutralität.
  5. Empowerment ist für die Initiatoren eine Übung im Loslassen.
Mitmachen statt nur Mitentscheiden

Mit dem im Reallabor gesetzten Partizipations-Fokus auf „Machen“ („mit-machen“, „selber-machen“) erhält Partizipation auch eine andere Qualität. Wie in Abb. 1 ersichtlich, geht es nach Brinkmann bei Partizipation vor allem um Entscheiden und „Entscheidungsmacht“. Das im Quartier Zukunft investierte Partizipationsverständnis geht mit dem Ziel der Ermächtigung im Handeln darüber hinaus. Teilhabe drückt sich auch im Handeln aus. Dies ist nicht trivial, hat starken Einfluss auf die Ausrichtung und Ausgestaltung der Partizipationsprozesse und -formate. So geht es neben dem Mit- und Selber-Entscheiden der Partizipierenden beispielsweise auch um Kompetenzerwerb und Kompetenzaufbau – im Sinne von Bildung –, um eine Ermächtigung zum Handeln, auch zum politischen Handeln im weiten Sinne. Aktivierung, Netzwerkbildung, Kommunikation, Zugang zu Machtstrukturen sind ebenfalls Elemente eines (politischen) Empowerments.[8] Und letztlich geht es zentral auch um die tatsächliche Umsetzung, um das Machen: eine Nachhaltigkeitstransformation nicht nur entwerfen und entscheiden, sondern eben auch (selbst) umsetzen, konkret verwirklichen, ausprobieren und leben.

Partizipation gestalten

Gerade bei einer langfristigen Beteiligung kommt es unseren Erfahrungen nach darauf an, Information und Konsultation – wie auch die anderen Intensitätsstufen – weniger technisch formal als vielmehr dialogisch, als (informellen) Austausch zu gestalten, und so eine Nahbeziehung und Vertrautheit zu schaffen. Um Personen längerfristig zu beteiligen, muss man sie als ganze Personen wahr- und ernstnehmen, und nicht nur als Informationssenke oder Meinungsquelle.

Möchte man Partizipationsprozesse oder -veranstaltungen ex post bewerten oder auch ex ante planen, so sollte man bezüglich der anvisierten Intensität (Stufen) der Partizipation den Unterschied zwischen Haupt- und Nebenstufen (Abb. 2) sowie intendierter und nicht intendierter und dennoch erfolgter Intensität beachten. Wie dargelegt, können Veranstaltungen entweder auf mehrere Stufen abzielen oder aber vordringlich eine Stufe ansprechen, z. B. informieren, dabei aber immer noch Möglichkeiten oder Gelegenheiten für weiterreichende Partizipationsstufen (als Nebenziele) einräumen. Oft lassen sich mit der Gestaltung von partizipativen Prozessen und Veranstaltungen auch nur die Bedingungen der Möglichkeit von Partizipation herstellen. Mitunter geht es dann in der konkreten Veranstaltungssituation auch darum, andersartige Beteiligung – ggf. entgegen dem geplanten Format – zuzulassen.

Partizipation passiert – und lässt sich nicht beliebig herstellen. Zumindest auf dem langen, thematisch breiten und weitgehend ergebnisoffenen Weg der Partizipation an nachhaltiger Entwicklung emergiert und entwickelt sich Partizipation, schließen sich Akteure (ungeplant) zusammen, kommen neue Themen und Ziele auf, werden andere Wege und Formate gewählt. Hier ist organisatorische Flexibilität gefragt – und feste Orientierung an den Leitplanken der Nachhaltigkeit, um Partizipation vor der Beliebigkeit zu bewahren. Die Realisierung gelingender, langfristiger Partizipation ist diesbezüglich vielmehr Kunst als Technik, bzw. eine Mischung aus realistischer Planung und Improvisation. Dabei sind Blick und Gespür für das Menschliche gefragt (was nicht immer die Stärken von WissenschaftlerInnen sein mögen). Bei Beteiligungsprozessen und -formaten sind die kleinen, feinen Dinge des Settings ebenso wichtig und einflussreich wie Zielsetzung und Agenda.

Reallabore als Orte langfristiger Transformation

Reallabore sind transformativ ausgerichtet, wirken gestaltend, möchten verändern. Diesem „Willen zur Gestaltung“, zur Transformation, sollte auch in der Partizipation Ausdruck verliehen werden. Partizipation im Reallabor sollte dementsprechend nicht nur auf Mit-Entscheiden, sondern auch auf Mit-Machen ausgerichtet sein. Damit kommen Bildung und insbesondere Kompetenzvermittlung eine zentrale Rolle in der Reallaborarbeit zu.

Reallabore sind ihrer Potenz nach als langfristige, transdisziplinäre Infrastruktur gedacht (Parodi et al. in diesem Heft). Das ermöglicht ihnen eine Verstetigung von Partizipation im Kontext wissenschaftlich transdisziplinärer Unternehmungen in bislang ungekanntem Ausmaß. Reallabore bieten somit die Chance, Partizipation nicht nur interventionistisch zu verwirklichen, sondern auch als dauerhaften, viele Jahre bis Jahrzehnte umfassenden Gesamtprozess, als Partizipationskontinuum zu realisieren und erforschen. Geht man davon aus, dass die „große Transformation“ (WBGU 2011) ein langwieriger Prozess ist, der Schwenk Richtung Nachhaltigkeit nicht in wenigen Monaten oder Jahren vollzogen sein wird, so wäre die Einrichtung dauerhafter Reallabore, in denen langfristige Prozesse und Formate zur Transformation angestoßen und erforscht werden können, sowohl für die transformative Wissenschaftslandschaft als auch für Bürgerschaft und Gesellschaft eine lohnenswerte institutionelle Neuerung.

Anmerkungen

[1] Im Folgenden wird der Reallaborkomplex, bestehend aus Quartier Zukunft (http://www.quartierzukunft.de) und Reallabor 131 (http://www.itas.kit.edu/num_lp_paro15_qzrealab.php), zur besseren Lesbarkeit vereinfacht als „Reallabor“ und „Quartier Zukunft“ bezeichnet.

[2] http://quartierzukunft.de/buergerforum-nachhaltige-oststadt-startet/

[3] http://tinyurl.com/Buergergutachten-Oststadt

[4] Hier z. B. zeigt sich deutlich die Erweiterung des Partizipationsverständnisses vom reinen Entscheiden zum Entscheiden und Handeln.

[5] „Gemeinwohlökonomie in Karlsruhe“ (transdisziplinäres Projektseminar); http://www.mensch-und-technik.kit.edu/648.php

[6] Ein ausführliches Handbuch zur Durchführung des Formates ist verfügbar unter: http://tinyurl.com/buergerforum-handbuch

[7] http://oststadt-nachbarschaft-ka.blogspot.de/

[8] Diese Ermächtigung zum politischen Handeln Richtung Nachhaltigkeit erfolgt im Quartier Zukunft bewusst unabhängig und abseits der parteipolitischen Landschaft, tangiert diese aber unvermeidlich.

Literatur

Arnstein, S.R., 1969: A Ladder of Citizen Participation, In: Journal of the American Institute of Planners 35/4 (1969), S. 216–224

Banse, G., Parodi, O., Nelson, G. (Hg.), 2011: Sustainable Development – The Cultural Perspective. Concepts – Aspects – Examples. Berlin

Brinkmann, C., Bergmann, M., Huang-Lachmann, J.-T. et al., 2015: Zur Integration von Wissenschaft und Praxis als Forschungsmodus – Ein Literaturüberblick. Hamburg

Hongler, H.-P., Kunz, M., Prelicz-Huber, K. et al., 2008: Mitreden – Mitgestalten – Mitentscheiden: Ein Reiseführer für partizipative Stadt-, Gemeinde- und Quartierentwicklung. Luzern

Kopfmüller, J., Brandl, V., Jörissen, J. et al., 2001: Nachhaltige Entwicklung integrativ betrachtet. Konstitutive Elemente, Regeln, Indikatoren. Berlin

Parodi, O., 2011: Quartier Zukunft – Labor Stadt. Projekt des KIT-Zukunftskonzepts; http://www.itas.kit.edu/num_lp_paro11_quazu.php. (download 10.11.16)

Parodi, O.; Albiez, M.; Meyer-Soylu, S. et al., 2016a: Das „Quartier Zukunft Labor Stadt“: ein reales Reallabor. In: Hahne, U.; Kegler, H. (Hg.): Resilienz. Stadt und Region – Reallabore der resilienzorientierten Transformation. Frankfurt a. M., S. 101–125

Parodi, O.; Albiez, M.; Beecroft, R. et al., 2016b: Das Konzept „Reallabor“ schärfen. Ein Zwischenruf des Reallabor 131: KIT findet Stadt. In: GAIA 25/3 (2016) (im Erscheinen)

Parodi, O.; Quint, A.; Seebacher, A., 2015: Große Pläne, kleine Schritte. Die nachhaltige Stadtentwicklung des „Quartier Zukunft“, In: Die Planerin 2 (2015), S. 26–28

Schneidewind, U., 2014: Urbane Reallabore – ein Blick in die aktuelle Forschungswerkstatt, In: pnd - online 2014/3 (2014), S. 1–7

Seebacher, A.; Albiez, M.; Parodi, O. et al., 2014: Wie Nachhaltigkeit möglich ist. Ein Leporello. Karlsruhe

Selle, K., 2013: Über Bürgerbeteiligung hinaus – Stadtentwicklung als Gemeinschaftsaufgabe? Analysen und Konzepte. Detmold

Stauffacher, M.; Flüeler, T.; Krütli, P. et al., 2008: Analytic and Dynamic Approach to Collaboration, In: Systemic Practice and Action Research 21/6 (2008), S. 409–422

Wagner, F.; Grunwald, A., 2015: Reallabore als Forschungs- und Transformationsinstrument, In: GAIA 24/1 (2015), S. 26–31

WBGU – Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (Hg.), 2011: Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation (Hauptgutachten). Berlin

Kontakt

Sarah Meyer-Soylu
Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS)
Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
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