Das Politische in der Technikfolgenabschätzung

Reflexionen mit der pluralen, radikalen Demokratietheorie von Laclau und Mouffe

Julia Valeska Schröder, Goethe Universität Frankfurt am Main (jschroder@posteo.de)

Die normative Assoziierung von Technikfolgenabschätzung (TA) mit der Habermas’schen deliberativen Demokratietheorie ist weit verbreitet; eine tiefere Auseinandersetzung mit alternativen Demokratieverständnissen bleibt allerdings weitestgehend aus. Daher regt dieser Beitrag eine grundsätzliche Debatte über die demokratietheoretische Einbettung der TA und ihr Verhältnis zum Politischen an. Aufbauend auf der u. a. in dieser Zeitschrift geführten Diskussion über die (Un)Möglichkeit normativer Neutralität in der TA wird eine weiterführende Kritik am Anspruch der TA auf normative Fundierung hergeleitet. Mit der pluralen und radikalen Demokratietheorie von Laclau und Mouffe werden gesellschaftstheoretische Annahmen der an deliberativer Demokratie orientierten TA hinterfragt, und es wird für eine Politisierung und Pluralisierung der TA argumentiert.

The political in TA

Reflections based on Laclau and Mouffe’s plural and radical democracy theory

The normative association of technology assessment (TA) with Habermas’s deliberative democracy theory is widespread. However, there is hardly any debate on alternative concepts of democracy. This contribution, therefore, aims to stimulate debate on TA’s relation to democracy theory and to the political. Building on the discussion about the (im)possibility of normative neutrality in TA – published, among others, in this journal –, a more fundamental critique of TA’s normative foundation will be put forward. Based on Laclau and Mouffe’s plural and radical democracy theory, this contribution questions the social theoretical assumptions of a TA oriented toward deliberation and argues for a politicization and pluralization of TA.

Keywords: TA theory, post-democracy, normativity in TA, radical democracy, the political

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TATuP Bd. 28 Nr. 3 (2019), S. 62–67, https://doi.org/10.14512/tatup.28.3.62

Submitted: 22. 05. 2019. Peer reviewed. Accepted: 01. 10. 2019

Einleitung

Trotz der für die Technikfolgenabschätzung (TA) historisch leitenden Devise, Neutralität sei „Voraussetzung für eine unabhängige Politikberatung“ (Nierling und Torgersen 2019, S. 11) und trotz der etablierten Vermeidung des „Anschein[s] von Parteilichkeit“ durch Abgrenzung zu Wertebezügen gerät zunehmend eine normativ informierte TA ins Blickfeld (ebd.). Die Neutralitätsbekundung wird in jüngster Zeit als „legitimierender Mythos“ der TA (Delvenne und Parotte 2018; Torgersen 2018a) kritisiert, die „Nicht-Trennbarkeit von Fakten und Normen“ (Kollek 2019, S. 16) und damit einhergehend die Normativität als „verborgene vierte Dimension der TA“ (Torgersen 2018b, S. 21) anerkannt. Eine kritische Betrachtung dieses „blinden Flecks“ (ebd.) solle „nicht nur die normative Prägung der TA zur Kenntnis nehmen, sondern gleichzeitig Wege für die Entwicklung neuer Zugänge zum Umgang mit normativen Prämissen und Prägungen eröffnen“ (Kollek 2019, S. 16). Damit verbunden sei die systematische Auseinandersetzung mit den politisch-philosophischen Grundlagen der TA (Grunwald 2018), sowie die „Aufrechterhaltung der demokratietheoretischen Intention der TA“ durch die „ständige […] Unterstützung aus der normativen Theorie heraus“ (Grunwald 2010, S. 303).

Die Behauptungen, dass „[d]as Ausbleiben der Normativitätsfrage […] solange wenig problematisch [war,] wie Demokratie, Gewaltenteilung und eine Art sozialverträgliche Technikgestaltung über Parteigrenzen hinweg als selbstverständlich galten“ und dass der „Konsens […] angesichts populistisch-autoritärer Tendenzen in Politik und Gesellschaft heute gefährdet“ erscheint (Nierling und Torgersen 2019, S. 11), illustrieren jedoch nicht nur die Umstände, die die Auseinandersetzung mit Normativität an Relevanz gewinnen lässt. Äußerungen wie diese weisen auch auf ein problematisches und verbreitetes Fehlen einer Sensibilität für konfligierende Alternativen und normative Orientierungspunkte hin, die sich auch in Zeiten vor dem populistischen Rechtsruck nicht unter „Konsens“ und „Selbstverständlichkeit“ subsumieren ließen. Eine kritische Betrachtungsweise der TA müsste hingegen den „selbstzufriedenen Zustand der liberalen Demokratien“ (Nonhoff 2013, S. 315) und die diesbezüglich oft indifferente oder affirmierende Haltung der in ihr agierenden Institutionen, also das „post-demokratische“ Moment, miteinbeziehen und hinterfragen. Dies müsste bedeuten, sich mit der nicht hinreichenden Berücksichtigung des Politischen, also mit dem „unabstellbaren Spiel konkurrierender Gründungsversuche“ (Marchart 2012, S. 16), d. h. mit radikaler Pluralität und der Polarisierung in Alternativen, zu beschäftigen.

Der Ausgangspunkt dieses Artikels ist demnach die These, dass die Diagnose der „post-demokratischen“ Verunmöglichung des Politischen die Selbstverständigung der TA betrifft und ein Hinterfragen bezüglich der etablierten gesellschaftstheoretischen, normativen Einbettung von TA herausfordert. Laclaus und Mouffes „Hegemonie und radikale Demokratie“ (2006) werde ich als Inspirationsquelle für theoretische Aufmerksamkeit gegenüber einer „post-demokratischen“ Problemlage (Mouffe 2011) und Problemkonfrontation nutzen, um anzuregen, dass TA-theoretische Reflexionen durch Abgrenzung von Neutralität einerseits, sowie von normativer Festschreibung andererseits das Politische als konstruktive Kraft anerkennen können.

Das normative Fundament der TA?

Habermas’ deliberative Demokratietheorie (Habermas 1990, 1992, 1998) ist ein wichtiger Bezugspunkt in normativen Erwägungen der TA (u. a. Grunwald 2018; Schomberg 2013). Deliberation kann verstanden werden als ein diskursiver Prozess, in dem „views or opinions diverge but a solution (finding common ground, the truth, developing a proposal etc.) is sought by non-coercive and non-manipulative means“ (Rucht 2012 zitiert in Mbah 2017, S. 27). Sehr deutlich identifiziert Grunwald (2018) Deliberation als normatives Prinzip der TA, da diese sich „inklusiv, transparent, argumentationsgeleitet und reflektiert mit Technikfolgen befasst“ (S. 43). Indem TA der Demokratie verpflichtet sei, gewinne nach Grunwald Deliberation in TA-Prozessen eine besondere politische Relevanz: „TA has a normative fundament in favor of – in particular deliberative – democracy“ (Delvenne et al. 2019, S. 71). Diese Ausrichtung der TA an Deliberation und Demokratie richtet sich gegen Technokratisierung und rückt Inklusion, d. h. die Beteiligung einer breiten Öffentlichkeit, gegenüber der alleinigen Kommunikation zwischen Wissenschaft und Politik in den Vordergrund (Mbah 2017). „Das konsensorientierte Modell der herrschaftsfreien und von der Kraft der besseren Argumente geleiteten Kommunikation“ wird auch in der TA oft als leitendes Ideal konzipiert, „um nicht-idealen Widrigkeiten realer sozialer Strukturen und Prozesse“ (Westphal 2014, S. 314) zu begegnen. Während Herrschaftsfreiheit als Maßstab idealer Kommunikation, die für das Habermas’sche Modell wesentlich ist, in der Kommunikationspraxis und auch im TA-Kontext schwer zu erfüllen sei, solle ideale Deliberation trotzdem einen normativen Imperativ und ein starkes Fundament für die TA darstellen (Grunwald 2018). Es gehe hierbei, so Grunwald, nicht darum, Konflikt als defizitär abzutun, sondern Konsens vielmehr philosophisch als eine „kind of regulative idea or counterfactual utopia“ (Delvenne et al. 2019, S. 73) zu sehen.

Die Technikfolgenabschätzung ist herausgefordert, ihre normativen Einbettungen zu hinterfragen.

Allerdings zeichnen sich in der Normativitätsdebatte in kritischer Abgrenzung zur verbreiteten deliberative Rhetorik auch Ansätze eines alternativen Referenzrahmens ab: Besonders Delvenne und Parotte (2018) rücken das Gegen-Hegemoniale und die Politik der TA in den Vordergrund, indem sie Chantal Mouffes „pluralen Agonismus“ als methodischen Ansatz für eine konfliktfähig-demokratische, wissensbasierte TA fruchtbar machen. Auch die „TA der Alternativen“ (Dobroc et al. 2018) konfrontiert die Schwachstellen einer TA, in der der technisch-wissenschaftliche Fokus und das Verständnis von Politik als Verwaltung hinter das politische Element von sozio-technischen Zusammenhängen zurücktreten.

„Post-Demokratie“ und TA-theoretische Reflexionen

Die „Post-Demokratie“-These bietet einen zugänglichen Ansatzpunkt für eine selbstkritische Auseinandersetzung in Bezug auf das Politische einer TA mit deliberationstheoretischem Fundament, indem sie das Verschwinden des Politischen und die Substitution einer demokratischen Gesellschaftsordnung durch lose ökonomisierte, verrechtlichte und rationalisierte Beziehungen diagnostiziert. Während der Begriff der „Post-Demokratie“ von den jeweiligen Autoren sehr verschieden besetzt wird (u. a. Rancière 2002; Crouch 2004), ist die allgemeine Stoßrichtung eine Kritik an der gegenwärtigen liberalen Demokratie, die sich über „korporatistische Arrangements“ (Buchstein et al. 2006) und Expert_Inneninstitutionen organisiert, sowie von Managerialisierung, Verwissenschaftlichung, Kommerzialisierung und Optimierung von Lebens- und Politikbereichen geprägt ist (Mouffe 2011). „Post-Demokratie“ zeichnet sich durch die Abwesenheit von öffentlich ausgetragenem Widerstreit und einen maßgebenden, vermeintlichen politischen Konsens aus. Sie kann als Durchbruch einer bloß formellen Demokratie (Crouch 2004), als eine Demokratie ohne Demos und Utopie (Blühdorn 2013) oder als Technokratie bezeichnet werden (Rancière 2002). Das Politische, als der Mechanismus, der bestehende Ordnungen aufzubrechen vermag (ebd.), ist in der „Post-Demokratie“ als Kernelement des demokratischen Grundgedankens ausgeklammert; paradigmatisch sind vermeintliche Alternativlosigkeit und eine privatistische Mentalität (Mouffe 2011).

Deliberation ist aus radikal-demokratischer Perspektive Ausdruck eines zu engen Verständnisses des Politischen.

Fernab des zuweilen nostalgischen Untertons der „Post-Demokratie“-These soll es hier darum gehen, sie als Warnung vor bestimmten Tendenzen in der gegenwärtigen Gesellschaft ernst zu nehmen. Sie richtet die Aufmerksamkeit auf eine im TA-Diskurs bislang marginale Auseinandersetzung mit der Kritik am institutionellen Design der liberalen Demokratie, das nicht nur „post-demokratische Tendenzen“ hervorrufe, sondern auch „eine Myriade von Exklusionen und Ungleichheiten“ (Nonhoff 2013, S. 315). TA muss innerhalb dieses institutionellen Designs als wissenschaftliche Politikberatung und Technikfolgenabschätzung agieren und muss sich somit auch zu der genannten Problematik verhalten. Es gilt auszuloten, ob das Problem der systematischen Ausblendung des kontingenten und vor allem konfliktuellen Charakters von Gesellschaft und Demokratie überhaupt (Marchart 2012), schärfer als durch die deliberative Demokratietheorie, durch die radikale, plurale Demokratietheorie von Laclau und Mouffe als überwindungswürdige Entpolitisierung aufgezeigt werden kann.

Radikale Kritik an deliberativer Demokratietheorie

Trotz ihrer verbreiteten Anerkennung haben die gravierenden Probleme der liberalen Demokratie (Laclau und Mouffe 2006; Mouffe 2011) schwerwiegende Einwände gegen die deliberative Demokratietheorie mit hervorgebracht: Ihre Kritiker_Innen zeichnen das – in seiner Zuspitzung womöglich etwas verzerrte – Bild der Deliberationstheorie als Konsenstheorie, als sozial-romantische Gesellschaftstheorie mit idealen und idealisierten Voraussetzungen, die auf das Ziel einer friedlich deliberierenden und schließlich einmütigen Gesellschaft nicht verzichten möchte (u. a. Laclau und Mouffe 2006; Mouffe 2011). Im Folgenden will ich versuchen, die Konsens-Vorwürfe als provokantes, kritisches Potenzial für TA-theoretische Reflexionen nutzbar zu machen. Es ist in jedem Falle diskussionswürdig, ob bei Habermas der Konsens-Begriff, der durchaus in seiner Bedeutung variiert und in seinem späteren Werk durch andere Begriffe wie z. B. ‚Einverständnis‘ ersetzt wird (Melchior 1992), philosophisch oder soziologisch, empirisch oder moralisch verstanden werden muss. Ich schließe mich in diesem Artikel einem Diskursstrang an, der Deliberation als praktische Methode der Erzielung eines Einverständnisses und in seiner allgemeinen normativen Funktion eine „konsenstheoretische […] Ausrichtung deliberativer Annährungen“ (Flügel-Martinsen 2013, S. 333) sieht.

Deliberation als idealistisches und konsensausgerichtetes normatives Konzept ist aus radikal-demokratischer Perspektive Ausdruck eines zu engen Verständnisses des Politischen (Laclau und Mouffe 2006). „Demokratie [ist] konstitutiv auf Konflikte angewiesen, die deliberative Verfahren, die auf Konsensannahmen aufruhen, auszublenden tendieren“ (Flügel-Martinsen 2013, S. 333). Bereits die Möglichkeit einer legitimen Einigung oder gar eines unerzwungenen Konsenses als Ergebnis einer mit rationalen Argumenten debattierenden Öffentlichkeit ist nach Laclau und Mouffe zu bezweifeln. Ihr Vorwurf richtet sich nicht einfach gegen die Projektion eines Ideals, an dem sich die Wirklichkeit messen muss (wie Grunwald die Kritik auffasst; Delvenne et al. 2019), sondern gegen die Verklärung dieses Ideals (Clarke und Foweraker 2001). Diskurse können nie auch nur als annähernd herrschaftsfrei gelten; sie sind immer selbst eine Form von Macht und Disziplinierung und gehen demzufolge notwendigerweise mit Ausschlüssen einher (Alcantara et al. 2016). In der Betonung des universalistischen Charakters von vernunftgeleiteter Argumentation besteht ein Grundzug der Deliberationstheorie (Flügel-Martinsen 2013, S. 334). Macht, das Irrationale, Emotionale und Regelabweichungen können allerdings nicht vom Sozialen abstrahiert werden; sie sind notwendigerweise Teil des Gesellschaftlichen und müssten deswegen auch als notwendige Bestandteile anerkannt und offengelegt werden (Laclau und Mouffe 2006). Das „Miteinandersprechen […] nach Maßgabe rational verbindlicher Diskussion“ dient aber zuletzt immer noch einer einseitig ausgerichteten „Aufklärung eines wissenschaftlich instrumentierten politischen Willens“ (Habermas 1968 zitiert in Grunwald 2010, S. 57), die in ihrer historisch-spezifischen Form mit einem undemokratischen Paternalismus durchsetzt ist. Eine stark geregelte Kommunikationsform als universellen Standard und die Identifizierung von Rationalität mit argumentativer Kommunizierbarkeit schließt nicht-anerkannte Subjektivitäten, andersartige Formen des politischen Ausdrucks und Lebens aus der Öffentlichkeit und demnach aus der demokratischen Gesellschaft aus (Sigglow 2012). „Die gesamte Plausibilität von Habermas‘ prozeduralem Lösungsvorschlag deliberativer Verfahren zehrt von der angenommenen Universalität der argumentativen Struktur des Gründegebens und des Gründenehmens. Es muss ein vor-diskursiver Konsens erstens über diese Spielregeln herrschen und zweitens darüber, dass auf verallgemeinerbare Gründe überhaupt zugegriffen werden kann“ (Flügel-Martinsen 2013, S. 336). Somit „invisibilisiert der Universalismus der Diskurstheorie lediglich seine partikulare Herkunft“ (Taylor 1996 zitiert in Flügel-Martinsen 2013, S. 337), unterbinde damit wirklichen Pluralismus und verenge den Raum des Politischen (Laclau und Mouffe 2006).

Das Konflikthafte als unvermeidbare, aber auch positive, demokratische Kraft wird auch in der TA tendenziell abgewertet, indem z. B. von Grunwald von genereller Einigkeit als Utopie und „real consensus“ als „only way to completely avoid violence“ gesprochen wird (Delvenne et al. 2019, S. 73). Die Kritik an Deliberation als normatives Ideal trägt dazu bei, dass eine tiefgreifendere Sensibilität gegenüber dem Politischen und der Gefahr der politischen Engführung einer vorschnellen Legitimation durch Deliberation (Hebestreit 2013) geschaffen wird. Diesem Perspektivwechsel gilt es, in theoretischen TA-Debatten mehr Aufmerksamkeit zu schenken, ohne vorschnell sein kritisches Potenzial zu ignorieren und ihn als „widespread misunderstanding in the political sciences“ (Delvenne et al. 2019, S. 73) abzutun.

Radikale Demokratietheorie: Politisierung und Haltung ohne Fundament

Der radikal-demokratische Ansatz ist bemüht, eine politische (Un-)Ordnung zu denken, die durch ihre inhärente Offenheit eine fortlaufende Politisierung und Pluralisierung ermöglicht und eine normalisierende und naturalisierende Festschreibung umgeht. Das Politische ist offen und nicht sinnfixiert (überdeterminiert): ein hochdynamischer, nicht totalisierbarer Raum, in dem jede positive Bestimmung metaphorisch bleibt. Für Laclau und Mouffe folgt aus der Kontingenz des Sozialen kein gleichgültiger Relativismus. Radikale Demokratietheorie ruht sich nicht auf einem Anti-Fundationalismus des „anything goes“ aus, übt sich also in keinem radikalen Verzicht normativer Grundannahmen, sondern versteht sich als post-fundationalistische Theoriebildung als Auseinandersetzung mit emanzipatorischen Zielsetzungen (Hebekus und Völker 2012). Die Unmöglichkeit eines universalen Grundes eliminiert für Laclau und Mouffe nicht seine Notwendigkeit (Flügel et al. 2004). Die Festlegung von (wünschenswerten) gesellschaftlichen Entwicklungen kann allerdings immer nur vorläufig sein und ist als eine Art strategischer Universalismus zu verstehen, der nicht unterdrücken kann, aber vereinen soll. Das Gesellschaftliche kann also allein durch seine Offenheit und Dynamik charakterisiert werden, während das Politische dabei „der unaufhörliche und letztlich stets scheiternde Versuch, das Grundlose mit einem Grund auszustatten“ ist (Hebekus und Völker 2012, S. 37). Das Politische geht mit einem Ethos der Pluralisierung einher. Durch Politisierung werden internalisierte, festgeschriebene Strukturen verfremdet, das Normalisierte hinterfragt und zugunsten des Ausgeschlossenen wieder aufgebrochen (Clarke und Foweraker 2001). Durch die „pluralist appreciation of established diversity into an active cultivation of difference“ (Connolly zitiert in Clarke und Foweraker 2001, S. 728) grenzt sich dieser Pluralismus von dem liberalen Pluralismus der deliberativen Demokratietheorie ab. Denn letzterer versteht sich als „procedural solution to deal with differences“ (ebd., S. 728), schiebt das Plurale ins Private ab, und will damit tendenziell Unterschiede überwinden oder marginalisieren.

Mehr Politisierung wagen

Im Kontrast zur deliberativen Demokratietheorie betont die radikale Demokratietheorie eine positive Deutung der grundlegenden sozialen Konflikthaftigkeit und ist somit in der Lage, das Risiko „post-demokratischer“ Verwicklungen, Entpolitisierungen und Homogenisierungen zu konfrontieren. Zudem macht die Verbindung von Dekonstruktion und emanzipatorischer Strategie – also einerseits Dynamik und Offenheit, und andererseits die Möglichkeit und sogar der Aufruf zur Position – die radikale Demokratietheorie zu einer vielversprechenden Inspirationsquelle für die TA. Die mit „Post-Demokratie“ konfrontierte TA könnte durch die konkrete radikal-demokratische Kritik das vorschnelle Konstatieren einer Befriedigung demokratischer Ansprüche vermeiden. So könnte der auch in der TA zunehmend ausgetragene Konflikt zwischen Wertorientierung und politischer Verengung, Profilstärke und wissenschaftlicher Seriosität zwar nicht aufgelöst, aber ansatzweise anerkannt und produktiv gewendet werden.

Dekonstruktion und emanzipatorische Strategie in der radikalen Demokratietheorie bieten eine Inspirationsquelle für die Technikfolgenabschätzung.

Während es einerseits darum gehen müsste, „[TA’s] political indentities“ explizit zu machen und eine „politics of TA“ zu erfinden (Delvenne und Parotte 2018, S. 65), müsste dies gleichzeitig auch bedeuten, eine Öffnung und eben keine Festschreibung der TA voranzutreiben. Mehr Politisierung wagen bedeutet, Diskriminierungen und Marginalisierungen nicht zu festigen, sondern zu bekämpfen, zu irritieren anstatt zu affirmieren, zu öffnen und dynamisieren anstatt festzuschreiben und zu konservieren, fruchtbaren Dissens gegenüber machtdurchdrungenem „Konsens“ zu fördern und das Ethos der Pluralisierung ohne impotenten Relativismus, ohne Verengung, Unumstrittenheit und Bruchlosigkeit hochzuhalten. Dies würde z. B. bedeuten, Normativität, wie Delvenne es tut, als „political normativities“ zu verstehen (Delvenne et al. 2019, S. 73) und somit den umkämpften Charakter und die dynamische, strategische Bedeutung normativ-ethischer Setzungen ins Zentrum zu rücken. Denn die alleinige Hervorhebung von Normorientierung birgt die Gefahr moralischer Vereinnahmung und Lähmung der erwünschten Störfunktion des Politischen, denn „Ethik formuliert eine Bestimmung zur Politik, ohne Politik zu bestimmen“ (Hoppe 2017, S. 23). Der Aufruf zur Offenheit bedeutet einerseits, dass Rahmungen ethischer Normativität das immer existierende Ausgeschlossene einbeziehen und somit eine politische Unhintergehbarkeit normativer Fundamente vermeiden und einen herrschaftskritischen Horizont in ihre Perspektive integrieren sollten. Andererseits will er auch theoretisch dafür sensibilisieren, dass TA weder durch ihre vermeintliche Neutralität, noch durch ihre falsch verstandene Normativität zum „post-politischen Erfüllungsgehilfen“ (Böschen und Dewald 2018, S. 38) oder zum scheinbar unabhängigen, tatsächlich jedoch involvierten Beobachter einer anti-emanzipatorischen gesellschaftlichen Entwicklung wird.

Fazit: Radikale Institutionalisierung?

Das theoretische Hinterfragen etablierter normativer Positionen innerhalb der TA durch die gesellschaftstheoretischen Anregungen radikaler Demokratietheorie soll zu einer Politisierung der TA-Praxis beitragen. Eine Reflexion über mögliche „post-demokratische“ Mechanismen in TA-Institutionalisierungen kann zunächst für herrschaftskritische Positionen sensibilisieren und könnte schließlich idealerweise auch organisationstheoretische Konkretisierung des ambitionierten Vorhaben einer politisierenden, alternativen TA-Praxis anregen. Dafür ist die Frage, wie TA aus der Perspektive radikaler Demokratietheorie zu beurteilen ist, zentral. Wegen der institutionalisierten Beratung etablierter Institutionen bleibt TA weitgehend „auf das Funktionieren des institutionellen Gebiets staatlicher Organe beschränkt“ (Grunwald 2010, S. 56), und muss in der Funktion wissenschaftlicher Politikberatung als (wenn auch forschungsbasierte) Politik betrachtet werden. Politik als etabliertes Gefüge von Institutionen ist auf die Verwaltung sozialer Positivität begrenzt und darf deswegen nicht mit dem Politischen verwechselt werden, das sich durch seine Negativität, die über das Existierende hinausweist, auszeichnet (Hebekus und Völker 2012). Es ist daher zu fragen, ob die konkrete Institutionalisierung einer Art radikaldemokratischen TA sinnvoll zu konzeptualisieren wäre, ziehen doch die fundamentalen Postulate des Dissenses und der Offenheit „ebenso ein gewandeltes Verständnis der Institutionstheorie nach sich“ (Flügel-Martinsen 2013, S. 344).

Bei der Forderung, TA für das Politische zu öffnen, geht es zunächst um eine Haltung, die „in erster Linie in der kritischen Reflexion von Unterdrückungsverhältnissen und der Machtkritik“ und eben nicht mehr „in der dauerhaften und stabilen Befestigung institutioneller Arrangements besteht“ (Flügel-Martinsen 2013, S. 344). In einer theoretischen Weiterentwicklung des Selbstverständnisses der TA müsste es schließlich darum gehen, die „eigene Unabgeschlossenheit [zu] garantier[en] und eine gewisse Offenheit wie auch Irritierbarkeit auf Dauer [zu] stell[en]“ (Hoppe 2017, S. 19). Indem sozialen und politischen Konflikten eine Austragungsmöglichkeit gegeben und nicht eine liberal-diskursive Hegemonie bestätigt und perpetuiert wird (Flügel-Martinsen 2013), könnte TA sich dem Politischen gegenüber öffnen. „In Abwesenheit jeglicher Letztbegründung (wenn auch nicht von Gründen überhaupt) und eines hinreichend ausgeprägten Kontingenzbewusstseins öffnen sich Räume für andere Perspektiven, etwa auf das Ereignis oder das Politische, das keiner Grundlegungslogik unterworfen, sondern das auf den Konflikt und damit auf die anhaltende Infragestellung der gouvernementalen Praktiken und Institutionen gerichtet ist“ (Kreide 2013, S. 348). Dieser herrschaftskritische Impuls entstammt einer Theorierichtung, der die TA bislang skeptisch gegenübersteht. Sie könnte jedoch davon profitieren, wenn sie ihn tiefgehender in ihre theoretischen Reflexionen und in ihre Praxis einbeziehen würde.

Danksagung

Ich bedanke mich herzlich bei Bettina-Johanna Krings für ihre vielseitige Unterstützung. Auch die Kritiken der Reviewer haben diese Überlegungen bereichert, wofür ich mich bedanken möchte.

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Autorin

Julia Valeska Schröder

studiert mit dem Fokus neue kritische Theorie und feministische Technikphilosophie im Master Politische Theorie in Frankfurt am Main.