Reflexionen: Rezension

Überzogene Ansprüche?

Transdisziplinäre Forschung im Praxistest

Martina Ukowitz, Fakultät für Interdisziplinäre Forschung und Fortbildung, Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Sterneckstraße 15, 9020 Klagenfurt (martina.ukowitz@aau.at)

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TATuP Bd. 26 Nr. 1–2 (2017), S. 67–78, https://doi.org/10.14512/tatup.26.1-2.76

Defila, Rico; Di Giulio, Antonietta (Hg.) (2016): Transdisziplinär Forschen – zwischen Ideal und gelebter Praxis. Hotspots, Geschichten, Wirkungen. Frankfurt am Main: Campus Verlag, 344 S., 34,95 EUR, ISBN 9783593505565

„Transdiziplinär Forschen zwischen Ideal und gelebter Praxis“ – der Titel des von Rico Defila und Antoinetta Di Giulio herausgegebenen Bandes verweist auf dessen Programmatik. Es ist ein Plädoyer für eine lebendige und kreative Forschungspraxis in den manchmal durchaus schwierigen transdisziplinären Konstellationen. Der Zugang ist ein optimistischer. Varianten des Gelingens aufzuzeigen, steht im Vordergrund. Hinter der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ausgewählten Aspekten transdisziplinärer Forschungspraxis steht der Appell, hohe Qualitätsansprüche beizubehalten, zugleich aber das Potenzial transdisziplinärer Konstellationen realistisch einzuschätzen und ForscherInnen wie PraxispartnerInnen nicht zu überfordern.

Der Sammelband nimmt transdisziplinäre Forschung von drei Standpunkten aus in den Blick: Zunächst beschreiben ForscherInnen in Storytelling-Sequenzen die Prozesse sowie ihre persönlichen Erlebnisse in transdisziplinären Verbundprojekten zum Thema nachhaltiger Konsum.[1] Dann stellen die HerausgeberInnen ihre qualitative Studie über eines der Verbundprojekte vor.[2] Außerdem sind die LeserInnen eingeladen, an einer kollektiven Reflexion zu Forschungsprozessen, Methodologie und zur gesellschaftlichen Wirkung transdisziplinärer Forschung Anteil zu haben.[3] Der Sammelband endet mit einem Brief der HerausgeberInnen an transdisziplinäre ForscherInnen und FördergeberInnen.

Hotspots: Markante Situationen und Konstellationen in transdisziplinären Projekten

Einen interessanten Vorschlag zur aggregierenden Darstellung praktischer Forschungserfahrungen machen die AutorInnen mit der Formulierung von sogenannten Hotspots transdisziplinärer Kooperation. Auf Basis langjähriger Erfahrungen in transdisziplinären Projekten haben die AutorInnen in einem aufwändigen Reflexionsprozess „evidenzbasiert und dialogisch“ acht solcher Hotspots identifiziert. Unter Hotspots werden spezifische Ausgangslagen für die Kommunikation und Interaktion zwischen ForscherInnen und PraxisakteurInnen bzw. Kooperation prägende Konstellationen verstanden.[4] Diese Hotspots illustrieren markante Charakteristiken transdisziplinärer Projekte, welche spezifische Steuerungsmaßnahmen vonseiten der ForscherInnen erfordern. Die Darstellung enthält keine Handlungsoptionen mit Rezeptcharakter, es sind also weniger Good-Practice-Beispiele als vielmehr Beschreibungen von Situationen, die Chancen und Risiken beinhalten können: In Hotspot 5 schildern die AutorInnen beispielsweise, wie groß der Druck auf ForscherInnen werden kann, wenn PraxispartnerInnen hohe Erwartungen an praxisnahe Interventionen haben. Dies sei durchaus eine Chance, da Forschung schon während des Prozesses Wirkung erzeuge. Risiken bestünden aber darin, dass Zeit und Energie für wissenschaftliche Vertiefungen und Publikationen fehle. Letzteres könne besonders für NachwuchswissenschaftlerInnen zu einem ernsthaften Problem werden.[5]

Den AutorInnen geht es darum, transdisziplinär Forschende für typische Situationen in transdisziplinären Konstellationen zu sensibilisieren, um dann entsprechende Schritte vorschlagen zu können. Die Liste der Hotspots kann, wie die AutorInnen schreiben, je nach Erfahrungshintergrund durchaus anders aussehen. Allgemein geht es um Dynamiken in den beteiligten sozialen bzw. soziotechnischen Systemen, die organisationale Verfasstheit der Akteursgruppen sowie um Differenzen hinsichtlich der Wissensbestände, der Systemlogiken, der zeitlichen Rhythmen und der verschiedenartigen Zielsetzungen.

„Lehrbuchwissen“ und Forschungspraxis

Ein Gedanke, der an mehreren Stellen des Buches aufgegriffen wird, ist die von den HerausgeberInnen (durchaus kritisch) wahrgenommene Theorie-Praxis-Dichotomie. Dass Theorie und Praxis zwei Paar Schuhe sind, erleben transdisziplinär Forschende (aber nicht nur sie) in jedem Projekt. Mehr noch: diese Form der Forschung steht selbst für die Vermittlung zwischen den Sphären, für das Prozessieren von Theorie-Praxis-Verhältnissen.

Transdisziplinäre Forschung entwickelt sich seit den späten 1990er-Jahren aus einer intensiven Forschungs- und Interventionspraxis heraus, vor allem im Kontext der Nachhaltigkeitsforschung.

Hier werden freilich die „Innenverhältnisse“ fokussiert, und es geht um Selbstanwendung, wenn die AutorInnen bemerken, es werde anders über transdisziplinäre Forschung und deren Prinzipien geschrieben, als sie gelebt würden. Von den Konsequenzen betroffen sind die ForscherInnen, die durch überzogene Ansprüche in eine (Selbst-)Überforderung geraten, berührt ist aber auch die Frage der Ausbildung von wissenschaftlichem Nachwuchs. Transdisziplinäre Forschung nach Lehrbuch zu erlernen sei das Eine, sie dann zu praktizieren etwas ganz Anderes: „Und dann kam natürlich die reine Lehre mit der reinen Praxis zusammen“, lautet ein Interview-Zitat, „da sind dann die Funken geflogen“ (S. 263). Die Angebote, die in Handbüchern und Publikationen zu Modellen transdisziplinärer Forschung gemacht werden, sind aber auch nicht als klare Handlungsanweisungen oder „Rezepte“ zu verstehen. Sie sollen vielmehr Vorschläge zur Strukturierung von Prozessen bieten, die im Zuge der Entwicklung transdisziplinärer Forschung weiter ausgearbeitet werden (Pohl et al. 2006; Jahn et al. 2012; Klein et al. 2001; Dressel et al. 2014).

Welche Prinzipien transdisziplinärer Forschung sind wichtig und werden gleichzeitig der transdisziplinären Forschungspraxis gerecht (S. 281)? Dieses Grundanliegen des Sammelbandes gewinnt an Brisanz, wenn Prinzipien transdisziplinärer Forschung als Werte betrachtet und gemäß einer „Erfüllt/nicht erfüllt“-Logik in den transdisziplinären Projekten verwirklicht werden sollen. Wenn etwa Prinzipien lauten, PraxispartnerInnen möglichst früh einzubinden, den Nutzen für PraxispartnerInnen sicherzustellen oder Kooperation auf Augenhöhe zu verwirklichen (S. 199 ff., 209 ff., 263 ff.), dann sind das wichtige Leitlinien des Handelns. Es ist aber klar, dass diese Ziele immer in unterschiedlicher Form und in unterschiedlichem Ausmaß erreicht werden können. Dementsprechend sollten prozess- bzw. organisationsethische Zugänge im Vordergrund stehen, die Werte als regulative Ideen und Prozessbegriffe ansehen (Heintel 1999) und somit den auf den ForscherInnen lastenden Druck vermindern.

An dieser Stelle wäre eine weitere Auseinandersetzung mit der Bedeutung und dem Status von Prinzipien und mit Möglichkeiten ihrer Übersetzung in die Praxis des Forschungsalltags angebracht gewesen. Denn die Prinzipien-Werte-Diskussion führt noch auf eine grundlegende Frage zurück, der sich der Diskurs zu transdisziplinärer Forschung möglicherweise immer wieder stellen muss: Wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir transdisziplinäre Forschung sagen – ist es eine Methode, ein Paradigma, eine Forschungshaltung, ein forschungsethischer und metatheoretischer Zugang oder alles zugleich?

Methodische Reflexionen zwischen transdisziplinärer Praxis und Wissenschaftsforschung

In einem „Brief“ wenden sich die AutorInnen auch an die KollegInnen aus der Wissenschaftsforschung. Sie sprechen darin die wichtige Frage an, welchen Stellenwert methodologische Reflexion zukünftig im Diskurs zu transdisziplinärer Forschung haben werde und wer sich dafür zuständig fühle – sei das Sache der transdisziplinär Forschenden oder der VerteterInnen der Wissenschaftsforschung? Transdisziplinäre Forschung neueren Zuschnitts entwickelt sich etwa seit den späten 1990er-Jahren aus einer intensiven Forschungs- und Interventionspraxis heraus, vor allem im Kontext der Nachhaltigkeitsforschung (Brand 2000). Parallel zur Forschungspraxis begannen ForscherInnen mit methodologischen Ausarbeitungen, die heute bereits sehr weit gediehen sind. Der Umstand, dass es zunehmend mehr empirische Forschung über transdisziplinäre Forschung gibt, könnte in Richtung eines arbeitsteiligen Vorgehens weisen. Reflexive Prozessgestaltung und Methodengebrauch und entsprechende diskursive Aufarbeitung zeichnen transdisziplinär Forschende aus, und ich halte es für wichtig, diese Kompetenz auch weiterhin hochzuhalten und sich auf Basis der Praxiserfahrungen an der methodologischen Weiterentwicklung und einer wissenschaftstheoretischen Verortung transdisziplinärer Forschung zu beteiligen (Uckowitz 2017). Eine Bearbeitung der Themen in Kooperation mit (empirischer) Wissenschaftsforschung und Wissenschaftsphilosophie ist sicher von Vorteil, zu delegieren ist diese Arbeit aber keinesfalls.

Fazit

Das Buch ist eine Bereicherung für den Diskurs zu transdisziplinärer Forschung. Es ist wichtig, sich kontinuierlich mit der Forschungspraxis auseinanderzusetzen und aktuelle Befunde in die Scientific Community einzubringen, auch wenn die Themen nicht immer neu sind. Lesenswert erscheint mir das Buch für verschiedene AdressatInnengruppen: NachwuchswissenschaftlerInnen, FördergeberInnen und PraxispartnerInnen bekommen Einblicke, wie Prozesse im Forschungsalltag verlaufen und mit welchen Freuden und Herausforderungen die Beteiligten darin konfrontiert werden. Erfahrene ForscherInnen finden darin einen Resonanzboden eigener Erfahrungen und werden angeregt, die Zukunft transdisziplinärer Forschung weiterzudenken. Das Buch ist informativ, weil es neben den Erfahrungsberichten literaturbasierte Sequenzen zu Begriffserklärungen (transdisziplinäre Forschung, Formen von Begleitforschung, Storytelling) und zur Frage der gesellschaftlichen Wirkung von Forschung enthält. Dank des erfrischenden und persönlichen Schreibstils der AutorInnen ist es angenehm zu lesen.

Die Bedeutung des Bandes liegt vor allem in der umfassenden und genauen Auseinandersetzung mit der transdisziplinären Projektpraxis. Was nur angedeutet ist, aber letztlich nicht von der praxisbezogenen Ebene getrennt werden kann, sind die Hotspots im Zusammenhang mit wissenschaftlicher Forschung in transdisziplinären Projekten. Darin liegt genügend Stoff für weitere Auseinandersetzung. Dem Wunsch der HerausgeberInnen nach soll das Buch für die vielfältige Praxis transdisziplinären Forschens hilfreich sein und ermuntern, „transdisziplinäre Prozesse pragmatisch-kreativ anzugehen“. Das tut es in ausgezeichneter Wiese.

Fußnoten

[1] „Vom Wissen zum Handeln – Neue Wege zum nachhaltigen Konsum“ (BMBF Förderschwerpunkt Sozial-ökologische Forschung). S. Gölz über Herausforderungen im Forschungsverbund Intelliekon, in dem zur Akzeptanz von Smart Metern gearbeitet wurde, und C. Nemnich mit D. Fischer, die im Verbund BINK im Kontext von Bildungsinstitutionen und nachhaltigem Konsum gearbeitet haben.

[2] A. Di Giulio, R. Defila, T. Brückmann über eine qualitative Studie, die im Rahmen des Verbundprojekts durchgeführt wurde.

[3] R. Defila, A. Di Giulio, M. Schäfer zu Hotspots transdisziplinärer Forschung; A. Di Giulio zu Fallstudien und Storytelling; R. Kaufmann-Hayoz, R. Defila, A. Di Giulio, M. Winkelmann zur gesellschaftlichen Wirkung.

[4] Hotspot 7 lautet beispielsweise „Das Praxisfeld ist wenig strukturiert und ehrenamtlich organisiert“.

[5] R. Defila, A. Di Giulio, M. Schäfer: Hotspots der transdisziplinären Kooperation – Ausgangslagen von besonderer Bedeutung, S. 51 ff. und C. Nemrich, D. Fischer: Praxis essen Wissenschaft auf? Von den Gefahren des Gelingens einer transdisziplinären Zusammenarbeit, S. 182.

Literatur

Brand, Karl-Werner (Hg.) (2000): Nachhaltige Entwicklung und Transdisziplinarität. Berlin: Analytica.

Dressel, Gert; Berger, Wilhelm; Heimerl, Katharina; Winiwarter, Verena (Hg.) (2014): Interdisziplinär und transdisziplinär forschen. Praktiken und Methoden. Bielefeld: Transcript.

Heintel, Peter (1999): Wissenschaftsethik als rationaler Prozeß. In: Konrad Liessmann und Gerhard Weinberger (Hg.): Perspektive Europa. Modelle für das 21. Jahrhundert. Wien: Sonderzahl, S. 57–81.

Jahn, Thomas; Bergmann, Matthias; Keil, Florian (2012): Transdisciplinarity. Between Mainstreaming and Marginalization. In: Ecological Economics: The Transdisciplinary Journal of the International Society for Ecological Economics 79 (2012), S. 1–10.

Klein, Julie Thompson; Grossenbacher-Mansuy, Walter; Häberli, Rudolf; Bill, Alain; Scholz, Roland W.; Welti, Myrtha (2001): Transdisciplinarity. Joint Problem Solving among Science, Technology, and Society. An Effective Way for Managing Complexity. Basel: Birkhauser.

Pohl, Christian; Hirsch-Hadorn, Gertrude (2006): Gestaltungsprinzipien für die transdisziplinäre Forschung. München: oekom.

Uckowitz, Martina (2017): Transdisziplinäre Forschung in Reallaboren. Ein Plädoyer für Einheit in der Vielfalt. In: GAIA 26/1 (2017), S. 9–12.