Forschung

Die digitale Selbstvermessung in Lifestyle und Medizin

Eine Studie zur Technikfolgenabschätzung

Mandy Scheermesser, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Departement Gesundheit, Forschung und Entwicklung Physiotherapie, Technikumstrasse 71, Postfach, 8401 Winterthur (mandy.scheermesser@zhaw.ch), orcid.org/0000-0002-9765-7329

Ursula Meidert, ZHAW, Departement Gesundheit, Forschung und Entwicklung Ergotherapie (ursula.meidert@zhaw.ch), orcid.org/0000-0002-7747-9641

Michaela Evers-Wölk, IZT-Institut für Zukunftsstudien und Technologiebewertung (m.evers-woelk@izt.de)

Yvonne Prieur, ZHAW, Zentrum für Sozialrecht der ZHAW School of Management and Law (yvonne.prieur@bluewin.ch)

Stefan Hegyi, ZHAW, School of Management and Law sowie Zürcher Zentrum für Informationstechnologie und Datenschutz (ITPZ) (stefan.hegyi@zhaw.ch)

Heidrun Becker, ZHAW, Departement Gesundheit, Forschung und Entwicklung Ergotherapie (heidrun.becker@zhaw.ch)

Die digitale Selbstvermessung, auch Quantified Self (QS) genannt, bezeichnet das Messen und Aufzeichnen von Körperparametern und -zuständen mittels Anwenderprogrammen (Apps) und Wearables. Das Messen geschieht meist zum Zweck der Effizienzsteigerung und Selbstoptimierung für mehr Wohlbefinden und eine bessere Gesundheit. In der Medizin wird QS erst zögerlich eingesetzt, da die Qualität der Apps, insbesondere in Datenschutzbelangen, unzureichend ist und die Wirksamkeitsevidenz weitgehend fehlt. Der Artikel basiert auf Ergebnissen der TA-SWISS-Studie „Quantified Self – zwischen Lifestyle und Medizin“ und umreißt das QS-Phänomen aus medizinischer, rechtlicher, ethischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht. Zudem werden künftige Entwicklungen sowie Lösungs- und Gestaltungspotenziale dargelegt.

The quantified self in lifestyle and healthcare

A technology assessment study

Digital self-quantification, also known as quantified self (QS), refers to the measuring and recording of body parameters and conditions using apps and wearables. Self-quantification aims at improved efficacy and self-optimization for better health and well-being. In medicine, QS is used rather hesitantly since products are of poor quality, particularly in terms of user data protection, and the evidence of effectiveness is often lacking. The article is based on results of the TA-SWISS study “Quantified Self – Interface between Lifestyle and Medicine”. It describes the QS phenomenon from the medical, legal, ethical, economic, and social perspectives. Future developments and potential solutions are outlined for the exploitation of opportunities arising from the use of QS in medicine and lifestyle while controlling the associated risks.

Keywords: quantified self, self-tracking, technology assessment, healthcare

This is an article distributed under the terms of the Creative Commons Attribution License CCBY 4.0 (https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/)

TATuP Bd. 27 Nr. 3 (2018), S. 57–62, https://doi.org/10.14512/tatup.27.3.57

Submitted: 11. 04. 2018. Peer reviewed. Accepted: 20. 09. 2018

Einleitung

Die Quantifizierung des Körpers war bisher meist der Wissenschaft und Medizin vorbehalten. Heute ermöglichen Sensoren in mobilen Geräten und Anwenderprogramme (Apps) vielen Menschen eine Quantifizierung ihres eigenen Körpers (Belliger und Krieger 2015). Die digitale Selbstvermessung wurde unter dem Begriff „Quantified Self“ (QS) (Wolf 2010) bekannt und steht einerseits für die Vermessung selbst und andererseits für die sich selbstvermessende Person und Personengruppen. Die erhobenen Daten sollen Zusammenhänge und neue Erkenntnisse über sich selbst aufzeigen, zu Verhaltensänderungen anregen oder die dafür nötige Motivation hochhalten. Die Darstellung und Sichtbarkeit der eigenen Gesundheit in jederzeit verfügbaren Grafiken ist dafür eine wichtige Komponente.

Eine einheitliche Definition zu QS gibt es nicht. Wir folgen einer Definition von Meidert et al. (2018, S. 44): „QS ist dadurch gekennzeichnet, dass eine Person sich aktiv mit Geräten und Applikationen misst, um aufgrund der Analyseresultate Wissen zu generieren, das dazu beiträgt, ihren Lebensstil und ihr Verhalten in den Bereichen Fitness, Wellness oder Gesundheit zu optimieren“. Damit wird QS abgegrenzt vom passiven gemessen werden durch andere. Von anderen Trends wie m-Health (mobile health), eHealth (electronic health) oder Telecare lässt sich QS wiederum nur schwer abgrenzen. Auch ist die Entwicklung sehr schnell: So ist die Anzahl der weltweit verfügbaren Apps in den letzten zehn Jahren auf 325.000 im Jahr 2017 gestiegen mit geschätzten 3,7 Mrd. Downloads (research2guidance 2017). Wobei angemerkt werden muss, dass viele der heruntergeladenen Apps bereits nach wenigen Tagen nicht mehr verwendet werden.

Neben Körperparametern und Verhalten, können auch Gefühlszustände oder Symptome in Apps eingetragen werden. Weitere Datenquellen wie Kalender oder Ortung können einbezogen und miteinander verknüpft werden (Timmer et al. 2015). Die Einsatzbereiche von QS reichen von Fitness und Ernährung über Stillen und sexuelle Gesundheit bis hin zu Medizinprodukten für Patientinnen und Patienten mit spezifischen Erkrankungen wie Tinnitus.

Dabei wird nicht nur bei Selbstvermessenden Hoffnung auf eine bessere Gesundheit geweckt, sondern auch bei Akteuren im Gesundheitsbereich. Auch für Wirtschaftsakteure sind die gesammelten Daten von großem Interesse. Über die daraus entstehenden Konsequenzen, Chancen und Risiken für Individuen, Organisationen und die Gesellschaft ist bisher noch wenig bekannt. Ziel der durchgeführten TA-SWISS-Studie (Meidert et al. 2018) war es, diese Lücke zu schließen sowie den Stand und die zukünftige Entwicklung von QS aus medizinischer, rechtlicher, ethischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht aufzuzeigen. Ergänzt werden diese Erkenntnisse durch Studien von Lucht et al. (2015), Albrecht et al. (2016), das Policy Paper von Heyen (2016a) und die Stellungnahme vom Deutschen Ethikrat (2018).

Methodisches Vorgehen

Für die Analyse aktueller Entwicklungen in der Selbstvermessung wurde eine systematische Literaturrecherche in den Datenbanken Pubmed, Web of Science, Sociological Abstracts, International Bibliography of the Social Sciences, swisslex, Weblaw, swissbib, in wissenschaftlichen Zeitschriften von IEEE, Springer, Elsevier sowie eine Freihandsuche durchgeführt. Ergänzend hierzu wurden 19 Expertinnen und Experten aus Wirtschaft, Gesellschaft und Gesundheitswesen sowie aus den Bereichen Technik, Ethik und Recht befragt.

Um die Motive und Erfahrungen der Nutzung, die Verwendung der Daten von QS-Anwendungen zu erfahren, wurden drei moderierte Fokusgruppen im Winter 2016/17 in Winterthur (Schweiz) mit jeweils sechs bis acht Personen durchgeführt: eine mit Gesunden, eine mit chronisch Kranken sowie eine mit Gesundheitsfachpersonen. Diese Aspekte wurden ebenfalls Anfang 2017 mit der QS-Gruppe Zürich diskutiert. Alle Gespräche wurden elektronisch aufgezeichnet, protokolliert und ausgewertet. Als Ergänzung zur qualitativen Befragung fand eine explorative Online-Befragung mit 1489 Personen statt. Diese enthielt 15 geschlossene Fragen zur Verwendung von QS-Anwendungen.

Nach der Datenerhebung wurden mittels einer Chancen- und Risiken-Analyse die Ergebnisse diskursiv bewertet und eine Gesamtbeurteilung erstellt. Daraus wurden spezifische Lösungsvorschläge erarbeitet, die verschiedene gesellschaftliche Akteure adressieren.

Ergebnisse

Abgrenzung zwischen Medizin- und Konsumprodukten

Rechtlich ist bei QS-Produkten zwischen Medizinprodukten und Konsumprodukten zu unterscheiden. Ein Medizinprodukt ist für die medizinische Verwendung bestimmt und dient dazu, Krankheiten, Verletzungen oder Behinderungen zu erkennen, zu überwachen, zu behandeln oder zu lindern. Die rechtliche Grundlage für die Abgrenzung von Medizinprodukten zu Konsumprodukten (Wellness, Fitness) bildet die medizinische zur nicht-medizinischen Zweckbestimmung. Die Hersteller müssen die Abgrenzung aufgrund des Verwendungszwecks selbstverantwortlich vornehmen. Probleme treten auf, wenn sie mit den regulatorischen Anforderungen im Gesundheitssektor nicht vertraut sind.

Für die Behörden sind nicht nur die Zweckbezeichnung in der Kennzeichnung, Gebrauchsanweisung und in den Werbematerialien maßgeblich, sondern auch Informationen auf Webseiten und den App-Stores. Wenn QS-Produkte den medizinischen Bereich umfassen sind sie als Medizinprodukte zu qualifizieren. Somit unterliegen sie dem strengen Medizinprodukterecht, unabhängig davon, ob die medizinischen Apps kostenlos oder gegen Entgelt angeboten werden.

QS und Gesundheit

Etwa ein Viertel der Apps fokussiert auf Krankheitsmanagement und -behandlung, der große Rest lässt sich dem Bereich Lifestyle zuordnen. QS wurde bereits in zahlreichen Gebieten der Medizin erprobt, insbesondere in den Bereichen Ernährung, Bewegungsförderung und Gewichtsreduktion. Auch für chronische Erkrankungen existieren viele Produkte für ein verbessertes Krankheitsmanagement sowie zur Kontrolle bestimmter Körperparameter. Die QS-Produkte werden aber auch eingesetzt zur Patientenedukation, zur Dokumentation und Überwachung sowie zur Förderung der Therapieadhärenz und zur Motivation.

Gesundheitsfachpersonen sehen für QS vor allem in der Gesundheitsförderung und Prävention große Potentiale. So kann QS auf dem Weg zur langfristigen Verhaltensänderung durch drei Komponenten unterstützen: 1. die Etablierung einer Gewohnheit, z. B. durch Hinweise, Erinnerungen und Belohnungen; 2. soziale Motivation, z. B. das Teilen von Zielen oder Wettbewerbe; und 3. zielaffirmierendes Feedback, um den Fortschritt zu kontrollieren und zu festigen (Ledger und McCaffrey 2014). Dadurch können lebensstilbedingte Erkrankungen wie Übergewicht oder Diabetes Typ 2 eingedämmt werden.

Obwohl es Apps gibt, die auf Krankheitsmanagement und -behandlung fokussieren, werden sie im Gesundheitswesen erst vereinzelt eingesetzt. Dies hat mit der oft mangelnden Verlässlichkeit der erhobenen Daten, der lückenhaften Wirksamkeitsevidenz sowie fehlenden Qualitätsstandards der Geräte und Apps zu tun. Andererseits ist die Vielzahl an QS-Produkten derart groß, dass den Gesundheitsfachpersonen das Wissen fehlt, welche Anwendung für welche Patientinnen und Patienten nutzbringend ist. Dennoch zeigen Wirksamkeitsstudien teils vielversprechende Resultate: Bei Interventionen mit QS zur Behandlung von Depressionen und Angststörungen, Fehlernährung, Diabetes Typ 2, Multipler Sklerose, Parkinson und kardiovaskulären Erkrankungen konnte die Wirksamkeit von QS-Anwendungen dokumentiert werden (IMS 2015). QS-Programme zur Gewichtsreduktion und gesunder Ernährung waren insbesondere durch eine verbesserte Adhärenz erfolgreicher als herkömmliche Programme (DiFilippo et al. 2015). Auch zeigen Programme mit Beratungen, die sich auf QS-Daten stützen, positive Resultate (Vaes et al. 2013). Obwohl diese Ergebnisse vielversprechend sind, fehlt jedoch oft der Nachweis der Nachhaltigkeit solcher Interventionen (Albrecht et al. 2016).

Marktentwicklung und Handel mit Gesundheitsdaten

Definition, Größe, Segmentierung und Wachstum des QS-Marktes sind bislang wenig dokumentiert und uneinheitlich beschrieben. Für die Einschätzung des wirtschaftlichen Potenzials werden in der Regel verschiedene Teilmärkte wie Hard- und Software, Dienstleistung, Vertrieb und Transaktion sowie Werbung herangezogen. Da sich eine Kostenübernahme von QS-Produkten bei den Krankenkassen bislang international nicht durchgesetzt hat, konzentriert sich der Markt hauptsächlich auf den Lifestyle-Bereich. Zielgruppe ist insbesondere derjenige Teil der Bevölkerung, der im Interesse der eigenen Gesunderhaltung oder Kultivierung des eigenen Körpers bereit ist, QS zu nutzen und etwaige Kosten selbst zu tragen.

Etwa ein Viertel der Gesundheits-Apps fokussiert auf Krankheitsmanagement und -behandlung, der große Rest lässt sich dem Bereich Lifestyle zuordnen.

Durch die Leistungssteigerung der Geräte können immer mehr und differenziertere Gesundheitsdaten erfasst, gespeichert und ausgewertet werden. Diese Daten lassen sich unternehmerisch nutzen, um Präferenzen und Nutzungsgewohnheiten zu analysieren und mit anderen Datensätzen zu vergleichen. Auf dieser Grundlage können zum einen die auf dem Markt befindlichen Produkte und Dienstleistungen verbessert und an Zielgruppen angepasst werden, zum anderen neue und innovative Angebote entwickelt werden. Mittlerweile hat sich ein gut ausgebauter Markt mit Gesundheitsdaten entwickelt (Bitkom Research 2017). Den Nutzenden sind Relevanz und Wert dieser Daten oft unbekannt, gleichwohl stellen die Daten aus Sicht von wirtschaftlichen Akteuren wie Pharmaunternehmen, Sportartikelherstellern aber auch Krankenversicherungen eine Ressource mit zunehmendem Wertpotenzial dar. Nicht zuletzt sind die Daten für die Forschung interessant, beispielsweise um neue gesundheitsbezogene Zusammenhänge zu erkennen. Trotz der hohen wirtschaftlichen Bedeutung gibt es für die Bemessung des ökonomischen Werts von Lebens- und Gesundheitsdaten bislang keine allgemein anerkannten Verfahren und Methoden (Bründel et al. 2015).

Es ist erkennbar, dass die Verbreitung von QS-Produkten sowohl die Rekonfiguration bestehender als auch den Einsatz neuer digitaler Geschäftsmodelle weiter forcieren wird. Dabei gelten Daten als eine der wesentlichen Triebfedern für zukünftige Geschäftsmodelle. In enger Anlehnung an die Kaskade zur Datenaufbereitung aus dem Data-Mining wird eine Kaskadierung von der Generierung/Sammlung hin zur Verarbeitung/Aggregation über die Analyse bis zur Distribution/Nutzung empfohlen (Meister et al. 2017). Zudem gibt es seitens der Nutzenden von QS-Anwendungen ein stärker werdendes Interesse, an der Monetarisierung von Daten aktiv zu partizipieren – auch dies hat wiederum Rückwirkungen auf die QS-Geschäftsmodelle. Mit Blick auf den Daten- und Verbraucherschutz bieten insbesondere jene Geschäftsmodelle weitere Potenziale, die auf der Blockchain-Technologie basieren (Rückeshäuser et al. 2017).

Die Funktionsweise von Märkten für Gesundheitsdaten wird maßgeblich durch das Datenschutzrecht beeinflusst (Schweitzer und Peitz 2017). Daher wird die marktseitige Annahme der QS-Angebote letztlich auch durch die Akzeptanz und das Vertrauen der Nutzenden in die Angebote sowie die Integration von Verbraucher- und Datenschutzrechten abhängen. Problematisch an den Applikationen ist, dass für Nutzende die automatisierte Weitergabe ihrer Daten an Dritte, z. B. zu Werbezwecken, oft weder ersichtlich ist, noch sich in irgendeiner Form einschränken lässt (AV-TEST Institut 2017).

Datenschutz und -sicherheit

Die Qualität der QS-Produkte ist derzeit oft unzureichend, insbesondere gewährleisten sie weder den Schweizer noch den Europäischen Datenschutz (Heyen 2016b; Prieur 2017). Ebenso ist die Datensicherheit ungenügend. Dies betrifft sowohl Medizinprodukte als auch Konsumprodukte. Die Risikoklassifizierung eines Medizinprodukts erfolgt auf der Basis eines tiefen Gesundheitsrisikos. Eine mögliche Persönlichkeitsverletzung spielt bei der derzeitigen Klassifizierung keine Rolle. Dieses Datenschutzrisiko ist im Zuge der Digitalisierung von Medizinprodukten künftig besser von Herstellern, Prüfstellen und Aufsichtsbehörden zu berücksichtigten.

Die Qualität der QS‑Produkte ist derzeit hinsichtlich Datenschutz und Datensicherheit oft unzureichend.

Die QS-Konsumprodukte werden vor allem in den USA und in Asien hergestellt. Die Nutzerinnen und Nutzer stimmen bei grenzüberschreitenden Rechtsverhältnissen der Weitergabe ihrer Messdaten ins Ausland zu. Damit gehen sie das Risiko ein, dass ihre Daten dort nicht den gleichen gesetzlichen Schutz genießen wie in Europa. Problematisch sind vor allem die intransparenten Einwilligungen, mit denen sich die Unternehmen weitreichende Nutzungsrechte bis hin zum Datenverkauf an Dritte einräumen lassen. Wenn sich die Nutzerinnen und Nutzer mit GPS verorten, Cookies herunterladen, Logdateien nutzen oder sich in Netzwerke einloggen, fallen weitere personenbezogene Daten an. Werden die QS-Daten mit frei verfügbaren Angaben aus dem Internet kombiniert, können persönliche Aspekte der betroffenen Personen v. a. bezüglich Arbeitsleistung, wirtschaftliche Lage, Gesundheit, Verhalten und Aufenthaltsort bewertet werden (Profiling). Dieses Risiko ist besonders hoch, wenn die Selbstvermessenden ihre Messdaten mit den Arbeitgebern und Versicherern „teilen“, wie es in den Einwilligungen oft beschönigend heißt; faktisch verwenden die Unternehmen diese Informationen eigenständig.

Veränderung der Körperwahrnehmung

Die Motivation zur digitalen Selbstvermessung hängt häufig mit der Körperwahrnehmung zusammen, z. B. um leistungsfähiger zu sein oder den Körper zu optimieren. Die Literatur und die Aussagen der Expertinnen und Experten weisen darauf hin, dass QS das Potenzial hat, die Körperwahrnehmung zu beeinflussen und so zu einer veränderten Körperwahrnehmung beizutragen (Meidert et al. 2018). In der Literatur wird zwischen einer bewussten, reflektierten Körperwahrnehmung und einer eher unbewussten, gefühlten Wahrnehmung unterschieden, z. B. Körperbild und Körperschema (Blakeslee und Blakeslee 2009). Körperbild oder Leibempfinden umfassen das affektive Erleben und die Einstellung zum Körper, z. B. ob man sich als dick oder dünn empfindet. Das Potenzial von QS für die Körperwahrnehmung setzt meistens am Körperschema an, indem objektive Daten geliefert und mit Normen verglichen werden und indem das Wissen über den eigenen Körper erweitert wird. Gleichzeitig wirken die Daten auch auf das Körperbild. So kann QS sowohl zum Verlust als auch zur Gewinnung der Körperwahrnehmung beitragen: Teilnehmende der Fokusgruppen berichteten, dass sie durch das Messen ein Gefühl für ihren Puls beim Laufen entwickelt haben. Patientinnen und Patienten mit Diabetes sprachen hingegen von einer Beeinträchtigung der Körperwahrnehmung, wenn sie nur noch den Daten und nicht mehr dem eigenen Gefühl vertrauten. Das führte dazu, dass sie nicht mehr spüren, wenn sich der Blutzuckerwert verändert (Meidert et al. 2018).

Einfluss von QS auf gesellschaftliche Wertvorstellungen

Viele dieser ethischen Fragen stellen sich nicht exklusiv im Kontext von QS, sondern müssen in einem größeren Zusammenhang von Big Data und den generellen Entwicklungen im Gesundheitswesen gesehen werden. Zumindest sollten aufgrund der sich ändernden Einstellungen keine vorschnellen normativen Schlüsse gezogen werden. Dies gilt insbesondere in Bezug auf QS, da in diesem Bereich ein breites Spektrum zwischen dem freiwilligen Messen bis hin zur unfreiwilligen bzw. fremdbestimmten Vermessung besteht (Lupton 2014).

Es sollten nicht nur die Risiken und Herausforderungen thematisiert, sondern auch die Chancen von QS. Folgende Fragen können dabei im Vordergrund stehen: Soll mehr Gewicht auf QS als Innovationstreiber, als Grundlage der Steigerung der Effizienz und Lebensqualität sowie auf gewonnene Erkenntnisse zum Nutzen der gesamten Bevölkerung gelegt werden oder vielmehr auf Werte wie Privatheit, Autonomie, Transparenz, (informationelle) Selbstbestimmung und Solidarität? Wie begegnen wir den Risiken einer (rationalen) Diskriminierung (Selke 2016) aufgrund von datenbasierten pseudowissenschaftlichen Zusammenhängen? Lassen sich diese Werte und normativen Zielkonflikte ausbalancieren? Zur Beantwortung dieser Fragen bedarf es einer eingehenden sozialethischen Debatte und eines ausführlichen Diskurses.

Lösungs- und Gestaltungspotenziale

Die verschiedenen Formen der digitalen Erfassung, Speicherung und Auswertung von Gesundheitsdaten bieten Möglichkeiten, das Gesundheitsverhalten der Menschen im Alltag zu unterstützen. Sie bergen gleichzeitig aber auch Risiken für Individuen sowie die Gesellschaft insgesamt. Die Identifikation von Lösungs- und Gestaltungspotenzialen kann helfen, die Chancen zu realisieren und die Risiken zu minimieren.

Auch wenn mittlerweile eine Vielzahl von QS-Produkten auf dem Markt sind, bedeutet dies nicht, dass diese nutzbringend und wirksam sind. Da die meisten keine zertifizierten Medizinprodukte sind, fehlen in der Regel Nutzen- und Wirksamkeitsnachweise. Auch die CE-Kennzeichnung von Apps garantiert keine Überprüfung im sogenannten EU-Konformitätsverfahren, da Hersteller diese Kennzeichnung selbst vergeben und mit ihr lediglich zum Ausdruck bringen, nach eigenem Ermessen den EU-Anforderungen zu entsprechen. Berufsverbände fordern daher, deren Wirksamkeitsevidenz zu prüfen, bevor sie Empfehlungen für einzelne Applikationen aussprechen können (Kramer 2017).

Die Einforderung von Nachweisen über den Nutzen, die Wirksamkeit und Sicherheit von QS sowie deren gesellschaftliche Transparenz können helfen, die bestehenden Potenziale für eine bessere Körperwahrnehmung und ein gesundheitsbezogenes Verhalten auszuschöpfen. Dies kann im Sinne der Verbesserung der fachlichen Qualität der QS-Anwendungen durch die Förderung von Kooperationen zwischen Anbietern mit technologischer Expertise wie Start-ups und Unternehmen mit ausgewiesener Expertise im Gesundheits- und Medizinsektor unterstützt werden.

QS-Anwendungen haben wesentliche Implikationen nicht nur für den Daten-, sondern auch für den Verbraucherschutz. Neben der Einführung von Qualitätssiegeln bietet sich die Etablierung von standardisierten Nutzungsbedingungen an, um vor unberechtigter oder manipulativer Verwendung der Gesundheitsdaten zu schützen. Auch dialog- und bewusstseinsfördernde Instrumente, die auf bestehende Risiken im Umgang mit QS aufmerksam machen, können helfen, eine reflektierte Auseinandersetzung und Nutzung seitens der Nutzenden zu fördern. Nicht zuletzt sollten aktuelle Technologien bzw. Verfahren angewendet werden, um die Hürden eines unautorisierten Zugriffs kontinuierlich auf dem höchsten Niveau zu halten.

Aus ethischer Sicht geht es im Zusammenhang mit QS um die Selbstbestimmung der Nutzenden. Hierfür sind spezifische Fähigkeiten und Fertigkeiten erforderlich sowie eine gewisse Informiertheit über alles, was für die Entscheidung oder das Handeln von Bedeutung ist. Dabei gilt es, darauf zu achten, dass die wertebasierte Selbstbestimmung nicht durch Mechanismen personalisierter Werbung auf Big-Data-Basis, durch kommerziell gesteuerte Empfehlungen und durch Techniken der Verhaltensbeeinflussung korrumpiert wird (Woopen 2017).

Fazit

Die Ergebnisse zeigen, dass die digitale Selbstvermessung kein Nischenphänomen mehr ist, sondern von immer mehr Menschen in der Gesellschaft praktiziert wird. Diese Entwicklung korrespondiert mit einem gesellschaftlichen Wertewandel. Das Verständnis von Gesundheit löst sich immer mehr von Medizin und Krankheit ab und integriert stärker den alltäglichen Lebensstil und die Lebensweise (Brunett 2009). Vor allem im Lifestyle und Sportbereich hat QS an Bedeutung gewonnen. Es bietet Chancen für Gesundheitsförderung und Prävention, indem es Individuen unterstützt, selbstgesteckte Ziele für das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit zu erreichen. Obwohl QS in den Bereichen Ernährung, Bewegungsförderung und Gewichtsreduktion sowie beim Krankheitsmanagement Potenziale zugeschrieben werden, werden diese zurzeit kaum genutzt. Hürden sind vor allem Risiken in der Zuverlässigkeit und Gültigkeit der Messungen und im Datenschutz sowie mangelnde Wirksamkeitsnachweise. Wirtschaftlich interessant ist QS nicht nur für Hersteller und Entwickler, sondern auch für Versicherungen und die Pharmaindustrie, die sich vor allem von den Gesundheitsdaten einen Nutzen versprechen. Für die Forschung bietet QS ebenfalls Potenziale durch die Gewinnung großer Datenmengen. Das Aufweichen des Solidaritätsprinzips in den Sozialversicherungen und drohende Diskriminierung von gesundheitlich eingeschränkten Personen gehören zu den Risiken, die durch gesellschaftliche Diskussionen und politische Entscheidungen zu verhindern sind.

Literatur

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Autorinnen und Autor

Mandy Scheermesser

ist Sozialwissenschaftlerin an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW), Departement Gesundheit, und beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen von Technik, Gesellschaft und Gesundheit.

Ursula Meidert

ist Soziologin an der ZHAW, Institut für Ergotherapie, und beschäftigt sich mit Gesundheit und Technik.

Michaela Evers-Wölk

ist Kommunikationswissenschaftlerin am IZT Berlin und beschäftigt sich mit der Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft, diskursiven Verfahren der Zukunftsforschung und Technikfolgenabschätzung.

Yvonne Prieur

ist assoziierte Mitarbeiterin am Zentrum für Sozialrecht der ZHAW School of Management and Law. Sie beschäftigt sich mit Datenschutz, Sozialversicherungs- und Gesundheitsrecht.

Stefan Hegyi

arbeitet an der ZHAW School of Management and Law und am Zürcher Zentrum für Informationstechnologie und Datenschutz (ITPZ).

Prof. Dr. Heidrun Becker

ist Senior Researcher an der ZHAW, Institut für Ergotherapie. Sie leitete das TA-SWISS Projekt „Quantified Self – zwischen Lifestyle und Medizin“.