Forschung

Pharmazeutika im Trinkwasser

Eine soziologische Annäherung an das Problem der Nebenfolgen in der Krankenbehandlung

Christian Büscher, Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlstr. 11, 76133 Karlsruhe (buescher@kit.edu)

Das soziale System der Krankenbehandlung erbringt nicht nur wesentliche Leistungen in der Gesellschaft, sondern externalisiert systemisch unerwünschte Folgen, z. B. Pharmazeutikarückstände in Gewässern. Diese nicht-intendierten Nebenfolgen resultieren aus unzähligen, alltäglichen Einzelhandlungen, die durch soziale Mechanismen des Umgangs mit Unsicherheit erst ermöglicht werden. Zur Entwicklung von Strategien zur Reduzierung von Pharmazeutikarückständen im Trinkwasser muss die Wirkmächtigkeit von Mechanismen wie Geldzahlungen, Autorität oder Vertrauen besser verstanden werden. Diese bewirken das Zustandekommen von Handlungen, lassen sich aber schwerlich zur Steuerung von erwünschtem Verhalten instrumentalisieren.

Pharmaceuticals in drinking water

A sociological approach to the problem of unintended consequences of medical treatment

The social system of medical treatment does not only provide essential societal services, it also externalizes systemically undesirable effects, e. g., pharmaceuticals in the aquatic environment. These unintended consequences result from countless individual actions that arise from social mechanisms of dealing with uncertainty. In order to develop strategies to reduce pharmaceuticals in drinking water, it is important to better understand the efficacy of mechanisms such as monetary payments, authority, and trust. Those allow for the emergence of actions, but can hardly be used to control desired actions.

Keywords: medical treatment, doctor-patient interaction, uncertainty, risk, ecological consequences

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TATuP Bd. 27 Nr. 3 (2018), S. 51–56, https://doi.org/10.14512/tatup.27.3.51

Submitted: 01. 02. 2018. Peer reviewed. Accepted: 14. 09. 2018

Einleitung

In dieser soziologischen Perspektive auf das Problem „Medikamentenrückstände im Trinkwasser“ sollen Argumente für ein neues, zukünftig empirisch zu fundierendes, Forschungsdesign vorgestellt werden, um die Möglichkeiten und Chancen einer generellen Verringerung des Konsums von Pharmazeutika abzuschätzen. Pharmazeutika im Trinkwasser werden hier als eine Nebenfolge der organisierten, technisierten und verwissenschaftlichten Krankenbehandlung verstanden. Diese verursacht, trotz enormer Leistungsfähigkeit, auch weitere Nebenfolgen, wie zu hohe Kosten, überlastetes Personal, resistente Keime oder Behandlungsfehler. Von den üblichen Vorschlägen, eine Verringerung des Pharmazeutikakonsums sei durch Aufklärung, Informierung oder Bewusstsein von Personen(gruppen) zu erreichen, soll zunächst Abstand genommen werden. Vielmehr wird diskutiert, ob neue Einsichten zu erwarten sind, wenn soziale Mechanismen der Ermöglichung von Krankenbehandlung in den Mittelpunkt der Analysen gestellt werden. Ansatzpunkt ist die kontraintuitive These aus der Grundlagenforschung in der Medizinsoziologie, dass Krankenbehandlung eine (notwendige) Zumutung sei. Krankenbehandlung ist also zunächst als unwahrscheinlich einzuschätzen (Fuchs 2006, S. 28; Begenau 2009, S. 25), weil alle Beteiligten neben der Aussicht auf erfolgreiche Heilung bzw. Linderung immer auch die Erwartung möglicher negativer Konsequenzen verarbeiten müssen. Krankenbehandlung ist immer mit Unsicherheit und Risiko behaftet. Somit bedarf auch die Medikamentenverschreibung als grundlegender Bestandteil der Krankenbehandlung bestimmter Mechanismen, die Unsicherheiten insoweit reduzieren, dass Entscheiden möglich ist (Fuchs 2006, S. 28; Koch und Sawicki 2009). Mit diesem abstrakten, aber grundlegenden Gedanken sollen gängige Rationalitäts- und Vernunftsprämissen hinterfragt werden, die auf Verhaltensänderungen für eine Reduzierung von Medikamentenrückständen im Trinkwasser durch Informierung hoffen.

Die nachfolgenden Überlegungen schließen an interdisziplinäre Forschungsarbeiten an, die Pharmazeutika im Trinkwasser als systemisches Risiko charakterisiert haben.

Pharmazeutika gelangen über den Weg der unsachgemäßen Entsorgung oder als Rückstände in den Ausscheidungen von Patientinnen/Patienten in den Wasserkreislauf (Schulte-Oehlmann et al. 2007). Sie sind zwar im Design auf ein Mindestmaß an chemischer Stabilität ausgelegt, um die erwünschte Wirkung im Organismus zu erreichen, eine Restwirkung verbleibt aber auch nachdem die Wirkstoffe im Organismus metabolisiert wurden. Da auch modernste Filteranlagen das Trinkwasser nicht vollständig von Medikamentenrückständen reinigen können, werden diese von der Bevölkerung in Mikrodosierungen wiederaufgenommen.[1] Ob und welche Auswirkungen die dauerhafte indirekte Exposition auf den menschlichen Organismus hat, ist noch nicht bekannt (Webb et al. 2003; Touraud et al. 2011) und wird aktuell (noch) als ungefährlich eingeschätzt (Klauer 2018, S. 23). Dennoch ruft allein der Umstand der unfreiwilligen Exponierung Besorgnis hervor und verlangt nach langfristigen Strategien (Kümmerer et al. 2015). Dementsprechend erfahren Pharmazeutika im Trinkwasser aktuell einige Aufmerksamkeit, z. B. durch das Interreg-Projekt noPills (Pahl 2015), eine Studie im Auftrag des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (civity 2017), durch den TAB-Arbeitsbericht Nr. 178 (Klauer 2018)[2] oder durch eine internationale Metastudie (Beek et al. 2016).

Die nachfolgenden Überlegungen schließen an interdisziplinäre Forschungsarbeiten an, die Pharmazeutika im Trinkwasser als systemisches Risiko charakterisiert haben, also als Ergebnis von „decentralized, intentional processes and cycles in a system which lead to systemic, cumulative production of hazard“ (Keil et al. 2008, S. 355). Als Reaktion auf diese Gefährdungslage wird eine ganze Bandbreite von Maßnahmen diskutiert, die sowohl technische Lösungsansätze, z. B. Medikamentendesign (Kümmerer und Clark 2016) oder Filtertechnik in Kläranlagen als auch Verhaltensansätze beinhalten (für eine Übersicht: Hillenbrand et al. 2016, S. 189 ff.). Letztere zielen, neben der richtigen Entsorgung von nicht verbrauchten Medikamenten, auf die Verringerung des Medikamentenkonsums ab (Keil et al. 2008, S. 358), z. B. durch eine nachhaltige Verschreibungspraxis (Pahl 2015; civity 2017, S. 39).

Gestiegener Medikamentenkonsum erklärt sich auch durch verstärkte Inanspruchnahme von Vorsorgemedikation und Lifestyle-Medikation.

Im Folgenden wird kurz auf grundlegende Aspekte der Leistungserwartungen und Motivation eingegangen, um anschließend anhand der Mechanismen Geldzahlung, Vertrauen, Autorität aufzuzeigen, wie Unsicherheitsabsorption wirken kann und wie die Operationalisierung von Behandlungserwartungen und -erbringung in der Arzt-Patienten-Interaktion vor sich geht. Damit kann besser abgeschätzt werden, wie diese Mechanismen auf die Verringerung oder Erhöhung der Medikamenteneinnahme einwirken könnten.

Leistungserwartungen an und Motivation zur Krankenbehandlung

An den Komplex der Krankenbehandlung richten sich Leistungserwartungen der arbeitsteiligen Funktionserfüllung der ambulanten und stationären ärztlichen Versorgung, der Kranken- und Pflegeversicherung, der Arzneimittelversorgung sowie der ambulanten und stationären Pflege (Wendt 2003; Simon 2005; Paul und Schmidt-Semisch 2010). Dazu sind in den letzten Jahrzehnten eine Vielzahl von Arbeiten entstanden, die sich um die Klärung des Systemstatus und funktionaler Probleme der Systemerhaltung verdient gemacht haben (Vogd 2005; Fuchs 2006; Pelikan 2009; Stollberg 2009). Für uns sind im Folgenden zwei Aspekte von besonderer Bedeutung.

Demografische Trends und individuelle Ansprüche

Die konkrete Ausgestaltung von zulässigen Ansprüchen und Behandlungsprogrammen beeinflusst den Konsum von Pharmazeutika in direkter Weise. Anspruchshaltung und Programmierung werden durch demografische Trends und soziale Erwartungsbildung beeinflusst.

Als Begründung für die umfassende Steigerung der Aktivitäten in Forschung und Entwicklung sowie in der Produktion und Konsumption von Medikamenten werden Veränderungen sowohl in der demografischen Struktur als auch in den Bedürfnissen und Ansprüchen der Bevölkerung angeführt (Dingermann 2006; civity 2017). Zwei Faktoren werden dabei hervorgehoben.

Erstens korrelieren die Altersverteilung in der Gesellschaft und die Entwicklung im Arzneimittelgebrauch wechselseitig. Durch gestiegene Lebenserwartung und die gesunkene Geburtenrate wächst der Anteil der Personen, die 65 Jahre und älter sind, schneller als der jeder anderen Altersgruppe. Das hat Konsequenzen für die medizinische Versorgung, da bei älteren und sehr alten Menschen typischerweise mehrere Leiden gleichzeitig auftreten. In der Folge kommt es zur erschwerten Diagnosestellung, zur verminderten Therapietreue (compliance) sowie insgesamt zu einem erhöhten Bedarf an medizinischen und pflegerischen Behandlungsressourcen (Rodrig und Wiesemann 2004; Dingermann 2006, S. 7; civity 2017, S. 6).

Zweitens kann der gestiegene Medikamentenkonsum durch die individuelle Anspruchssteigerung erklärt werden. Sowohl die Vorsorgemedikation als auch die Lifestyle-Medikation werden verstärkt in Anspruch genommen. Zugespitzt formuliert kommt es vermehrt zur „pharmakotherapeutischen Behandlung Gesunder“ (Dingermann 2006, S. 11). Dem liegt ein zirkulärer, sich selbst verstärkender Mechanismus zugrunde: Zum einen erweisen sich individuelle Bedürfnisse, Präferenzen und Zahlungsbereitschaften als Determinanten für die Entwicklungen im System der Krankenbehandlung als demand pull, zum anderen werden diese wiederum erst von den wissenschaftlichen, medizintechnischen und pharmakologischen Möglichkeiten als supply push geweckt (Dingermann 2006). Bratan und Wydra (2013, S. 156) sehen in diesem „Wissenschafts- und Technikpush“ eine zu korrigierende Fehlorientierung.

Motivation zur Krankenbehandlung

In der modernen Gesellschaft nimmt Krankheit die Form des wissenschaftlich informierten medizinischen Befundes an, der es erlaubt, die Patientin/den Patienten als Fall zu behandeln, woraufhin Methoden und technische Mittel zur Wiederherstellung eines Normalzustandes zum Einsatz kommen. Gemäß unserer Eingangsdefinition von Krankenbehandlung als (notwendiger) Zumutung veranlasst das Erleben von Unwohlsein und Schmerz Patientinnen/Patienten dazu, eine Reihe unwahrscheinlicher Prozeduren zu erdulden: die Behandlung selbst, die Offenlegung des Körpers gegenüber nicht intimen, fremden Personen oder auch die Fortführung der Behandlung, selbst wenn das Erleben von Unwohlsein und Schmerz nachlässt oder verschwindet (Fuchs 2006, S. 28).

Unsicherheiten über die Folgen der Behandlungen sind auf beiden Seiten (der Experten und der Laien) gegeben und müssen abgebaut werden. Aufgrund der fortgesetzten Verwissenschaftlichung und Technisierung der Krankenbehandlung kommt es zu einem eklatanten Auseinanderdriften von klinischer Diagnose aufseiten der Profession und den lebensweltlichen Erfahrungen aufseiten der Patientinnen/Patienten (Stevenson 2006, S. 226). Auch medizinische Experten unterliegen der Bürde, mit Nichtwissen umgehen zu müssen, nur fällt es dem medizinischen Laien noch weitaus schwerer, die daraus resultierenden Unsicherheiten auszublenden (Vogd 2005, S. 8).

Für eine Reduzierung des Medikamentenverbrauchs muss auch die Arzt-Patienten-Interaktion analysiert werden, in der die Medikamentenvergabe konkret umgesetzt wird.

Nach Vogd (2005, S. 244 f.) und Stollberg (2009, S. 206) kommt hier die Funktion der evidence-based medicine zum Tragen, indem der medizinische Experte bei Unsicherheiten der Behandlung auf spezielle fachorganisatorisch legitimierte Leitlinien zurückgreifen kann (Koch und Sawicki 2009, S. 1). Medizinischen Laien stehen solche Instrumentarien nicht zur Verfügung, sie müssen dem Befund vertrauen, wenn sie behandelt werden wollen, und dann mehr oder weniger die Programmausführung erdulden.

Wenn eine generelle Reduzierung des Medikamentenverbrauchs bewirkt werden soll, dann muss neben exogenen Faktoren (Demografie, Anspruchshaltung) und endogenen Programmierungen (evidenzbasierten Leitlinien) auch die Arzt-Patienten-Interaktion analysiert werden, in der die Medikamentenvergabe konkret umgesetzt wird (siehe dazu auch Pahl 2015, S. 16).

Die Arzt-Patienten-Interaktion

In der Interaktion zwischen Ärztinnen/Ärzten und Patientinnen/Patienten findet die Operationalisierung von Leistungserwartung und -erbringung ihren Ausdruck, wenn individuelle Ansprüche auf Strukturen (die Organisation des Erstkontakts) und Programme (die rationalisierte evidenzbasierte Medizin) treffen und Festlegungen getroffenen werden, die alle weiteren Vorgänge konditionieren (Therapien, Überweisung, Abrechnung etc.). Die Ärztin/der Arzt erlebt nicht dasselbe wie die Patientin/der Patient und muss trotzdem handeln, und die Patientin/der Patient hat nicht dasselbe Handlungsvermögen wie die Ärztin und muss dennoch die Behandlung erdulden, um eine Heilung zu erreichen (Toombs 1992, S. 118). Im Folgenden nennen wir drei Mechanismen, die im Arzt-Patienten-Verhältnis ermöglichende und einschränkende Wirkungen auf Behandlungsformen und auf den Medikamentenverbrauch haben.

Geldzahlungen zur Motivation eines wechselseitigen Austauschs

Geldzahlungen motivieren die Behandlung aufseiten der Leistungserbringer und gleichzeitig die Anspruchshaltung aufseiten der Leistungsempfänger, für die geleisteten Zahlungen die bestmögliche Behandlung zu erhalten. Mitglieder von Solidargemeinschaften können leicht den Anspruch entwickeln, mindestens so viele Leistungen zu erhalten, wie es ihren Beiträgen in die Solidarkassen entsprechen würde. Niemand strebt ernsthaft einen Krankenzustand an, aber wenn dieser Fall eintritt, dann lässt sich durch den Mechanismus der Geldzahlung kaum eine freiwillige Selbstbeschränkung nur auf das Nötigste abringen (abgedämpft durch positive Anreize wie Prämien oder negative Anreize wie Zuzahlungen). Auch aufseiten der Leistungserbringer geraten Anreizstrukturen in die Diskussion, die eine Behandlungssteigerung erwarten lassen. Zum einen werden niedergelassene Ärzte und Kliniken gezwungen, durch die Abrechnung von Einzelleistungen das Kriterium der „Rentabilität“ in das Behandlungskalkül einzubeziehen, was eher eine Entwicklung in Richtung optimale Auslastung von Personal und Apparatur erwarten lässt (Vogd 2005). Zum anderen offerieren am Markt konkurrierende Versicherungsgeber potenziellen Beitragszahlern immer mehr Leistungsversprechen (Offermanns 2009). In diesem Sinne muss damit gerechnet werden, dass über Art und Umfang der Krankenbehandlung nicht allein nach Kriterien des medizinisch Notwendigen, sondern ebenso nach dem medizinisch Möglichen entschieden wird. Solvente Patientinnen/Patienten fragen nach, was je nach Situation auf dem Medizinmarkt angeboten wird. Patientinnen/Patientenen sind nicht mehr nur Erduldende, sondern ebenso handelnde Kunden auf dem Medizinmarkt, welche „die Ungleichheit des Wissens zwischen Arzt und Patientin/Patient durch Wahlhandlungen auf dem medizinischen Markt“ kompensieren (Stollberg 2007, S. 359).

(System)Vertrauen zur Überwindung zeitlich bedingter Unsicherheiten

Vertrauen zielt auf die Überbrückung der zeitlichen Differenz von Gegenwart und Zukunft, die uns dazu zwingt, dass wir uns in der Gegenwart auf Situationen einlassen, ohne dass wir die in der Zukunft anfallenden Folgen schon kennen. Deshalb ist Vertrauen ein wesentlicher sozialer Mechanismus in der Interaktion von Ärztin/Arzt und Patientin/Patient. Vertrauen ist dabei keine mentale Kategorie. Vielmehr geht es um den risk taking act in der sozialen Beziehung (Skinner et al. 2013). Die Patientin/der Patient kann (und muss) gerade bei der Krankenbehandlung auch widerwillig vertrauen, und zwar der Profession allgemein oder einzelnen Personen. Die Ärztin/der Arzt wiederum muss einen Vertrauensvorschuss durch den Hinweis auf den Standesethos der Profession einfordern, um Konsultation zu ermöglichen. Nur so kann die Patientin/der Patient im Folgenden die Rolle der/des Schutzbefohlenen und Konsultierenden einnehmen. Dieses Ethos blendet andere Codierungen – vor allem monetäre Aspekte – aus: Thematisiert wird zunächst nur Heilung. Kommt hingegen der Verdacht auf, auch andere Kriterien, zum Beispiel die Wirtschaftlichkeit eines Krankenhauses oder einer Praxis, könnten eine dominierende Rolle einnehmen, dann gerät dieser Vertrauensvorschuss in Gefahr (Wendt 2003, S. 273).

Vogd (2005) diagnostiziert hier Verschiebungen innerhalb der Rationalität moderner Behandlungseinrichtungen, in denen eine auf langfristiger Vertrautheit basierende Beziehung zwischen Ärztin/Arzt und Patientin/Patient nicht mehr vorgesehen ist und einem „Systemvertrauen“ weichen muss (Shapiro 1987; Luhmann 1988). Die Bedeutung des Professionellen schwindet zugunsten arbeitsteiliger Organisation (Programm aus ärztlicher Einstellung der Medikation, Labor-Monitoring, therapeutische Anwendungen durch Spezialisten, Stationsdisziplin). Als funktionale Äquivalenz zum vertrauten Arzt wird versucht, Vertrauen in unpersönliche Medikamentenmarken sowie in Diagnose- und Behandlungsprogramme bzw. -techniken aufzubauen, zum Beispiel über Zertifizierungen, Rekurs auf Tradition, Leitbilder, evidenzbasierte Therapie- und Pflegeangebote (Vogd 2005, S. 255). Wenn aber Vertrauen auf Image basiert, dann treffen sich Kunden und Dienstleister in komplementären Rollen. Erstere wählen nach qualitativen und quantitativen Leistungsaspekten aus, was Letztere in maximaler Hinsicht anbieten, um ein erfolgreiches Image überhaupt erst einmal herstellen und dann aufrechterhalten zu können. In dieser Hinsicht agieren Ärzte und Patientinnen/Patienten als „Bündnispartner“, behauptet Vogd: Die aufgeklärten Patientinnen/Patienten können dazu genutzt werden, der von außen bezweckten Limitierung des Systems entgegenzuwirken, wenn diese die Bezahlung von teuren und aufwendigen Therapien bei den Krankenkassen einfordern oder selbst übernehmen (ebd., S. 255). Auch hinsichtlich des Vertrauensmechanismus wirken demnach Kräfte tendenziell in Richtung Ausdifferenzierung und Ausweitung von Krankenbehandlung.

Die Unterstellung von Autorität zur Überwindung von Wissensdifferenzen

Überall dort, wo eine Wissensdifferenz die Situation prägt, kann die Unterstellung eines Erläuterungspotenzials seitens des Experten, das von dem Laien nicht in Anspruch genommen wird, Komplexität reduzieren und Zeit einsparen (Friedrich 1958, S. 47). Deshalb ist Autorität in der Arzt-Patienten-Interaktion ein weiterer wichtiger Mechanismus, der die Übernahme von Informationen ohne langwierige Erläuterung erlaubt. Autorität zielt also auf eine sachliche Differenz von Wissen und Nichtwissen, und diese Differenz verschiebt sich durch aktuelle Entwicklungen, weil die medizinische Profession die alleinige Kontrolle über das medizinische Wissen zu verlieren scheint. Patientinnen/Patienten erhalten durch die Veröffentlichung von medizinischem Wissen durch zahlreiche Verbreitungsmedien einen umfangreichen Zugang zu Informationen. Vor allem das Internet spielt eine große Rolle, da es alternative Expertisen bereitstellt oder die Möglichkeit des anonymen Austauschs mit anderen von Krankheit Betroffenen erlaubt (O’Grady et al. 2008). Dieser Informationszugang kann die Autoritätsunterstellung unterminieren und zur Infragestellung von Diagnosen und Therapievorschlägen motivieren. Stevenson (2006, S. 238 f.) spricht deshalb bereits von einem geänderten Rollenverständnis aufseiten der Leistungsempfänger als consumerist im Gegensatz zur/zum passiven Patientin/Patienten. Dies kann den Wechsel zu einem „passenden“ Arzt bzw. eine verstärkte Selbstmedikation, aber auch eine Ablehnung von Medikamenteneinnahmen zur Folge haben. Das bedeutet, der Mechanismus der Autorität kann wiederum in beide Richtungen wirken: Ausweitung und Einschränkung.

Zukünftige empirische TA-Studien zur Reduzierung des Medikamentenkonsums sollten auch soziale Mechanismen als Systemmechanismen beleuchten.

Aus diesen knapp gehaltenen Ausführungen lässt sich schließen, dass die vorgestellten sozialen Mechanismen auf der Ebene der Interaktion Lösungen für Probleme der Unsicherheitsabsorption darstellen, die im Weiteren eine Systemleistung zu erbringen erlauben, aber hinsichtlich der Kontrolle von individuellen Behandlungsansprüchen schwer zu instrumentalisieren sind.[3]

Fazit

Das soziale System der Krankenbehandlung verleiht sich durch Solidar-, Bedarfsdeckungs- und Sachleistungsprinzipien Einschränkung der eigenen Aktivitäten (Simon 2005, S. 35 ff.). Wir wissen aber, dass Versicherungen und Versicherte das Leistungsspektrum durch Angebot und Nachfrage sukzessive erweitern. Auch wird Bedarf generiert, indem durch verschärfte Kriterien ehemals Gesunde zu Kranken umdefiniert werden (Schlimpert 2018). Zusätzliche Leistungen werden durch den wissenschaftlich-technischen Fortschritt permanent hinzuerfunden (Bratan und Wydra 2013). Das System selbst tendiert eher zur Überhöhung seiner selbst, also zur Hypostasierung der eigenen Funktion. Die Stilisierung der modernen Gesellschaft als „Gesundheitsgesellschaft“ kann als Indiz dafür gewertet werden (Pelikan 2009).

In aktuellen Studien zur Reduzierung des Medikamentenkonsums werden eine Vielzahl von Regulierungs- und Steuerungsversuchen – monetärer oder rechtlicher Art – diskutiert. Es stehen aber kaum empirische Forschungen zur Verfügung, die soziale Mechanismen in ihr Forschungsdesign aufgenommen haben. Das noPills-Projekt ist (meines Wissens nach) die einzige Ausnahme. Im Abschlussbericht wird zum Beispiel von den ambivalenten Ergebnissen hinsichtlich monetärer Steuerungsversuche berichtet: „A high price could make a product either more or less attractive to buy“ (Pahl 2015, S. 48). Mit Bezug auf Vertrauen als Element der Steuerung des Medikamentenkonsums ist eine Vielzahl von Adressaten von Interesse, da Patientinnen/Patienten nicht nur auf Ärztinnen/Ärzte, sondern auch auf Freunde und Verwandte als Informationsressource zurückgreifen (ebd., S. 16). Versuche, Autorität als Steuerungsmechanismus zu nutzen, können an dem Widerstand der Patientinnen/Patienten scheitern: „distrust and negative experience predominate in authoritative relationships.“ (ebd., S. 48)

Diesem Beispiel folgend, sollten zukünftige empirische TA-Studien sich darum bemühen, soziale Mechanismen – wie in dieser Ausarbeitung angedeutet – als Systemmechanismen zu beleuchten: Geldzahlung, Vertrauen, Autorität entfalten ihre Wirkung in diesem Fall gerade in Richtung Geschwindigkeitsvorteile, Minderung der Reibung bzw. Absorption von Unsicherheit. Wenn ökologische Rücksichtnahmen, z. B. hinsichtlich der Qualität des Trinkwassers, in die systemischen Vorgänge einbezogen werden sollen, um generelle Verhaltensänderungen zu bewirken (Verschreibungspraktiken, Einnahmegewohnheiten, etc.), dann müssen dazu solcherart Mechanismen untersucht und besser verstanden werden. Appelle an die guten Absichten Einzelner sind vermutlich funktional im Nachteil.

Fußnoten

[1]   Umweltrelevante Wirkstoffe sind den Laien als Antibiotika (antibakterielle Mittel, Antiinfektiva, bakterientötende Mittel), Antiepilektika, Lipidsenker (Cholesterinsenker), Sexualsteroide oder Zytostatika (Zellwachstum hemmende Stoffe, Krebsmittel, Mittel gegen Autoimmunerkrankungen oder als Stoffe zur Hemmung der Zellteilung) bekannt (Schulte-Oehlmann et al. 2007, S. 168).

[2]   Zum Zeitpunkt der Einreichung dieses Artikels war der Bericht noch nicht veröffentlicht.

[3]   Ein weiterer Diskussionsstrang zielt auf langfristige, präventive, die Lebensführung betreffende Strategien, die eine Nutzung von Medikamenten eindämmen könnten. Dem können wir an dieser Stelle leider nicht nachgehen. Nur so viel: Präventionserwartungen erzwingen Entscheidungssituationen, hinsichtlich der Änderung von Lebensstilen oder der Inanspruchnahme von Vorsorgeuntersuchungen bzw. vorsorglichem Technikeinsatz (Leanza 2010, S. 259). Die Verhaltensänderung, die erst langfristig Erfolge zeitigen wird, steht der kurzfristig relativ sicher wirkenden Behandlung mit Medikamenten gegenüber.

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Autor

Dr. Christian Büscher

ist Senior Researcher am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) am Karlsruher Institut für Technologie (KIT).