Deutscher Geographentag: Umgang mit Risiken - ein interdisziplinärer Diskurs (Bayreuth, 29. September - 5. Oktober 2007)

Tagungsberichte

Umgang mit Risiken – ein interdisziplinärer Diskurs

Bericht vom Deutschen Geographentag
Bayreuth, 29. September - 5. Oktober 2007

von Volker Stelzer, ITAS, Ulrike Weiland, Annemarie Ebert, Annett Steinführer und Sigrun Kabisch, UFZ

Vom 29. September bis zum 5. Oktober 2007 fand in Bayreuth der Deutsche Geographentag 2007 als Kongress für Wissenschaft, Schule und Praxis statt. Es trafen sich rund 2.000 Geographen und Vertreter anderer Disziplinen unter dem Leitthema „Umgang mit Risiken. Katastrophen – Destabilisierung – Sicherheit“. Schon am Programm, aber viel mehr noch in den über 500 Präsentationen (Vorträge, Poster, Exkursionen u. a.) zeigte sich die unterschiedliche Sichtweise des Risikobegriffs von der sozialwissenschaftlichen und der natur- bzw. ingenieurwissenschaftlichen Betrachtungsweise. Diese unterschiedlichen Sichtweisen, aber auch Versuche, Unterschiedlichkeit zu überwinden, waren Gegenstand vieler Präsentationen. Einige ausgewählte Vorträge werden im Folgenden dargestellt:[1]

1     Risikoforschung als Schnittstelle zwischen Natur- und Sozialwissenschaften

Im Keynote-Vortrag entwickelte Richard Dikau (Bonn) unter dem Thema „Katastrophen, Risiken, Gefahren – Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“, ausgehend von dem naturwissenschaftlich-technischen Risikoverständnis und dem Risikobegriff in den Sozialwissenschaften, eine Definition eines geographischen Risikobegriffs. Der naturwissenschaftlichtechnische Risikobegriff sei quantitativ und werde z. B. bei technischen Risiken und in der Versicherungswirtschaft angewendet. Er orientiere sich am Sicherheitsansatz (formalnormativer Risikobegriff: Risikoformel Gefahr [Schadenspotenzial] x Wahrscheinlichkeit p = Erwartungswert eines in Zukunft eintretenden Schadens). Dies besage zugleich, dass es bei häufigen Ereignissen mit geringen Schäden und bei seltenen Ereignissen mit hohen Schäden zum gleichen Risiko kommen könne.

Die Sozialwissenschaften üben fundamentale Kritik am naturwissenschaftlichen Risikobegriff. Zu den Kritikpunkten zählen, dass kein einheitlicher theoretischer Rahmen, keine einheitlichen Begriffsdefinitionen vorhanden wären, und auf die Frage nach dem Akzeptanzniveau sowie auf die Wahrnehmung von Zukunft als Risiko nicht eingegangen werde. Es werde zwischen Risiko und Gefahr unterschieden und Risiko als immer mit einer Entscheidung verbunden definiert, so Dikau. Nach Bonß gehe es um Entscheidungsprobleme und nicht intendierte Folgen. Weiterentwicklungen des Risikobegriffs beträfen die Fragen nach dem Umgang mit Unsicherheit und nicht intendierten Folgen (aus Gegenwartsentscheidungen), das Gesellschaft-Naturverhältnis, die Zweideutigkeit der Moderne, die Ambivalenz des Handelns.

Zum Thema Risikomanagement verwies Dikau auf GAIA-Aufsätze von Merz und Emmermann (2006) und der Erwiderung von Kuhlicke und Steinführer (2007). Diese seien für ihn ein „typischer“ Disput zwischen Natur- und Sozialwissenschaftlern.[2] Dikau zog den Schluss, dass Geographische Risikoforschung zunehmend als Katastrophenbewältigung im sozialen Umfeld zu verstehen sei.

2     Naturkatastrophenforschung

Ben Wisner (Oberlin, USA) führte zum Thema „Taking the ‘Naturalness’ out of ‘Natural’ Disasters oder: Sind Katastrophen natürlich?“ aus, dass Naturereignisse (Tsunamis, Erdbeben) zwar natürlich, Naturkatastrophen aber gesellschaftlich bedingt seien (earthquakes = classquakes). Die Risikoformel nach Ben Wisner ist

R = H x [(V/C)] – M.

R = risk, H = hazard = natural triggering event, V = vulnerability = susceptibility + difficulties in recovering (reduced by C), C = capacity (social capacity, recovering etc.), M = mitigation: reduces the potential effects of H

Deshalb forderte der Referent u. a., dass DRR (Disaster Risk Reduction) mit den MDG (Millennium Development Goals) verknüpft werden sollten. Eine Organisation, wo dies schon geschehen sei, ist das GDN (Gender Disaster Network online). Dabei ist sein Grundverständnis – „A textbook is not enough!“ –, dass der Einbezug der lokalen Bevölkerung im aktivierenden Sinne und nicht nur pro forma notwendig sei, um Risiken zu bewältigen. Hierzu hob er die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Risikobewertung durch Schulen, Entscheidungsträger und die Zivilgesellschaft hervor. Wichtige Parameter dieser Bewertung seien: Verstärkung des Selbstschutzes, Situation (raum- und gruppenspezifisch), Fokus auf anzuwendende Kapazitäten und Methoden wie z. B Gefahrenkarten, Problembäume, Werteranking, SWOT-Analysen.[4]

In Peter Weichharts (Wien) Plenarvortrag wurde auf „Schlüsselkonzepte der Katastrophenforschung und der ,Dritten Säule’: Risiko, Panarchie, Resilienz und Koevolution“ eingegangen.[5] Er führte aus, dass die Dritte Säule der Geographie (= Gemeinsamkeiten bzw. die Schnittmenge zwischen physischer und Anthropogeographie) die Gesellschaft-Umwelt-Interaktion als eigenständiges Erkenntnisobjekt habe und ihre Schlüsselkonzepte Risiko, Resilienz, Vulnerabilität, Kultivation und Sozialisation von Materie, Nachhaltigkeit, Panarchie, Governance, Komplexität u. a. seien. Angesichts der Notwendigkeit einer theoretischen Fundierung der „Dritten Säule“ versuchte Weichhart, einige dieser Schlüsselkonzepte zu klären:

Risiko besitze alle Nachteile eines nicht definierten Begriffs: Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit etc. Es gebe keine „wahren“ Bedeutungen oder endgültigen Klärungen, weshalb er sprachpragmatisch herangehe. Der Referent erläuterte die Definition von Risiken nach der Distinktionstheorie (= Definition eines Begriffs über einen Gegenbegriff). Danach habe Risiko drei Distinktionsdimensionen:

Er stellte die These auf, dass es keinen einheitlichen Risikobegriff gebe, sondern je nach Erkenntnisinteresse unterschiedliche Risikobegriffe verwendet werden müssten.

Resilienz sei die Fehler- oder Störungstoleranz von Systemen. Ein hohes Maß an Resilienz werde in der Regel positiv bewertet. Beim Resilienzkonzept wird von einer Homöostase ausgegangen und eine Systemevolution nicht berücksichtigt. Das Resilienzkonzept entspringt einem älteren Stand der Systemtheoriediskussion und ist für die Erklärung des Verhaltens komplexer Systeme (Gesellschaft-Umwelt-Systeme) nicht angemessen. Panarchie sei die strukturelle Kopplung von Systemen (nach Lance Gunderson, Buzz Holling).

Über „Naturkatastrophenforschung – ein integrativer Ansatz in der Natur-Gesellschafts-Dichotomie“ berichtete Thomas Glade (Wien).[6] Er führt aus, dass Risikoforschung keine Theorie habe, aber verschiedene Konzepte, und dass Geographie prädestiniert sei für die Verbindung physischer und sozialer Prozesse. Er erachtete den klassischen ingenieurwissenschaftlichen Ansatz „risk analysis => risk assessment => risk treatment“ als nicht weit reichend genug und forderte einen interdisziplinären Zugang über eine naturwissenschaftliche „risk analysis“, die zu einer sozialwissenschaftlichen „risk evaluation“ werde, an die sozialwissenschaftlich ausgerichtete Formen des „risk management“ anschließen könnten, die wiederum Ziele von „risk governance“ verfolgten. Im DFG-Projekt „Interrisk: Gravitative Massenbewegungen in der Schwäbischen Alb“ seien bisher nur physisch-geographische Analysen vorgenommen worden, es solle aber eine integrative Betrachtung erfolgen. Herausforderungen sah Glade dabei

  1. in der unterschiedlichen Risikowahrnehmung der Akteure und Betroffenen,
  2. in den Fragen nach Akteuren, Betroffenen und Macht (Risikogovernance),
  3. darin, dass Risiken Wandel unterliegen: Umwelt-, Gesellschafts- (Werte-), technischer Wandel und deshalb Veränderungen berücksichtigt werden müssen,
  4. in der Unsicherheit der Ergebnisse der Risikoforschung (Überlagerungen/Kopplungen),
  5. in der Integration der Vorsorge/Frühwarnung in die Raumordnung,
  6. in der Theorieentwicklung (Risikozyklus; Anwendung der Systemtheorie: Emergenz).

3     Risiken für die Stadtentwicklung

Da Städte Orte sind, in denen sich Risiken in besonderem Maße kumulieren und in Zukunft immer mehr Menschen in Städten leben werden, wird im Folgenden auf die Fachsitzung „Risiken für die Stadtentwicklung Lateinamerikas“ unter der Leitung von Rainer Wehrhahn (Kiel) und Ulrike Weiland (Leipzig) eingegangen:

Jörn Birkmann vom Institute for Environment and Human Security der United Nations University Bonn berichtete über „Naturgefahren, Vulnerabilität und Stadtentwicklung“. Globale Hotspots für zukünftige „Natur“-Katastrophen seien urbane Räume und Megacities in Lateinamerika und Asien. Die Stadtentwicklung in Lateinamerika sei einerseits mit zunehmender Häufung und Intensität von Naturgefahren konfrontiert wie z. B. Hurricanes in Mittelamerika; andererseits seien neue schleichende Naturgefahren eine wesentliche Bedrohung, wie z. B. die Grundwasserabsenkung in Mexiko-City. Darüber hinaus sei die dynamische Veränderung der Vulnerabilität und der Wahrnehmung von Risikofaktoren eine zentrale Herausforderung für eine nachhaltige Stadtentwicklung. Der Vortrag skizzierte „alte“ und „neue“ Naturgefahren für Städte in Lateinamerika. Anschließend wurden das für die Risikominderung wesentliche Konzept der Vulnerabilität vorgestellt und die Komponenten der Verletzbarkeit und Bewältigungspotenziale verdeutlicht. Anhand von ausgewählten Beispielen, wie z. B. Städten, die von Hurricane „Mitch“ betroffen waren, wurde der Komplex Naturgefahren, Vulnerabilität und Stadtentwicklung verdeutlicht. Erste Schlussfolgerungen für Strategien zur Förderung einer auf Nachhaltigkeit zielenden Stadtentwicklung wurden formuliert.

Der Vortrag von Dirk Heinrichs (UFZ Leipzig) widmete sich dem Thema „Risiken für eine nachhaltige Entwicklung Lateinamerikanischer Megacities – Die Forschungsinitiative Risk Habitat Megacities der HelmholtzGemeinschaft“.[7] Megacities sind durch ihre große Ansammlung von Menschen, Kapital und Infrastrukturen sowie ihre starke Verflechtung mit dem Umland besonders wichtige Aktionsräume, in denen entscheidende Weichen für eine nachhaltige Entwicklung u. a. des Subkontinents Lateinamerika gestellt werden. Gleichzeitig sind sie erheblichen Risiken ausgesetzt. In der Forschungsinitiative „Risk Habitat Megacity“ werden ausgewählte Risiken in lateinamerikanischen Megacities untersucht sowie Konzepte und Strategien für eine nachhaltige Stadtentwicklung gemeinsam mit lokalen Partnern erarbeitet. Risikoanalysen und -bewertungen werden für sieben Vertiefungsfelder, z. B. für Flächennutzungsmanagement, sozialräumliche Differenzierung oder die Energieversorgung durchgeführt. Die Vertiefungsfelder werden jeweils entlang von drei übergeordneten Konzepten „Nachhaltige Entwicklung“, „Risiko“ und „Governance“ untersucht. Im Vortrag wurden Forschungskonzept und erste Ergebnisse vorgestellt.

Thomas Ammerl (München) berichtete unter der Überschrift „Aktuelle Risiken für die Stadtentwicklung Havannas“ über Teile seiner Dissertation, die in das internationale EU-Projekt CAESAR (Cooperative applied environmental systems research of urban-rural interface – Sustainability in water management and land use in the Havana region) eingebunden ist. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie dem Beginn der ökonomischen Krise Kubas (Período Especial) nähmen ökologische Probleme (Stadterneuerung, Wasserversorgung bzw. Abwasserentsorgung, Müllentsorgung bzw. -endlagerung, Grünflächen, urbane Landwirtschaft) deutlich zu. Vor allem in der kubanischen Hauptstadt Havanna konzentrierten sich heute diese Probleme, mit entsprechenden gesundheitlich-hygienischen Konsequenzen für die Bewohner. Da sich Havanna seit Beginn der 1990er Jahre gleichzeitig zur wichtigsten innerkubanischen Migrationsdestination entwickelt habe, komme es im Falle von Hurrikanereignissen und auftretenden Überschwemmungen zu regelmäßigen Evakuierungsmaßnahmen genau derjenigen Bereiche, welche laut offizieller Stadtentwicklungsplanung von Besiedlung frei zu halten seien. In den vergangenen Jahren reagierte die kubanische Regierung mit weit reichenden Veränderungen ihres Ressourcen- bzw. Risikomanagements, indem der Vorsorge eine höhere Bedeutung beigemessen wurde. Einen wichtigen Beitrag liefere hierbei die Berücksichtigung von Interaktionen zwischen naturgeographischen bzw. planerischen Wirkungskomplexen. Im Rahmen des Vortrages stellte der Autor anschauliche Beispiele für eine nachhaltige Umwelt- und Stadtentwicklungsplanung Havannas vor, welche versuchen, auf die dargelegten Risiken einzugehen.

Timothy Moss und Carsten Zehner vom Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung (Erkner) gingen auf ortsbasierte Lösungen für ein nachhaltiges Wassermanagement in Guadalajara ein. „PlaceMeg – ‚Place-Making’ für nachhaltige Megastädte von morgen“ ist der Titel eines Forschungsprojekts über die Wasserver- und Abwasserentsorgung der Metropolenregion Guadalajara in Mexiko. Das Projekt „PlaceMeg“ wird vom BMBF im Rahmen des Forschungsschwerpunktes „Forschung für die nachhaltige Entwicklung der Megastädte von morgen“ gefördert. Ziel des Projektes ist es – gemeinsam mit Akteuren in der Metropolenregion Guadalajara – Konzepte, Methoden, Strategien und Technologien zu entwickeln, um verstärkt kontextsensible, verbraucherorientierte und ortsbasierte Lösungen zu Problemen des Wassermanagements anzuwenden. Dabei stehen vor allem marginalisierte Stadtsiedlungen im Vordergrund, die von einem schnellen und unkontrollierten Bevölkerungswachstum geprägt sind. Das in diesem Zusammenhang entwickelte Wissen soll darüber hinaus auch für andere im Entstehen befindliche Megastädte übertragbar und nutzbar gemacht werden.

4     Fazit

Dieser Geographentag zum Umgang mit Risiken hat gezeigt, wie weit die Geographie schon in der Integration physisch-geographischer und anthropogeographischer Forschungsansätze fortgeschritten ist. Schließlich ist es eine Stärke der Geographie, die Kombination dieser beiden Richtungen einzusetzen. Es hat sich gezeigt, dass sich diese interdisziplinäre Sichtweise erfreulicherweise bereits bei einer ganzen Reihe von Akteuren durchgesetzt hat, obwohl die Strukturierung in physisch- und anthropogeographische Lehrstühle in den deutschen Geographischen Instituten nach wie vor fest verankert ist.

Anmerkungen

[1]  Die Kurzfassungen der meisten Vorträge sind unter http://www.bayceer.uni-bayreuth.de/geographentag/de/programm/bayconf/zeitplan.php (download 5.5.08) zu finden und eine Sammlung der wesentlichen Vorträge wird erscheinen unter: Kulke, E. (Hg.), 2008: Umgang mit Risiken. Tagungsbericht und wissenschaftliche Abhandlungen des Deutschen Geographentages 2007 Bayreuth

[2]  Vgl. Merz, B.; Emmermann, R., 2006: Zum Umgang mit Naturgefahren. In: Reihe Naturgefahren Deutschland: Vom Reagieren zum Risikomanagement, GAIA 4/2006, S. 265ff.; Kuhlicke, Chr.; Steinführer, A., 2006/07: Wider die Fixiertheit im Denken: Risikodialoge über Naturgefahren – Reaktion auf B. Merz, R. Emmermann. In: GAIA 15/4 (2006), S. 265-274 und in GAIA 16/2 (2007), S. 91f.

[3] Wichtige Vertreter dieser Meinung sind Robert Geipel und Hans-Georg Bohle.

[4] Ausführliche Informationen zu diesem Konzept finden sich unter http://www.proventionconsortium.org/?pageid=39 (download 10.4.08).

[5] Die Vortragsfolien sind unter http://homepage.univie.ac.at/peter.weichhart/php/WeichhartP246.pdf (download 10.4.08) abgelegt.

[6] Die Vortragsfolien sind unter: http://homepage.univie.ac.at/peter.weichhart/php/Glade2007_oBilder.pdf (download 10.4.08) zu finden.

[7] Weiterführende Informationen zu dem Projekt finden sich unter http://www.risk-habitat-megacity.ufz.de/ (download 10.4.08).