Thema

Theorie der Technikfolgenabschätzung reloaded

Ten years after

Stefan Böschen, Human Technology Centre, RWTH Aachen University, Theaterplatz 14, 52062 Aachen (stefan.boeschen@humtec.rwth-aachen.de)

Ulrich Dewald, Gesellschaft für Angewandte Kommunalforschung mbH (dewald@gefak.de)

Vor etwa zehn Jahren identifizierte eine aufflackernde Debatte die Charakteristika Folgenorientierung, Beratungsbezug und Wissenschaftlichkeit als mögliche Eckpfeiler einer Theorie der Technikfolgenabschätzung (TA). Danach ist es rasch wieder still geworden. Die Beiträge in dem hier vorliegenden TATuP-Thema zeigen jedoch, dass die zentralen Fragen nach der Positionierung von TA und nach ihrer Konzeption der Technikbewertung als Forschungs- und Beratungsprogramm eher an Virulenz gewonnen haben.

Theory of technology assessment reloaded

Ten years after

Some ten years ago, an emerging debate identified the following characteristics as possible cornerstones of a theory of technology assessment (TA): assessing impacts, complying with scientific standards, and providing policy advice. However, the debate soon fell silent again. However, the contributions to this issue’s TATuP Theme show that key questions concerning the positioning of TA as well as its concept of TA as both research and policy advice program have become ever more virulent.

Keywords: theory, technology assessment

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TATuP Bd. 27 Nr. 1 (2018), S. 11–13, https://doi.org/10.14512/tatup.27.1.11

Vor etwa zehn Jahren gab es ein kurzes Aufflackern einer Debatte um eine Theorie der Technikfolgenabschätzung (TA) (TATuP 2007, 2008). Ausgehend vom Befund eines ‚Ausfransens‘ der TA-Praxis bei gleichzeitiger Wiederkehr konzeptioneller Debatten – etwa um die Verortung von TA im Wissenschaftssystem, oder der Konstruktion und Qualität von Zukunftswissen – wurden mögliche Eckpfeiler einer TA-Theorie ausgemacht (Grunwald 2007): Folgenorientierung, Beratungsbezug und Wissenschaftlichkeit gelten seither als initiale Setzungen der Theoriearbeit. Danach ist es rasch wieder still geworden. Diese Stille erscheint umso erstaunlicher, als die zentralen Fragen der Positionierung von TA und mit ihr verwandten Konzeptionen der Technikbewertung als Forschungs- und Beratungsprogramm eher an Virulenz gewonnen denn verloren haben. Man denke nur an Unsicherheiten über den Status von Wissen, zumal in Zeiten so genannter „alternativer Fakten“, oder daran, dass Wertdifferenzen unter post-demokratischen Bedingungen eine neue Brisanz erhalten. Zugleich gibt es Stimmen, die eine stärker engagierte TA fordern. Jedoch: Greift die TA stärker in gesellschaftliche Debatten ein, steht u. U. ihre Rolle als kritisch-distanzierte Beobachterin zur Disposition.

Die Frage nach einer Theorie der TA hat also nichts an ihrer Aktualität verloren und wird von den Autorinnen und Autoren dieses TATuP-Themas erneut aufgegriffen. Die Frage ist aber, in welche Richtungen heute Antworten auf diese Problemstellung gesucht werden. Welche Problemstellungen zeigen sich heute? Woran orientieren sie sich? Auffällig ist zunächst, dass die von Grunwald (2007) gemachten Unterscheidungen für die Strukturierung der Reflexion über TA weiterhin nichts an ihrer Gültigkeit verloren haben. Zugleich werden diese Dimensionen anders eingebettet. Auch scheinen Vorschläge zu deren Erweiterung sinnvoll. Mithin zeigen sich also Problemstellungen, die als Daueraufgabe weiterverhandelt werden müssen, wie etwa Formen der Folgenreflexion, zudem aber auch solche, die auf veränderte Rahmenbedingungen für TA hin entworfen werden. TA als sozio-epistemische Praxis unterliegt also einem Wandel, der nicht allein aus den innerepistemischen Entwicklungsprozessen gespeist, sondern darüber hinaus gleichermaßen von gesellschaftlichen Veränderungen (sei es diskursiv, handlungsbezogen oder institutionell) befeuert wird. Im Unterschied zur Theoriedebatte von 2007 und 2008 integrieren daher viele Beiträge dieses TATuP-Themas Elemente des äußeren Bezugsrahmens in das theoretisch-konzeptionelle Profil der TA.

Auffallend ist zunächst der Umstand, dass der übergreifende politische Rahmen, in dem TA gedacht wird, sich verändert. Noch vor zehn Jahren konnte es als eine Selbstverständlichkeit angesehen werden, dass TA als Form wissenschaftlicher Politikberatung dazu dient, demokratische Entscheidungsprozesse zu verbessern. TA ist ein Kind der Demokratie und von daher wurde TA als sozio-epistemische Praxis automatisch an die Prämisse demokratisch-politischer Ordnung geknüpft. Jedoch globalisiert sich in der Zwischenzeit TA, und vor diesem Hintergrund stellt sich in der Tat die Frage, ob diese Prämisse demokratisch-politischer Ordnung für jede Form von TA gilt. In diesem Sinne argumentiert Armin Grunwald, dass TA und Demokratie eine untrennbare Einheit darstellen und dass es entsprechender Sensibilität innerhalb der TA-Community bedürfe, um anderslautende Entwicklungen als „Etikettenschwindel“ zu entlarven. Die Instrumente dafür zu entwickeln, stellt eine wichtige theoretische Aufgabe der TA dar, die sich in diesem Ausmaß vor zehn Jahren noch nicht gezeigt hat.

Technikfolgenabschätzung ist eingewoben in gesellschaftliche Veränderungsprozesse, an denen sie gestaltend mitwirkt. Daher gelten für sie hohe Anforderungen auch an die theoretische Sensibilität.

Dass sich die Zeiten ändern, lässt sich auch für die Entwicklung von TA-Aktivitäten innerhalb von Demokratien nachweisen. Denn das Verhältnis von TA und Demokratie mag zwar seinem Charakter nach eine notwendige Verbindung sein, jedoch verändern sich die Formen von TA im Laufe der Zeit. Ein wichtiger Indikator hierfür ist, wie TA letztlich inhärent an Zeitdiagnosen gebunden ist. Dies weist Suzana Alpsancar in ihrem Beitrag am Beispiel der Theorie der Technisierung von Günter Ropohl nach. Dabei wird deutlich, dass Theorien der TA notwendigerweise historisch-normative Signaturen eingeschrieben sind. Mit einer anderen Optik untersucht Helge Torgersen eine ähnliche Problemstellung, indem er – in Abgrenzung zu den drei schon von Grunwald identifizierten Dimensionen der TA – noch die Dimension der Normativität ins Spiel bringt, welche geeignet ist, TA in ihrem jeweiligen Zeitbezug einzuordnen. Denn die jeweiligen normativen Entwicklungsziele, welche besonders in Momenten des Umbruchs sichtbar werden, unterschieden sich und müssten deshalb entsprechend kenntlich gemacht werden. Diesen Gedanken arbeiten auch Dobroć et al. unter Verweis auf die Überlegungen von Hack zur industriegebundenen Begrenzung von Räumen der Folgenreflexion aus. Schließlich generalisieren Böschen und Dewald in ihrem Beitrag diese Argumentationsfigur zeitdiagnostischer Bindungen, indem sie der Praxis von TA zwei unterschiedliche Modi operandi zuordnen. Die dabei verfolgte These besagt, dass TA sich in der Gegenwart – im Unterschied zur Gründungszeit – reflexiv zu differenten Kontextanforderungen verhalten muss, dafür aber auch entsprechende Theoriemittel zu entwickeln hat.

Neben dieser Ebene, welche eine starke zeitdiagnostische Tönung aufweist, gibt es freilich die Aufgabe, TA in ihrer Kopplung zu spezifischen sozialen Faktoren zu sehen. Auch dabei nimmt der Wertbezug bzw. die Normativität einen besonderen Rang ein, was in verschiedenen Beiträgen thematisiert wird (insbesondere die Beiträge von Torgersen, Grunwald, Alpsancar). Dies verweist darauf, dass im Gegensatz zu früheren Ansätzen der TA, in denen diese Bezüge als unhintergehbare Randbedingung zwar generell anerkannt (Paschen et al. 1978, S. 15), jedoch nicht detailliert theoretisiert wurden, hier eine entscheidende Aufgabe für eine Theorie der TA liegt. Die Konkretisierung des Wertebezugs führt unmittelbar zu einem anderen wichtigen Faktor, der schon immer von besonderer Relevanz für eine Theorie der TA war: der Bezug zum politischen Entscheiden. Hier wird deutlich, dass in der gegenwärtigen Debatte nicht mehr primär der Beratungsbezug von Expertise im Vordergrund steht, also die Einbindung in einen fest institutionalisierten Ablauf des Entscheidens, sondern vielmehr die Frage nach der grundsätzlichen Einbindung in die Demokratie (Beitrag Grunwald) wie auch die Spezifikation der Aufgabe von TA als das Hervorbringen von Alternativen (Beitrag Dobroć et al.).

Zugleich ergibt sich noch ein eher überraschender Befund, dass nämlich der Bezug zwischen TA und Technik wieder neue Theoretisierungsinteressen auf sich zieht. Sicherlich, auch in der Debatte vor zehn Jahren spielte dieser Aspekt eine Rolle. Jedoch kann mit Fug und Recht behauptet werden, dass sich dieser Bezug in der Gegenwart noch einmal anders ausformt. Denn die Qualität des Technischen wird nicht allein dadurch herausgestellt, dass TA als eine Teildisziplin der Technikwissenschaften charakterisiert werden kann, wenn auch einer besonderen (Beitrag Kornwachs). Vielmehr lässt sich im Kern des Technischen selbst jene Vielfalt von sozialen Faktoren kenntlich machen, welche als Ambivalenz des Technischen wie der Technisierung aufscheinen (Beitrag Liebert und Schmidt). Von daher gilt es, von Neuem Technik ernst zu nehmen – und das durchaus in einem bewussten Gegensatz zur Thematisierung von Grand Challenges (Decker et al. 2018), mit denen primär Systeminnovationen oder ganze sozio-technische Systeme assoziiert werden, jedoch kaum der Kern von Einzeltechnologien. Diese Wiederbelebung des Fokus auf Technik bedeutet, soziale Faktoren ‚im Auge des Tornados‘ identifizieren zu wollen. Dies verdeutlicht: Es besteht ein Bedarf an Theorie der TA, welche die veränderte Qualität des Technischen in der Gegenwart zu reflektieren erlaubt.

Vor diesem Hintergrund werfen die in diesem TATuP-Thema versammelten Beiträge freilich mehr Fragen auf als dass sie schon fertige Antworten auf die vielfältigen Herausforderungen einer Theorie der TA bieten könnten. Deutlich wird in jedem Fall, dass die sozio-epistemische Praxis der TA eine andere strukturelle Entwicklung nimmt als klassische akademische Disziplinen, die sich selbstreferentiell um Wissensfortschritt bemühen und dabei externe Ansprüche mehr oder weniger ignorieren können. TA ist programmatisch auf das gegenteilige Programm ausgerichtet. TA ist schon immer eingewoben in gesellschaftliche Veränderungsprozesse, an denen sie gestaltend mitzuwirken trachtet. Von daher lasten hohe Anforderungen an die theoretische Sensibilität auf der TA. Ihre Wissensbestände stellen nicht einfach „Für-Wahr-Haltungen“ dar, sondern ihre Wissensbestände spiegeln zugleich auch die normativen Grundlagen des Handelns und Entscheidens in demokratischen Prozessen. Theorie der TA beginnt mit dieser Wandlungsaufmerksamkeit.

Danksagung

Wir bedanken uns bei allen Gutachterinnen und Gutachtern für die konstruktive Kritik zu den Beiträgen in diesem TATuP-Thema.

Literatur

Decker, Michael; Lindner, Ralf; Lingner, Stephan; Scherz, Constanze; Sotoudeh, Mahshid (Hg.) (2018): „Grand Challenges“ meistern. Der Beitrag der Technikfolgenabschätzung. Baden-Baden: Nomos.

Grunwald, Armin (2007): Auf dem Weg zu einer Theorie der Technikfolgenabschätzung: der Einstieg. In: TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis 16 (1), S. 4–17.

Paschen, Herbert; Gresser, Klaus; Conrad, Felix (1978): Technology Assessment, Technologiefolgenabschätzung: Ziele, methodische und organisatorische Probleme, Anwendungen. Frankfurt a. M.: Campus.

TATuP – Zeitschrift für Technikfolgenabschätzung in Theorie und Praxis (2007): Schwerpunkt „Auf dem Weg zu einer Theorie der Technikfolgenabschätzung: der Einstieg“. TATuP 16 (1), S. 4–63.

TATuP (2008): Diskussionsforum. TATuP 17 (1), S. 101–121.

Autoren

Prof. Dr. Stefan Böschen

ist Chemie-Ingenieur und Soziologe. Professor für „Technik und Gesellschaft“ am Human Technology Centre (HumTec) der RWTH Aachen.

Dr. Ulrich Dewald

ist als Wirtschaftsgeograph tätig bei der GEFAK mbH, Marburg. Zuvor am ITAS wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich Innovationsprozesse und Technikfolgen. Arbeitsschwerpunkte dort: Responsible Research and Innovation, Nachhaltigkeit in Innovationssystemen.