Reflexionen · Bericht

Datenschutz zwischen regulatorischer Reform und soziotechnischer Revolution

„Die Fortentwicklung des Datenschutzes“,
Berlin, 2.–3. November 2017

Nicholas Martin, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, Breslauer Straße 48, 76139 Karlsruhe (nicholas.martin@isi.fraunhofer.de)

Murat Karaboga, Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (murat.karaboga@isi.fraunhofer.de)

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TATuP Bd. 27 Nr. 1 (2018), S. 70–72, https://doi.org/10.14512/tatup.27.1.70

Im Nachgang der Snowden-Enthüllungen traf die Idee, Datenschutz und Privatheit auf breiter wissenschaftlicher Basis zu untersuchen, im Bundesministerium für Bildung und Forschung auf fruchtbaren Boden. Das hieraus entstandene interdisziplinäre Forschungsprojekt „Forum Privatheit und selbstbestimmtes Leben in der Digitalen Welt“ veranstaltete im November 2017 in Berlin seine zweite Jahrestagung. Vor dem Hintergrund der Herausforderungen für den Datenschutz, die sich aus der extremen Geschwindigkeit der technisch-wirtschaftlichen Entwicklung ergeben, sollten die Möglichkeiten einer Fortentwicklung des Datenschutzes diskutiert werden, unter Einbezug rechtlicher, technischer und sozialwissenschaftlicher Ansätze. Aufmerksamkeit richtete sich insbesondere auf die Wirkungen, Potentiale und möglichen Unzulänglichkeiten der ab dem 25. Mai 2018 EU-weit anzuwendenden EU-Datenschutzgrundverordnung (DSGVO). Die DSGVO ersetzt die 1995 erlassene EU Datenschutz-Richtlinie. Sie beansprucht für sich, den Datenschutz in der EU grundlegend zu modernisieren und zukunftsfest zu machen.[1] Zentrale Frage der von über 150 WissenschaftlerInnen, zivilgesellschaftlichen AkteurInnen und VertreterInnen aus Politik, Wirtschaft und Behörden besuchten Veranstaltung war, ob die DSGVO diesen Anspruch einlösen kann.

Hintergrund und Herausforderungen

Die sich für den Datenschutz ergebenden Herausforderungen wurden in Vorträgen von Prof. Alexander Roßnagel und Prof. Gerrit Hornung (beide Universität Kassel, Recht), Dr. Frank Pallas (TU Berlin, Wirtschaftsinformatik) sowie Martin Rost (Landeszentrum für Datenschutz Schleswig-Holstein) skizziert.

Wie Frank Pallas in seinem Vortrag beschrieb, führt die rasche Fortentwicklung der Informationstechnik und der auf ihr fußenden Geschäftsmodelle zu einer allumfassenden Vernetzung der Gesellschaft und immer präziseren Erfassung des täglichen Lebens. Dies betrifft längst nicht mehr nur die Erstellung detaillierter Nutzerprofile durch Suchmaschinen und Soziale Netzwerke, die unsere Interessen, Einkäufe, Kommunikationsverhalten und sonstigen Vorlieben aufzeichnen. Zu diesen mittlerweile fast „herkömmlichen“ Datenverarbeitungen treten nun ausgefeilte Systeme zur Bild-, Biometrie- und Emotionserkennung, die Aufzeichnung von Gesundheits- und sonstigen Daten durch Wearables wie Fitness Tracker, der Aufbau weitreichender, durchwegs vernetzter Sensorsysteme im Rahmen von Industrie 4.0/Internet der Dinge und Ubiquitous Computing (Smart Car/Home/Health, Assistenzsysteme, etc.) und zunehmend selbstlernende und automatisierte Analyseverfahren, die sehr große Datenmengen aus unterschiedlichsten Quellen verarbeiten können (Big Data, Künstliche Intelligenz). Dies führt zu einer explosionsartigen Zunahme der verfügbaren personenbezogenen Daten, und immer komplexeren, selbst für Fachleute nur schwer durchschaubaren Datenflüssen und -verwertungsketten. Gerrit Hornung unterstrich in seinem Vortrag daher, dass Datenschutzregulierung Regulierung unter erschwerten Bedingungen ist: Aufgrund der Geschwindigkeit des Fortschritts klaffen Innovations- und Regulationszyklen regelmäßig auseinander, die Gesetzgebung droht regelmäßig von der technischen Entwicklung überholt zu werden. Was hier stattfindet, so Pallas, ist nicht mehr der „übliche Fortschritt“, sondern ein Paradigmenwechsel hin zu „vollkommen neuen sozio-technischen Arrangements“. Diese Entwicklungen, betonten sowohl Pallas wie Alexander Roßnagel, hebeln oft traditionelle Grundsätze und Modi operandi des Datenschutzes aus.

Gegenwärtige, auf (informationeller) Selbstbestimmung fußende Datenschutzkonzeptionen geraten zunehmend an ihre Grenzen.

Insofern Systeme und Dienstleistungen grundlegende Infrastrukturen der digitalen Gesellschaft bereitstellen, ist deren Nicht-Nutzung bei voller Teilhabe an der Informationsgesellschaft häufig nur begrenzt möglich. Nutzer stehen insofern vor einem faktischen Zwang, ihre „Einwilligung“ zur Nutzung ihrer Daten zu geben. Die vorgebliche Kostenlosigkeit der Angebote (in Wahrheit, ihre entgeltfreie Nutzung im Gegenzug für Datenabgabe) verführt zusätzlich zur Nutzung. Die Vielzahl der Datenverarbeitungsvorgänge und Komplexität der Verarbeitungsketten führt den Datenschutz-Grundsatz der Transparenz an subjektive Grenzen (Überforderung) und objektive Grenzen der Informationsvermittlung. Ebenso geraten in einer Welt, in der Daten für vielfältige, im Vorhinein unbekannte und unvorhersehbare Zwecke verarbeitet werden sollen (Big Data) die Grundsätze der Zweckbindung massiv unter Druck.

Menschen sind daher permanent mit der Notwendigkeit konfrontiert, abzuwägen, ob und wie die Nutzung digital-vernetzter Dienste den Raum für selbstbestimmtes Handeln vergrößert – oder nicht. Einerseits versprechen die fraglichen Dienste den Nutzern, ihr Leben zu erleichtern, zu bereichern und ihnen zusätzliche Steuerungsmöglichkeiten zu bieten. Andererseits ist die Nutzung oftmals mit zeitlich fernliegenden, abstrakten oder sich gar nicht individuell, sondern gesellschaftlich niederschlagenden Risiken und Problemen verbunden, welche in der individuellen Abwägung auch praktisch kaum abzuschätzen sind. In der Folge ergibt sich oftmals eine Höherbewertung unmittelbarer Vorteile. Gegenwärtige, auf (informationeller) Selbstbestimmung fußende Datenschutzkonzeptionen geraten angesichts dieser Schwierigkeiten zunehmend an ihre Grenzen.

Streitpunkt DSGVO: Zukunftsfähigkeit, Rechts(un)sicherheit und Sanktionspotentiale

Inwiefern bietet die DSGVO eine adäquate Antwort auf diese Herausforderungen? Alexander Roßnagel sprach zwei Kritikpunkte aus: Erstens, mangelnde Zukunftsfähigkeit angesichts neuer Technologien. Die Verordnung enthalte keine einzige Regelung, um die spezifischen Grundrechtsrisiken zu adressieren, die aus Technologien wie Big Data oder Ubiquitous Computing hervorgingen. Stattdessen führe ein missverstandenes Prinzip der Technikneutralität in der DSGVO zu Risikoneutralität, und damit tendenziell zu einer Absenkung des bestehenden Datenschutzniveaus. Wie etwa die eCall-Verordnung zeige, sei risikoadäquate Regulierung jedoch sehr wohl möglich. Zweitens werde, wie auch Gerrit Hornung ausführte, die DSGVO nicht wie beabsichtigt zu einer Harmonisierung des Datenschutzrechts in der EU führen. Was die nationalen Gesetzgebungen bisher in tausenden von Einzelvorschriften regulieren, versuche die Verordnung in 51 abstrakten Artikeln zu adressieren. Gepaart mit der Vielzahl von Öffnungsklauseln werde Interpretationsbefugnis somit wieder an Mitgliedsstaaten, Aufsichtsbehörden und Gerichte (letztlich: den EuGH) verlagert. Auch wegen der Langsamkeit gerichtlicher Prozesse seien daher Rechtsunsicherheit und fehlende Harmonisierung zu erwarten.

Diese Kritik an der DSGVO wurde nicht von allen geteilt. Vertreter des Bundesjustizministeriums (Carsten Hayungs), der EU Kommission (Paul Nemitz) und des Europäischen Datenschutzbeauftragten (Achim Klabunde) verwiesen auf politische Realitäten: Die DSGVO sei die DSGVO, die in Europa politisch möglich war; ferner werde das in der DSGVO vorgesehene Kohärenzverfahren relativ schnell ein case law und damit Harmonisierung schaffen (Hayungs). In einer Demokratie entstehe Recht immer aus Kompromissen (Nemitz). Angesichts des massiven Lobby-Aufwandes sei das Ergebnis durchaus zufriedenstellend (Klabunde). Etwas unterthematisiert in dieser Debatte blieb die grundsätzlichere Frage, ob in einer von US-Konzernen dominierten Welt globaler Datenströme nationale Alleingänge im Datenschutz noch möglich sind, bzw. ob die Anhebung des gesamteuropäischen Schutzniveaus eine mögliche Senkung deutscher Standards nicht kompensiere – auch weil erst die EU-weite Regulierung das Ausspielen von Marktmacht in globalen regulatorischen Debatten ermöglicht.

Abb. 1: Frank Pallas beschreibt die vernetzte Datenerfassung des alltäglichen Lebens. Quelle: Forum Privatheit

Ob eine Absenkung deutscher Standards in der Praxis wirklich zu befürchten ist, blieb ungewiss. Gerade im Beschäftigten-Datenschutz sah Nadine Absenger (DGB) durchaus Tendenzen zur Aufweichung, die aber auf das neue Bundesdatenschutzgesetz, nicht die DSGVO, zurückgingen. Sowohl Paul Nemitz wie auch Moritz Karg (Hamburgischer Datenschutzbeauftragter) glaubten, dass Wettbewerb unter den europäischen Gerichten und Datenschutzbehörden um den besseren Grundrechtsschutz sowie peer pressure tendenziell zu Race-to-the-Top-Dynamiken und somit – trotz oder gerade wegen der Auslegungsbedürftigkeit wichtiger Teile der DSGVO – zu einer Anhebung des Gesamtschutzniveaus führen würden. Nemitz und Karg wie auch Philip Schütz (Universität Göttingen) sahen die durch die DSGVO geschaffene Möglichkeit, empfindliche Geldbußen (bis zu vier Prozent des weltweiten Jahresumsatzes) zu verhängen, als potentiell sehr wirksames Druckmittel um „Disziplin in den Markt“ (Nemitz) zu tragen. Wo früher Unternehmen eher herablassend mit Datenschutzbehörden umgesprungen seien, gingen sie jetzt gleich in „Habachtstellung“, berichtete Karg. Nemitz rief die Aufsichtsbehörden daher auf, von ihren neuen Gewalten offensiv Gebrauch zu machen und den Gang vor die Gerichte nicht zu scheuen. Auch Thilo Weichert (Netzwerk Datenschutzexpertise) warnte, dass, sollten sich die Sanktionen als „Papiertiger“ erweisen, Firmenverhalten sich schnell wieder ändern könnte.

Wieviel häufiger die Aufsichtsbehörden nun allerdings die gerichtliche Konfrontation mit großen, finanziell potenten Unternehmen suchen werden, bleibt abzuwarten. Die Mittel- und Personalausstattung der Aufsichtsbehörden ist, wie Schütz und Weichert bemerkten, meist sehr knapp. Marit Hansen (Datenschutzbeauftragte, Schleswig-Holstein) verwehrte sich daher auch gegen den Tenor, dass die Aufsichtsbehörden „jetzt alles richten müssten“. Dies sei schlicht unrealistisch; Datenschutz bleibe auch die Verantwortung der Gesellschaft als Ganzes.

Datenschutz bleibt die Verantwortung der Gesellschaft als Ganzes.

Die praktischen Grenzen rechtlichen und behördlichen Vorgehens werfen die Frage nach technischen Lösungen (Privacy by Design and Default; PbDD) auf. Deren Einsatz ist in der DSGVO verpflichtend vorgesehen (Art. 25). Rege, zunehmend interdisziplinäre Forschungstätigkeit findet in diesem Bereich statt. So hörten die TagungsteilnehmerInnen u. a. von Projekten zu automatisierter und dynamischer Zertifizierung (NGCert), datenschutzgerechten Entwurfsmustern für Systementwickler (AnEkA), und Tracking Basisschutz für Nutzer (An.On). Wie Frank Pallas jedoch ausführte, ist technischer Schutz nicht umsonst zu haben. Bestimmte Verschlüsselungen können Kosten um 90% steigern. Umsetzung von PbDD erfordere daher auch genaue Kenntnis der Kosten und explizite Nutzen-Kosten Abwägungen.

Fazit

Datenschutz als Querschnittsthema der Informationsgesellschaft, rapider soziotechnischer Wandel und verstärkte regulatorische Aktivität haben Dynamik in die Forschung getragen. Wie die regen, manchmal hitzigen Diskussionen während der Konferenz verdeutlichten, wird diese auch vorerst nicht abflauen.

Die nächste Jahrestagung des Forums Privatheit findet am 11. und 12. Oktober 2018 in München statt, zum Thema „Datenökonomien: Verbraucherverhältnisse und Geschäftsmodelle“.

Weitere Informationen

www.forum-privatheit.de

Proceedings der Jahrestagungen des Forums Privatheit:

Roßnagel, A.; Friedewald, M.; Hansen, M. (Hg.) (in Vorbereitung): Die Fortentwicklung des Datenschutzes: Springer Vieweg (DuD-Fachbeiträge)

Friedewald, M.; Lamla, J.; Roßnagel, A. (Hg.) (2017): Informationelle Selbstbestimmung im digitalen Wandel Wiesbaden: Springer Vieweg (DuD-Fachbeiträge)

Fußnoten

[1] Siehe auch Friedewald, Michael: Datenschutz-Folgenabschätzung in dieser Zeitschrift Jg. 26, Nr. 1–2, S. 66–71, Aug. 2017.