Implizite Wertbezüge in der Technikfolgenabschätzung

Plädoyer für eine Praxis der reflexiven Normativität

Regine Kollek, Universität Hamburg (kollek@uni-hamburg.de), orcid.org/0000-0003-3607-1196

Im Hinblick auf ihre Ziele, ihre philosophischen Vorannahmen und methodischen Vorgehensweisen ist die Technikfolgenabschätzung (TA) – wie andere Verfahren der systematischen Wissensproduktion auch – durch normative Vorentscheidungen geprägt. Anders als die auf ihren Untersuchungsgegenstand bezogenen ethischen und gesellschaftlichen Aspekte werden diese nicht immer explizit thematisiert, was ein Problem hinsichtlich der Transparenz und Neutralität der TA aufwirft. Das hier vorgeschlagene Konzept der „reflexiven Normativität“ zielt darauf ab, die Wertbezüge der TA transparent zu machen und einseitige epistemisch-normative Selektivitäten zu vermeiden. Die dadurch ermöglichte Pluralität kann produktiv für die Weiterentwicklung der TA genutzt werden. Damit versteht sich das Konzept sowohl als Beitrag zur Theoriediskussion als auch zur Qualitätssicherung der TA.

Implicit values in technology assessment

A plea for reflexive normativity

In terms of its objectives, philosophical presuppositions, and methodological procedures, technology assessment (TA) is – like other methods of systematic knowledge production too – characterized by normative selectivities. In contrast to ethical and societal aspects related to its object of investigation, they are not always explicitly addressed. This poses a problem regarding the transparency and neutrality of TA. The concept of “reflexive normativity” proposed here aims at making the value relations of TA transparent and avoiding epistemic-normative selectivities. The resulting plurality can be utilized productively to further develop TA. Therefore, the concept proposed here is a contribution to both theory discussion and quality assurance of TA.

Keywords: technology assessment, values, epistemic neutrality, reflexive normativity

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TATuP Bd. 28 Nr. 1 (2019), S. 15–20, https://doi.org/10.14512/tatup.28.1.15

Submitted: 15. 11. 2018. Peer reviewed. Accepted: 13. 02. 2019

Einleitung

Bei der Folgenabschätzung und Bewertung von Technologien spielen neben ökologischen, sozialen, rechtlichen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten ethische und normative Fragen und Kriterien spätestens seit den 1990er-Jahren eine bedeutsame Rolle. Die Untersuchung ethischer, rechtlicher und sozialer Aspekte (im europäischen Kontext unter dem Akronym ELSA, im nordamerikanischen Kontext ELSI, für implications) ist heute Bestandteil nahezu aller nationalen und internationalen Forschungsförderungsprogramme. Über explizite, auf die Bewertung des Gegenstands einer Technikfolgenabschätzung (TA) bezogene ethisch-normative Fragen hinaus sind jedoch auch implizite Wertbezüge relevant. Diese prägen das zur Verfügung stehende bzw. in TA-Verfahren genutzte wissenschaftlich-technische Wissen ebenso wie die Technikfolgenabschätzung samt ihrer Prämissen, Konzepte, Ziele, Verfahrensweisen (Methoden) und Ergebnisse. Zu nennen sind hier beispielsweise die grundsätzliche Orientierung der TA an einer konsequentialistischen Ethik[1], an Leitprinzipien wie Nachhaltigkeit und sozialer Gerechtigkeit, oder die Wahl bestimmter, z. B. partizipativer Verfahren. Solche Orientierungen und Verpflichtungen fordern als konstitutiver Bestandteil von TA-Prozessen das Postulat ihrer erkenntnistheoretischen (epistemischen) und methodischen Neutralität heraus. Denn zum einen führen sie dazu, dass die TA – wie andere Verfahren der (wissenschaftlichen) Erkenntnisproduktion auch – bestimmten, normativ geprägten Selektivitäten nicht entkommen kann (Skorupinski und Ott 2002). Zum anderen stellen sie die verbreitete Annahme einer Differenz zwischen Fakten und Normen infrage.

Die Probleme und Herausforderungen, die im Spannungsfeld zwischen einer (politisch) geforderten und teilweise auch beanspruchten Neutralität und einem epistemischen und durch (politische) Zielsetzungen gegebenen Wertbezug auftreten können, begleiten die TA von Anfang an. Sie waren und sind Gegenstand theoretischer Debatten und kritischer Reflexionen von TA. Daran knüpft dieser Artikel an, der unter Bezug auf neuere Entwicklungen in der Wissenschafts- und Technikforschung die Annahme einer epistemischen Neutralität der TA dekonstruiert. Den daraus resultierenden Problemen und (scheinbaren) Ausweglosigkeiten werden ein Konzept und Vorschläge für eine Praxis der „reflexiven Normativität“ entgegengestellt, die nicht nur die normative Prägung der TA zur Kenntnis nehmen, sondern gleichzeitig Wege für die Entwicklung neuer Zugänge zum Umgang mit normativen Prämissen und Prägungen eröffnen.

Verhältnis von TA und Normativität

Werte und Normen sind bei der Erzeugung von Wissen nicht wegzudenken; sie sind untrennbar mit den jeweiligen Prämissen, Konzepten, Verfahren und Zielen der Wissensproduktion verbunden. Dies gilt sowohl für Wissenschaft und Technik als auch für die TA. Innerhalb der TA wird das daraus folgende Problem der Nicht-Trennbarkeit von Fakten und Normen seit etwa Mitte der 1980er-Jahre thematisiert. TA wurde als „wertsensibles Verfahren“ eingeschätzt (Enquetekommission Technikfolgen-Abschätzung 1986), bei dem Interessen und Normen eine entscheidende Rolle spielen. Annahmen und Werturteile sowie deren Begründung müssen deshalb offengelegt und TA in jedem Schritt transparent und nachprüfbar gestaltet werden (Paschen und Petermann 1992). Dies betrifft sowohl die Aussagen und Überlegungen, die sich auf den Gegenstand der TA bzw. das zu untersuchende wissenschaftlich-technische System und seine möglichen Implikationen beziehen, als auch den TA Prozess selber. Weitere wichtige Diskussionsstränge in diesem Zusammenhängen waren und sind u. a. die Objektivität bzw. Neutralität des Expertenwissens angesichts des Wertbezugs jeglichen (wissenschaftlichen) Wissens und die damit zusammenhängende Untrennbarkeit von Fakten und Normen (Harding 1986; Longino 1990), die Überwindung oder Neutralisierung des selektiven Wertbezugs durch die Beteiligung von Laien bzw. Stakeholdern in partizipatorischen TA-Modellen (Hennen 2003), oder die Systematisierung der sehr unterschiedlichen Wertbezüge, die im Zusammenhang mit TA-Prozessen relevant sind (Palm und Hansson 2006; Stilgo et al. 2013). Vergleichbare Diskussionen fanden und finden ebenfalls in spezialisierten TA-Feldern wie beispielsweise dem Health Technology Assessment (HTA) statt (Heitmann 1998). Letztlich lautet die Frage seit geraumer Zeit nicht mehr ob sich die TA mit ihren (impliziten) normativen Fragen beschäftigen muss, sondern vor allem wie dies getan werden kann. Trotz vorhandener Ansätze, dieses Desiderat vor allem in der parlamentarischen TA in der Praxis umzusetzen (Grunwald 2003), existiert jedoch innerhalb der TA Community kein gemeinsames Grundverständnis hinsichtlich der Konzepte und Methoden, wie dieses geschehen kann.

Durch „reflexive Normativität“ werden die der Forschung zugrundeliegenden Wertsysteme zum Objekt der Reflexion.

Befördert wurde diese Entwicklung vor allem durch die konstruktivistische[2] Wende in der Wissenschafts- und Technikforschung, mit der die soziale Konstruiertheit wissenschaftlicher Fakten und Erkenntnisse in den Vordergrund tritt. Dadurch erweist sich Wissenschaft als unentwirrbar verwoben mit politischen und gesellschaftlichen Ideen und Werten. Infolgedessen wird die Trennung zwischen Fakten und Werten bzw. Normen in den Science and Technology Studies (STS), die die TA heute stark beeinflussen, insgesamt abgelehnt (Fuller 2006; Jasanoff et al. 2001). Auch die TA selber blieb von diesen Entwicklungen nicht verschont; normative Elemente und Vorentscheidungen lassen sich auf allen Ebenen von TA-Prozessen identifizieren. Das fängt bei der Wahl des ethisch-philosophischen Grundkonzeptes an, reicht über die Selektion der zu evaluierenden Technologie, der relevanten Schutzziele, der zu analysierenden Folgedimensionen oder Endpunkte, der Methoden und Modelle, der involvierten Akteure bis hin zur Art und Weise wie die Resultate präsentiert werden und so weiter. Auch in die Analyse und Synthese von Evidenz gehen Werturteile ein (Strech und Tilbur 2008; Kollek 2013). Damit erschüttert der Sozialkonstruktivismus den Anspruch auf Neutralität in der TA, also eines ihrer drei Fundamente neben Rationalität und Inklusivität (Torgersen 2019). Denn wie soll man zu einem neutralen Urteil über das, was Sache ist, kommen, wenn jede Tatsache zugleich Wert und jeder Wert konstruiert, also „Tatsache“ ist (Hofmann et al. 2018)? In anderen Worten: „where the factual and the normative collapse, neutrality cannot be secured anymore“ (Torgersen 2019, S. 61).

Die sozialkonstruktivistische Relativierung der Differenz von Fakten und Werten führt also in eine (scheinbare) Ausweglosigkeit, die u. a. ein Einfallstor für Zweifel an der Möglichkeit der Gewinnung zuverlässiger Informationen über die Implikationen technologischer Entwicklungen für politische Entscheidungen bildet. Parallel dazu wächst jedoch der gesellschaftliche Bedarf an der Evaluation technologischer sowie soziotechnischer Entwicklungen. Damit steht die TA heute vor neuen theoretischen und praktischen Herausforderungen, bei denen es nicht nur darum geht, der genannten Relativierung ihre destruktive Wirkung zu nehmen, sondern auch darum, theoretisch informierte, pragmatische Ansätze zu ihrer praktischen Bewältigung zu entwickeln.

Von impliziter zu reflexiver Normativität

Die Erkenntnis, dass wissenschaftliches Wissen durch interne wie externe Werte und Normen geprägt ist, führt allerdings in der Regel nicht dazu, dass der praktische Nutzen von Erkenntnissen in Zweifel gezogen wird. Dies ist auch weder sinnvoll noch hilfreich, denn alternative Wissenskonzepte sind mit dem gleichen Problem konfrontiert bzw. verstärken es teilweise sogar. Ein Ausweg besteht zum einen darin, die Normativität von Wissen und von in TA-Prozessen gewonnen Erkenntnissen transparent zu machen. Zum anderen geht es darum, diese intrinsische Normativität produktiv für eine erweiterte Inklusion von Positionen und Sichtweisen in der TA und somit letztlich auch für die Steigerung ihrer prozeduralen Neutralität zu nutzen. Die Dekonstruktion des Postulats epistemischer Neutralität eröffnet somit die Chance, neue Konzepte zu entwickeln, die es der TA (und der Wissenschaft generell) erlauben, ihre Funktion in der wissenschaftlichen Politik- und Gesellschaftsberatung zu erfüllen, ohne dass ihre normativen Prägungen im Dunkeln bleiben oder nur bestimmte Wissenstypen präferiert werden.

Vorgeschlagen wird hier dafür das Konzept einer „reflexiven Normativität“. Gemeint ist damit die (teilweise bereits existierende) bewusste und systematische Etablierung reflexiver Prozesse in der TA als Projekt und als Institution, die darauf abzielen, Werte und normative Vorentscheidungen der Akteure nicht nur transparent zu machen, sondern sie auch bewusst für einen Ausgleich einseitiger und parteilicher Selektionen zugunsten einer größeren Pluralität und Inklusivität in TA-Verfahren zu nutzen. Das hier vorgestellte Konzept ist eines des second order learnings, bei dem die der Forschung zugrundeliegenden Wertsysteme zum Objekt der Reflexion werden (Schot und Rip 1997; Schuurbiers 2011). Reflexive Normativität geht aber insofern darüber hinaus, als sie nicht nur auf Bewusstseins- und Lernprozesse der Forscher[3] abzielt, sondern als konstitutive Eigenschaft von über sich selbst aufgeklärten TA-Akteuren und -Institutionen konzeptualisiert wird.

Das Konzept der Reflexivität ist in Soziologie, Pädagogik oder Kulturwissenschaften etabliert; gleichwohl existieren zahlreiche unterschiedliche Ansätze (Lynch 2000). Ohne im Einzelnen darauf eingehen zu können, ist die hier vorgeschlagene Reflexivität weder als individuelle Introspektion, noch allein als Reflexion externer sozialer Werte einer TA zu verstehen. Vielmehr geht es um eine Identifikation und Offenlegung normativer Prämissen auf allen Ebenen der TA. Das Ziel ist nicht, implizite oder auch explizite normative Vorannahmen zu vermeiden – was ohnehin kaum möglich ist – sondern sie zu identifizieren, sie argumentativ zu begründen und so die Verantwortung dafür zu übernehmen. Insofern ist reflexive Normativität nicht nur eine grundlegende Voraussetzung für ein besseres Verständnis der Neutralität der TA, sondern auch für die Erhöhung ihrer Glaubwürdigkeit (Torgersen 2019). Als institutionalisierte Praxis trägt sie nicht nur dazu bei, die Qualität von TA-Prozessen zu verbessern, sondern macht ihre Ergebnisse auch transparenter. So kann aus einer impliziten eine „reflexive“ Normativität werden, die den konstitutiven Bezug der TA zum Normativen nicht leugnet, ihn aber bewusst und reflexiv für eine diskursive Verhandlung öffnet.

Ansätze reflexiver Normativität

Ansätze für die Etablierung einer reflexiven Normativität finden sich in unterschiedlichen Bereichen, insbesondere im HTA, in den STS und in der qualitativen Sozialforschung. Im HTA, dem es um die Untersuchung von Möglichkeiten, Risiken und Implikationen (bio-)medizinischer Technologien und deren Bewertung geht, bemüht man sich seit geraumer Zeit darum, ethisch-normative Aspekte systematisch zu integrieren (Heitmann 1998; Kollek 2004; Burls et al. 2011; Bellamare et al. 2018). Trotz zahlreicher Beiträge existiert z. Zt. jedoch noch kein gemeinsames Verständnis von der generellen Aufgabenstellung und Ausgestaltung eines solchen Konzeptes. Eine Übersichtsarbeit von 2014 identifizierte in der Literatur 43 Vorschläge und praktische Richtlinien dafür; diese variieren jedoch hinsichtlich ihres philosophischen Zugangs, ihrer Struktur und Reichweite erheblich (Assasi et al. 2014). Ein kürzlich erschienener systematischer Überblick kam nach Analyse von 67 nach einschlägigen Kriterien ausgewählten Publikationen zu dem Schluss, dass es weder etablierte Verfahren für die Integration ethisch-normativer Aspekte in das HTA noch einen Konsensus über die Rolle von Ethiktheorien oder ethischer Expertise in diesem Zusammenhang gibt, was die systematische Integration solcher Aspekte in HTA-Verfahren oder Berichten behindert (Bellemare et al. 2018).

Eines der entscheidenden Probleme besteht darin, dass der Begriff der ethisch-normativen Aspekte ein sehr heterogenes Spektrum an Themen und Fragen umfasst, die auch noch unterschiedlichen analytischen Kategorien zuzurechnen sind, so dass sie sich nur schwer systematisieren lassen. Bellemare et al. (2018) identifizierten als relativ plausiblen gemeinsamen Nenner für die verschiedenen Kategorien den Begriff des „Werturteils“. Mit seiner Hilfe könnten Wertbezüge sichtbar gemacht und damit zum Bestandteil eines reflexiven Prozesses werden. Vielversprechend sind hier wertphilosophische Ansätze, die darauf abzielen, offensichtliche und verborgene Wertfragen durch eine (unvollständige) Auswahl gezielter Fragen herauszuarbeiten, um auf diese Weise ethische Reflexionen auszulösen (Hofmann 2005). Die Nutzung solcher Ansätze wurde im HTA bereits produktiv erprobt (Burls et al. 2011).

In der Praxis bedeutet „reflexive Normativität“ einen kontinuierlichen, das gesamte Projekt begleitenden reflexiven Prozess.

Hinweise und Ansatzpunkte zum Weiterdenken finden sich auch im Bereich der STS (Woolgar 1988; Wynne 1995; Lynch 2000) und der TA (Swierstra und Rip 2007; Grunwald 2004; Torgersen 2019). Diskutiert wird die Notwendigkeit einer Reflexivität darüber hinaus auch in der Technik- und Innovationsforschung, die sich aktuell um eine inhaltliche Präzisierung des Begriffs des Responsible Research and Innovation“ (RRI) bemüht (Schomberg 2011; Grunwald 2014). Hier gilt Reflexivität (neben anticipation, inclusion und responsiveness) als eine von vier Dimensionen verantwortlicher Forschung und Innovation (Stilgoe et al. 2013). Trotz des Bedarfs und Interesses daran ist eine solche Reflexivität nicht leicht als Standard in TA-Verfahren zu etablieren. Dies liegt möglicherweise nicht nur an der Heterogenität ethisch-normativer Aspekte und am Fehlen etablierter Verfahren für ihre systematische Integration wie weiter oben für das HTA beschrieben, sondern u. U. auch an der teilweise immer noch vorhandenen Vorstellung der Wertfreiheit der Wissenschaft und der moralischen Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Innovation (Swierstra und Rip 2007).

In der qualitativen Sozialforschung (Soziologie, Ethnographie, Anthropologie, Psychologie etc.) gehört Reflexivität zu den fundamentalen Voraussetzungen der Arbeit (Mauthner und Doucet 2003; Lazard und McAvoy 2017). Ausgangspunkt ist das konstruktivistische Wissenschaftsparadigma und die Feststellung, dass der soziale und politische Ort der Forschenden die Forschung und ihre Ergebnisse beeinflusst. Hier stellt sich die Frage, was die Wissenschaftler selber in die empirische Forschung bzw. die Beobachtung und ihre Interpretation mit einbringen (Koch und Harrington 1998). Neben subjektiven Elementen sind das in erster Linie die jeweils relevanten Prämissen über Forschungsgegenstand, Fragestellung, Theorien, Methoden, Ergebnispräsentationen etc., aber auch die Einflüsse des sozialen, politischen und historischen Kontexts, in dem die Forschung stattfindet (Doucet und Mauthner 2006), der Geltungsbereich und die Grenzen des produzierten Wissens (Lazard und McAvoy 2017, S. 9) sowie der Einfluss von Werten und Vorannahmen auf die Interpretation von Forschungsergebnissen, die regelhaft in einer komplexen Matrix alternativer Repräsentationen existieren (Marcus 1994, S. 571).

Elemente und Praxen reflexiver Normativität

Obwohl die Bedeutung der Reflexivität in der Sozialforschung etabliert ist, werden die Möglichkeiten und Verfahren ihrer praktischen Umsetzung eher selten adressiert; nach wie vor mangelt es an theoretischen und methodischen Instrumenten, mit deren Hilfe sich Reflexivität operationalisieren lässt (Mauthner und Doucet 2003, S. 414). Auch in der TA existieren dafür bisher nur wenige systematisch ausgearbeitete Vorschläge. Stilgoe et al. (2013) nennen beispielsweise codes of conduct oder die Einführung von Standards, welche Verbindungen zwischen externen Wertsystemen und der wissenschaftlichen Praxis herstellen. Auch wird versucht, Reflexivität dadurch zu fördern, dass beispielsweise Naturwissenschaftler mit Sozial- und Geisteswissenschaftlern schon bei der Entwicklung von Wissenschaft und Technik miteinander kommunizieren. Im Socio-Technical Integration Research[4] (Fisher et al. 2015) werden Angehörige solcher Disziplinen teilweise bereits im Labor mit einbezogen, um soziale Normen und Werte zu adressieren, die üblicherweise erst downstream, also später bei der politischen Regulierung zur Sprache kommen (Fisher und Rip 2013). Normative Ideale oder Zukunftsvisionen, die wissenschaftliche Forschungsagenden vorantreiben, sollen so offengelegt und thematisiert werden, um die Reflexion von Laborwissenschaftlern über den sozio-ethischen Kontext ihrer Arbeit zu unterstützen (Schuurbiers 2011). Um Innovationstrajektorien im Sinne der Förderung des Gemeinwohls zu verändern, wird jedoch darüber hinaus auch der Einschluss weiterer Akteure aus dem Bereich der Governance (Forschungsförderung, Regulierung etc.) für nötig gehalten (Wynne 2011).

Interessante Hinweise zur Operationalisierung reflexiver Normativität, die auch für die TA fruchtbar gemacht werden könnten, finden sich im Kontext der qualitativen Sozialforschung, wo Reflexivität hinsichtlich der eigenen Prämissen und Methoden normalerweise als Instrument zur Verbesserung der Forschung und der Ergebnisqualität gilt (Koch und Harrington 1998; Guillemin und Gillam 2004). Sozialwissenschaftliche Untersuchungen, die sich einem doing reflexivity widmen, gehen praktisch ausnahmslos davon aus, dass es sich dabei nicht um eine singuläre Aktivität, sondern um einen kontinuierlichen, das gesamte Projekt begleitenden reflexiven Prozess handeln sollte (Guillemin und Gillam 2004, S. 274), der die Frage nach dem what is going on in der Forschung beantwortet. Um zu verfolgen und zu dokumentieren, was im Laufe eines Forschungsprojekts geschieht, wird die Führung eines „Reflexiven Journals“, also eines Forschungstagebuchs vorgeschlagen, in dem in epistemischer und normativer Hinsicht relevante Fragen notiert und kritisch reflektiert werden (Koch und Harrington 1998). Als weitere reflexivitätsfördernde Aktivitäten werden die Analyse des Forschungskontexts oder die Hinzuziehung von Supervisoren genannt, die die Vorannahmen des Projekts kritisch befragen. Angeregt wird auch, eine reflexive Darstellung in den Projektbericht zu integrieren, um Teilnehmern und Entscheidungsträgern dessen Verlauf und die dabei gefällten Selektionen und Entscheidungen transparent zu machen (Jootun et al. 2013).

Diese Vorschläge machen über die bereits existierende Praxis hinaus weitere Konturen und Elemente von doing reflexivity im Kontext der TA sichtbar. Zu den relativ gut umsetzbaren gehört die Entwicklung von codes of conduct bzw. die Einführung von Praxisregeln oder Standards, mit deren Hilfe Reflexivität operationalisiert und die Verbindungen zwischen externen Wertsystemen und TA-Praxis hergestellt werden können. Die vorgeschlagenen „Reflexiven Journale“ können ein hilfreicher Ausgangspunkt dafür sein. Die Integration von Sozial- oder Geisteswissenschaftlern in den wissenschaftlich-technischen Entwicklungsprozess selber wäre vermutlich sinnvoll; die Realisierung dieses Desiderats hängt jedoch unmittelbar mit dem Zeitrahmen und der finanziellen Ausstattung solcher Projekte zusammen. Unabhängig davon bietet sich jedoch an, die in partizipativen oder anderen TA-Verfahren involvierten Teilnehmer bzw. Stakeholder in reflexive Prozesse einzubeziehen.

Fazit

Die Dekonstruktion der Neutralität und die Analyse ihrer impliziten Normativität stellt die TA vor erhebliche Herausforderungen, die zwar seit langem diskutiert werden, deren praktische Bewältigung jedoch erst in Ansätzen gelungen ist. Da gleichzeitig der gesellschaftliche Bedarf an zuverlässigen Informationen über die möglichen Implikationen technologischer Entwicklungen steigt, muss die TA neue, theoretisch informierte und pragmatisch umsetzbare Ansätze zur Reflexion ihrer eigenen, zumeist impliziten normativen Voraussetzungen und für deren Transparenz entwickeln, denn nur so haben die Teilnehmer an TA-Prozessen die Möglichkeit, deren Relevanz für die Ergebnisse eines TA Prozesses und die Formulierung von Empfehlungen einzuschätzen. Die Etablierung und Institutionalisierung des hier vorgestellten Konzepts der reflexiven Normativität sowie seine zukünftige Weiterentwicklung können ein Beitrag dazu sein.

Das Konzept zielt darauf ab, die in der TA – wie in der Wissenschaft generell – intrinsische Normativität von Zielen, Theorien, Methoden, Verfahren und Erkenntnissen produktiv zu nutzen. Dies kann a) durch eine systematische, methodengeleitete Analyse des Wertbezugs und anschließend daran b) durch eine Praxis des doing reflexivity mit den beschriebenen und weiter zu entwickelnden Elementen geschehen.

Dadurch besteht zum einen die Chance, epistemisch-normative Engführungen und vorgängige Selektivitäten in TA-Prozessen transparent zu machen und sie zugunsten einer größeren Pluralität zu reduzieren. Insofern ist reflexive Normativität auch eine Strategie für den Umgang mit den epistemisch-normativen Unsicherheiten, mit denen zahlreiche Ansätze zur Bewältigung komplexer Problemlagen konfrontiert sind. Zweitens kann eine in TA-Projekten und Institutionen etablierte reflexive Normativität dazu beitragen, den Vorwurf der normativen Voreingenommenheit abzuwehren, die Glaubwürdigkeit der TA zu erhöhen und so ihre Funktion und Akzeptanz in Gesellschaft und Politikberatung zu stabilisieren. Insofern ist die formale Etablierung reflexiver Normativität auch als Instrument der Qualitätssicherung von TA-Verfahren zu verstehen.

Fußnoten

[1]   Konsequentialistische Ethiktheorien beurteilen den moralischen Wert einer Handlung aufgrund ihrer Konsequenzen. Über konsequentialistische Ansätze hinaus spielen in bestimmten Fällen auch deontologische, also pflichtethische Theorien eine Rolle.

[2]   Konstruktivismus bzw. die konstruktivistische Erkenntnistheorie ist eine Strömung in der Wissenschaftsphilosophie. Danach ist wissenschaftliches Wissen durch die wissenschaftlichen Communities konstruiert. In die jeweiligen Modelle oder Konzeptualisierungen der untersuchten Phänomene gehen nicht nur Daten und Messwerte, sondern auch sozial bedingte Faktoren wie beispielsweise theoretische Vorannahmen, Präferenzen und Relevanzkriterien ein.

[3]   Aus Gründen der Lesbarkeit wird hier die männliche Form verwendet. Explizit sind damit jeweils die weiblichen und männlichen Angehörigen der genannten Gruppe gemeint.

[4]   Siehe http://cns.asu.edu/stir, zuletzt geprüft am 07. 02. 2019.

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Autorin

Prof. Dr. Regine Kollek

ist Professorin für Technikfolgenabschätzung der modernen Biotechnologie in der Medizin und war bis 2016 geschäftsführende Direktorin des FSP Biotechnik, Gesellschaft und Umwelt der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind neben der Technikfolgenabschätzung epistemische und ethische Fragen moderner lebenswissenschaftlicher Entwicklungen.